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WOANDERSWELT: PRÄLUDIUM UND FUGE IN MOLL


Inhalt:

Endstand + Wachsende Verwirrung + Erklärungen + Verschwörer: Rottas Monolog + Korrekturen + Geschichte, alternativ + Verschwinden + Schweben, schwimmen + BruderSohn + Ankunft/Epilog



Endstand

Manchmal wünschte er sich, einer der kleinen Götter zu sein - nicht einer der großen, diese hatten zuviel Verantwortung, waren Amtsträger, aber einer der minderen. Nur um einzugreifen und umzustellen, wenn ihn etwas störte oder quälte, ein Benehmen oder eine Tatsache - wer konnte schon alle Rüpel aus seinem Gesichtsfeld entfernen, alle Falschheiten berichtigen, alles bereinigen - so ein Übermensch, so ein kleiner Gott der Gelegenheiten konnte es.
Wo würde er anfangen? Gerade jetzt. Gerade hier (bei diesem nervenden Nebenmann). Warum stellte sich dieser so an, drängelte sich vor an der Kasse und beklagte sich dabei nörgelnd darüber, dass er so lange schon gewartet hätte? Oder Hermes. Hermes Trismegistos, sein Lieblingsgott, der leichtfüßige Bote, Führer der Seelen, Gott der Diebe und Kaufleute, Erfinder aller Techniken der eigentlichen Stufe der Zivilisation, nicht des Pfluges oder der Viehhaltung, aber der Schrift, des Rechnens und des Würfelspiels. Ja, Hermes hätte er sein wollen, ihn hätte er sich von allen Göttern als Über-Selbst ausgesucht; Loki, ein ähnlich gearteter Geist, wäre ihm zu negativ bewertet gewesen - aber er war nun einmal kein Gott oder Halbgott und seine Mittel, mit lästigen Mitmenschen umzugehen, deshalb ziemlich eingeschränkt.
Diese Gedanken, die ihm durch den Kopf zogen, verscheuchten nun doch seinen Missmut, indem sie ihm seine Misanthropie wie in einem Spiegel zeigten, ihn gleichzeitig über sich selbst lächeln ließen und so seine Stimmung aufhellten. Er sollte etwas tun, was ihn davon abbrachte, seiner Depression nachzugeben. So beschloss er, seine Lieblingsplätze aufzusuchen: Den kleinen Park mit der Holda-Statue, das Antikenmuseum, die daran anschließende Ladenpassage - nicht um etwas zu kaufen (soviel Selbstdisziplin brachte er auf), nein, nur um sich wieder einmal umzusehen und in die vertraute Atmosphäre jener Orte einzutauchen.

Nachdem er den Laden betreten hatte, dieses ein wenig dumpf riechende Chaos gestapelter Bücher und die Sicht versperrender, überladener Regale, wollte ihn die Niedergeschlagenheit wieder einholen, die er glaubte, vorher abgeschüttelt zu haben. Aber für diesmal setzte sich der selbstaufmunternde Impuls, aus dem heraus er dem Lockruf der alten Bücher und unbekannten Geister in das Antiquariat gefolgt war, doch noch gegen die andauernde Bedrückung der letzten Zeit durch, mit einer kleinen Intervention von oben. Der kurze Lichtreflex, ins Auge geblinzelt von der Statue der großen Mutter draußen vor dem Laden (in moderner Interpretation natürlich: - Ich erkenne dich in allen Verkleidungen, oh Göttin unseres Altertums..), half ihm, sich aus dem Schwermuts-Tal zu heben, in das ihn die merkwürdigen Träume, die sofort nach dem Aufwachen ins Vergessen verblassten, aber als Stimmung nicht mehr loszuwerdenden Bilder und Szenen der letzten Nächte, versetzt hatten. Nun aber: abgeschüttelt und beiseitegelegt. Er freute sich sozusagen über seine wiedergefundene Freude, blickte sich um und war erneut an all diesen unterschiedlichen Welten interessiert, die sich hinter den Titeln verbargen. Die Sonne selbst unterstützte ihn dabei, sein Verstimmung zu überwinden, der Einzelstrahl von vorher war nur ein Vorläufer der breiten Lichtbahn gewesen, die jetzt durch das zugestellte und verstaubte, hoch oben angebrachte einzige Fenster in den für einen Laden sonst zu dunklen Raum fiel.
Geschichte faszinierte ihn immer wieder, also blätterte er ein wenig in einem Band über die Punischen Kriege - einer (mit Recht, wie er meinte) verstaubten romanhaften Populärgeschichte über das Zeitalter Alexanders - einer historischen Abhandlung über Herakleios Entscheidung, Konstantinopel aufzugeben und Karthago (heimatlicher Ort von dessen Kindheit) zur neuen Rückzugs-Hauptstadt zu machen (gleichzeitig eine wüste Spekulation über mögliche andere Geschichtsverläufe, die sich an dieses Ereignis anschließen ließen) - einem Buch über die Anfänge der Hibernianischen Kolonisation und das erste Reich beidseits des Atlantiks - sowie in einer Abhandlung über den Zusammenhang zwischen westlichem Messianismus und der großen Revolution im Osten. Schließlich zog er ein dünnes Heft aus einem wackeligen Stapel ungeordneter Schriften, dessen Untertitel ihn neugierig machte: "Übersetzung eines kürzlich aufgefundenen Lehrgedichtes der Nazoräer-Sekte aus der Zeit des S.M." Von vielen dieser historischen Gruppen wusste er fast nichts, allerdings beschäftigte ihn die Zeit und das Umfeld des Simon Magus, seit er wieder angefangen hatte, sich mit seiner religiösen Erziehung auseinander zu setzen - seine Eltern waren sehr liberal gewesen, hatten ihm dennoch ihren Glauben an das gnostische Universum halbherzig weitergegeben, wenn auch philosophisch rationalisiert und dadurch eher akzeptabel; eine Altlast, mit der sich mehr oder weniger jeder davon geprägte abplagen musste.
Er erinnerte sich an die unbequemen Diskussionen mit seinen jüdischen Freunden über die Absurditäten seines Glaubens - den er trotzdem verteidigte, obwohl dieser, genau gesehen, nicht der eigene war, sondern derjenige der Großeltern mütterlicherseits. Für die Planeten keine Körper im All waren, sondern Lebewesen oder zumindest Wohnstätten geistiger Entitäten, ganz anders, als normalerweise vorgestellt. Die von einem ewigen Kreislauf des Bestehenden überzeugt waren, auch wenn sie persönlich mit jedem Jahrzehnt ihres Lebens neue technische Errungenschaften erleben konnten und sich dadurch ihr Alltag, zwar unmerklich schrittweise, aber doch tiefgreifend, veränderte. Für sie war dies einfach der Charakter des jetzigen Äons, das äußeren Fortschritt brachte, jedoch spirituelle Verarmung, und das nach Ablauf seiner Zeit durch ein anderes abgelöst werden würde, mit anderen Vorzeichen, in der Abfolge des in sich kreisenden Großen Jahres. Er konnte mit dieser Art, in Zyklen zu denken, nichts mehr anfangen, war ihr entfremdet, obwohl auch er manchmal den Wunsch hatte, mehr mit den natürlichen Rhythmen verbunden zu sein, die durch Wachsen und Vergehen jeden Lebensprozess bestimmten; aber sein Alltag, wie der jedermanns um ihn, war nicht dazu geeignet, ein Gespür dafür zu entwickeln.
In abgelegenen, ländlichen Gegenden mochte das vielleicht noch möglich sein, in den Anden, oder den Gebirgen Mittelamerikas etwa... Was ihn in seinen Gedankensprüngen auf ein neues Thema brachte, auf etwas, was er heute morgen wieder als Aufmacher in einigen der Übertreibungs- und Klatschzeitungen im Vorübergehen gelesen hatte, und schon seit einem halben Jahr immer wieder aufgerührt und diskutiert wurde.
Auch ihn brachten die Nachrichten aus Mechiko ins Grübeln: In einer entlegenen Ecke des Hochtals waren Reisende aus den nördlichen Hibernia-Staaten verschwunden, unbemerkt zuerst, dann wurden immer neue Fälle gemeldet. Böse Gerüchte hatten die Runde gemacht, aus Tenochtitlan waren Untersuchungsbeamte geschickt worden, die auf einen grausigen Fund stießen: Frische und auch schon ältere menschliche Häute, mehr oder weniger im Ganzen abgezogen, hingen an Gerüsten in einem der seit hunderten vor Jahren aufgegebenen, halbverfallenen Dorftempeln, nun offensichtlich reaktiviert. Der Opferbrauch des Xipe Totec!
Was war davon zu halten? Die Untersuchungsbeamten verhafteten Dorfbewohner, Schafhirten, ebenso einen alten Mann, der die Funktion eines Priesters übernommen hatte - die Leute schwiegen, aber niemand stritt ab, als man ihnen ihr Verbrechen vorhielt. Aber war es überhaupt ein Verbrechen? Die alten Opferbräuche waren niemals offiziell abgeschafft oder gar verdammt worden. Sie waren nur eingeschlafen, lösten heute Entsetzen und Ekel aus; niemand kam auf den Gedanken, das Menschenopfer, das allmählich durch eine Gabe aus Mais und Früchten ersetzt worden war (als Rückkehr zu den Ursprüngen, wie noch der harmlose Name für das dann blutige Ritual bezeugte: Maisernte), sei noch irgendwo Brauch. Und nun war es doch so. Wie damit umgehen?
Es hatten sich zwei Fraktionen gebildet, die sich in merkwürdigen Koalitionen zusammenfanden, quer zu sich normalerweise feindlich gegenüberstehenden ideologischen Lagern. Die Konservativen, die den Brauch als heilig durch sich selbst gerechtfertigt sahen, stimmten zusammen mit den Verfechtern der kulturellen Selbstbestimmung, die zwar nicht das Opfer an sich, aber die kulturelle Identität verteidigten, gegen die Befürworter der Moderne, für die blutige Rituale, ob antik oder neuzeitlich, nichts weiter als der Ausweis der Barbarei und der Unwissenheit waren. Aber in deren Lager gab es nicht nur dogmatische Vertreter des Fortschritts, dem sich ihrer Meinung nach alles unterzuordnen hatte und in dessen Verlauf solche Relikte quasi naturgegeben verschwanden, sondern auch humanistische Skeptiker, die den Verlust von Authentizität und Identität beklagten, dennoch schon die Entstehung solcher Bräuche, wenn auch durch die Tradition mit Patina versehenen, als Fehlentwicklung verstanden und korrigiert haben wollten.
Er selbst war im Zweifel, welche Fraktion die besseren Argumente auf ihrer Seite hatte, allerdings nicht im Zweifel in Bezug auf den blutigen Akt des Hautabziehens bei lebendigem Leibe, einer Vorstellung, bei der es ihn fröstelte. Weder wollte er in einer Welt leben, in der jeder regionaler Unterschied durch eine allumfassende Globalisierung der Geschmäcker und Sitten eingeebnet war, in der überall dieselbe Art Menschen mit denselben standardisierten Ansichten und Verhaltensweisen lebten und Gebräuche nur als Folklore vorkamen (als, deswegen allen zugängliche, Verkleidung des Allerwelts-Alltags), noch wollte er wirklich, dass blutige Bräuche, sich auf Tradition berufend, sinnlos weitergeführt wurden, ein Weltbild fortsetzend, das in seinen Augen durch Wissenschaft und Humanismus widerlegt wworden war. Wenn er die Einheitsgesellschaft unerträglich fand, musste er sich dann mit Menschenopfern abfinden? Wenn er Menschenopfer ablehnte, war er dann für den einheitlichen, standardisierten Globaltyp, der überall auf der Welt dieselben Verhältnisse wie Zuhause erwartet und auch vorfindet, nur mit ein bisschen exotischem Touch, je nach Weltgegend als Wikingerambiente oder im Ife-Stil? Der griechisch-römische Humanismus war die Wurzel seiner Kultur; diesen Maßstab legte er - wenn er darüber nachdachte, musste er es einräumen - überall an; er konnte (und wollte) nicht aus seiner Haut - mechikanische oder auch skandinavische Blutrituale und Menschenopfer (der Neo-Wotankult!) waren seine Sache nicht.

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Er war von zu Hause ausgezogen, weil er das gemeinsame Unglück nicht mehr aushielt. Diesen über Nacht von Glück in dessen Gegenteil umgeschlagenen Zustand, wie er jetzt sein Zusammensein mit ihr erlebte. Kälte, Anfeindung, Attacken aus dem Hinterhalt: War dieser tagtägliche Krieg, auf den seine Ehe reduziert worden war, wirklich Forderung des Schicksals an ihn, standzuhalten, auszuhalten, das Gemeinsame durchzutragen? Sein Flüchten davor, war es eher Feigheit oder resignierendes Fügen in das Unausweichliche, Notwendige? Wie kann man gegen jemanden um diesen Jemand kämpfen? Als Gegner den, um den es in diesem Kampf geht? Den man dadurch gewinnen will? Unlösbarer Zwiespalt.
Und nun war er hier und betrachtete das spärlich möblierte Zimmer: In der Ecke die noch immer unausgepackten Koffer und Kartons, Kleiderhaufen unordentlich auf dem Bett, Plastiktüten mit ungeputzten Schuhen daneben. Und Bücher, an den Wänden in Doppelreihen aufgestellt, die notwendigsten, ihm liebsten, an denen er sich, als Ertrinkender, Untergehender, festhalten konnte - wenn es ihm nur gelänge... Schon vor Monaten war er eingezogen und hauste noch immer im Umzugschaos des ersten, provisorischen Abladens. Als er die Wohnung gemietet hatte, war er kurzzeitig in Euphorie gefallen und hatte sich in Gedanken ausgemalt, wie er die Wände mit Pflanzenfarben streichen würde, welchen Farbton er wählen würde, welche Auftragstechnik. Was er sich anschaffen würde und wie alles geordnet sein könnte. Zu nichts davon reichte seine Kraft, sein Wille. Aufstehen, Zähneputzen, Frühstück machen - wie schwierig war alleine das schon - und danach dehnte sich der Tag ins Endlose, der gleichzeitig irgendwie viel zu rasch vorüberging, um auch nur ein Bruchteil der selbstgestellten Aufgaben anzugehen. So blieb er die meiste Zeit im Halbdunkeln seines Zimmers, die Jalousien gegen die Zumutung des freien Blicks nach draußen heruntergelassen, zur Innensicht selbstverdammt. Und er hatte Zeit, den Geräuschen des Hauses und dem Leben in ihm, das er aus ihnen enträtselte, nachzuspüren.

Zuerst war es ihm nicht aufgefallen, warum auch, doch irgendwann kam ihm plötzlich der Gedanke: Viel Geld kann der neue Betrieb in seiner Nachbarschaft wohl nicht machen. Nach Abzug der Handwerker, dem anfänglichen Gedränge von Unbekannten verschiedenster Art im engen Hauseingangsflur, die alle irgendwie das Merkmal von Betriebsamkeit und selbstverständlicher Inanspruchnahme einer fremden Lokalität an sich hatten - Pakete wurden gebracht, Werkzeuge hineingetragen, Papiere studiert und unterzeichnet - gab es fast keine Begegnungen mehr mit Fremden im Treppenraum, obwohl doch das Schild Compuservice auf die nun öffentliche Zugänglichkeit der Etage unter ihm aufmerksam machte. Keine Kunden! Trotzdem waren die Räume nicht unbesucht. Geschäftigkeit ließ sich erahnen. Und bald wusste er auch, wie diese Leute dorthin kamen: Über das Nachbarhaus, durch die kleine, bisher immer verschlossen gehaltene Tür zwischen den Hinterhöfen, dem Zugang zum Trockenplatz. Nachdem er einmal darauf aufmerksam geworden war, wurde ihm bewusst: Ein ständiges Kommen und Gehen fand statt, manchmal schienen es sogar Versammlungen zu sein, so viele Menschen mussten sich nach und nach eingefunden haben; und nur wenige davon betraten die Geschäftsräume - es waren doch Geschäftsräume? - von der Straßenseite aus, an der das Schild sichtbar angebracht war. Was ging hier vor?

Es gibt einen Fluss in Afrika (er hatte einen Bericht darüber gelesen, den Namen allerdings vergessen), der entspringt, schwillt an, wird mächtig und breit wie alle großen Flüsse der Welt, aber er findet nicht den Weg ins Meer wie alle anderen, er verstockt, versumpft, versandet, die Sonne brennt ihn aus - genauso hatte er sich gefühlt, als er vor kurzem Bilanz über sein Leben zog. Alles was er erreicht hatte, alles was er war, ist nichtig. Wertlos. Versickert. Jetzt, nach dem Ende der Beziehung, sah er, was sie für ihn gewesen war, was seine Familie für ihn bedeutet hatte: Nicht das, womit er sich scheinbar unausgesetzt beschäftigt hatte, sein Traum, durch Studium und Selbstversuch einer letzten Erkenntnis nahe zu kommen, war das wichtigste auf der Welt für ihn gewesen, nicht die Ferne, der er in diesem Traum nachspürte, sondern das Nächste, die ihm Nahen. Aber genau das hatte er aufs Spiel gesetzt. Hatte sich abgekapselt, sich zurückgezogen, sich gegen Ansprüche und Ansinnen taub gemacht, da ihm alles lästig geworden war, was ihn von seiner Suche abhielt. Und jeder Text, den er las, jeder Fund, den er machte, hatte ihn in seiner Beurteilung der Belanglosigkeit von Alltag und Existenzfürsorge gegenüber der Dringlichkeit des Durchbruchs ins Eigentliche, deren Bedeutungslosigkeit gegenüber diesem Ziel, bestätigt. War er jetzt nicht frei, das zu tun, was er tun wollte? Warum war er nicht glücklich? Warum fühlte er sich schuldig? Ihr gegenüber, seinem Sohn gegenüber?

Die Träume, die ihn in letzter Zeit quälten, mussten wohl mit seiner Situation zu tun haben, obwohl er keinen direkten Sinnzusammenhang feststellen konnte - aber so deutlich sprachen ja Träume selten. Sein jetziges Unglück, sein Allein- und Verlassensein, das ihn tagsüber als Trauer begleitete und als Stimmung in den Schlaf mit einzog, war bestimmt Anlass genug, um schlecht zu träumen. Obwohl: Es waren eher merkwürdige, als schlechte oder sogar Albträume. An ein Bild erinnerte er sich so überdeutlich und klar, wie er sich normalerweise nie an Traumbilder erinnerte, kehrte er aus dem Schlaf ins Wachsein, aus dem Traumbereich in die Tagesgedanken zurück: Ein Baum oder ein baumähnliches Lebewesen stand vor ihm auf einem Hügel, ringsum von einem schmalen Wassergraben umzirkelt, mit nur einer Unterbrechung, als Zugang zu dem inneren Bereich. Der Baum verwandelte sich fortwährend, manchmal bestand er aus einem rötlichen, schuppigen, drachenstarken Astgewirr, manchmal war er ein abstrakt wirkendes Drahtgeflecht, manchmal ein riesiger Stamm mit einer unproportional kleinen Krone aus fleischig-weichen Zweigen und Blättern. Er sah zwar traumbedingterweise alle Details der einzelnen Baumerscheinungen klar und deutlich vor sich, aber wenn er die Gestalt genauer anblicken wollte, war sie schon wieder durch eine andere ersetzt worden. Neben dieser klaren Sequenz gab es eine Unzahl von Verfolgungsträumen, von Verlustträumen, von abgefahrenen Zügen und ohne ihn wegsegelnden Schiffen. Einmal schreckte er mitten in der Nacht auf und glaubte, ein leicht surrendes, pulsierendes Geräusch zu hören, fast schon unterhalb der Schwelle des Hörbaren, welches den ganzen Raum ausfüllte und immer wieder durch ein Murmeln überlagert wurde. Das Summen und Brummen wurde tiefer, versank mit ihm in den ihn erneut einholenden Schlaf, am nächsten Morgen dachte er kurz daran als einen weiteren merkwürdigen Traum oder Halbtraum, vergaß das Erlebnis.

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Heute hatte er sich entschlossen einen der Streitpunkte aus der Welt zu schaffen, die in der Endzeit ihres Zusammenlebens immer wieder für Verstimmung zwischen ihnen gesorgt hatten. Nach und nach wollte er alle diese Streitfälle ausräumen, hatte er sich vorgenommen, wollte dann zu ihr gehen und sagen können: Schau, das habe ich für dich gemacht. Ich erinnere mich gut an unsere Gespräche, habe Konsequenzen daraus gezogen, will dir zeigen, dass ich mir Mühe gebe. Vielleicht gab es noch eine Rückkehrmöglichkeit, einen Weg zurück zum Anfangszustand, in dem alles noch funktionierte, die Beziehung noch harmonisch und zukunftsoffen war. Deswegen stand er jetzt hier. Und zögerte doch.
Wenn er darüber nachdachte kam es ihm auch merkwürdig vor, dass er so distanziert, so kritisch allen gegenüber war, die ihm ein Versprechen auf Heilung, auf Heil, auf Lösung seiner Probleme gaben. Alle, die damit ihren Lebensunterhalt verdienten, anderen gute Ratschläge zu geben oder den Kontakt zu irgendeinem Gott oder Engelsdämonen zu vermitteln, waren ihm der Hochstapelei verdächtig. Nicht nur die offensichtlichen Betrüger, die Unmögliches versprachen, gegen recht viel Geld versteht sich, sondern auch die ehrlich bemühten Zuhörer seelischer Problemfälle oder die einsamen Zelebranten eines obskuren Kultes. Er selbst wäre sich an ihrer Stelle als Hochstapler vorgekommen, Dinge versprechend, die zwar eintreffen konnten - auch seiner Meinung nach - aber nur als seltenes Ereignis, als geglücktes Leben, als Gnade, nicht als selbstverständliches Arbeitsergebnis wie garantiert.
Diese Gedanken gingen durch seinen Kopf, während er das Schild "Praxis für geistiges Heilen" betrachtete, vor dem er stand. Sie hatte ihn oft dazu gedrängt, etwas gegen sein psychisches Problem zu unternehmen, wie sie es nannte. Suche Rat bei irgendjemand, dem du vertraust, egal welcher Richtung, Hauptsache er hört dir zu und spricht mit dir. Aber was konnte der andere ihm schon sagen? Sein Problem war nicht sein Problem, sondern ihres. Sie ertrug seine philosophischen Anwandlungen nicht, in denen er alles in Frage stellte, seine misanthropischen Anfälle, in denen er fast jeden, dem er begegnete, unerträglich fand, seine selbstquälerischen Verzweiflungsattacken, seine Melancholie, die ihn grundlos überkommen konnte. Das alles erschien ihr krankhaft, ihr, die solche defätistischen Anwandlungen nicht kannte, nichts damit zu tun haben wollte, für die eine positive Ausstrahlung und ein mitreißender Schwung Bedingungen waren, um sich bei einem Menschen wohlfühlen zu können, während ihm dies (in seiner missmutigen Phase) verdächtig nach Oberflächlichkeit und Verdrängung existenzieller Probleme klang.
Er beschloss, die Praxistürklingel nicht zu drücken, nicht hineinzugehen, sondern umzukehren, mochte es deswegen Streit geben oder nicht, mochte sie ihn einen Feigling nennen oder nicht (aber sie würde es nie erfahren...), doch konnte er nichts in seinen Augen Sinnloses tun, auch nicht um ihretwillen. Während er langsam, gleichzeitig erleichtert und belastet, zu seiner neuen Wohnung zurückging, sann er über den Impuls nach, der ihn, trotz seines festen Entschlusses, alles für eine Wiederaufnahme ihrer Beziehung zu tun, dazu gebracht hatte, auf der Schwelle umzukehren: War es destruktive Eigensabotage oder aufrichtende Selbsttreue gewesen, wie sollte er ihn nennen?

In sich versunken ging er weiter, beschäftigt, dieser Frage nachzuspüren. Irgendetwas ließ ihn plötzlich, mitten im Schritt, stehen bleiben. Er war gerade dabei, seinen Fuß auf den Fahrweg zu setzen, zog ihn jedoch zurück. Im gleichen Moment streifte ihn der Luftzug eines vorbeilärmenden Lastwagens, zu nahe am Bürgersteig, zu schnell, um ihm noch auszuweichen, hätte er diesen Schritt getan. Ein Schwächeanfall ließ seine Beine zittern; für einen Moment umwaberten ihn, wie Hitzeschlieren, die unendlichen Möglichkeitsräume dieses: hätte. Hätte er, läge er jetzt da, umgeworfen, beiseitegefegt, blutig zerbrochen. Hätte er, läge er jetzt vielleicht fortgeschleudert da, benommen, doch glücklich davongekommen. Hätte er halb zögerlich, er wäre angeschlagen zurückgezuckt - wäre der Wagen ein wenig früher, ein wenig später gekommen, ein wiederum anderer Verlauf wäre eingetreten: Der Wagen hätte angehalten - er hätte mit einem kleinen Spurt die Strasse überquert. Und am einschneidendsten wäre der Fall gewesen, der ihm die Existenz genommen hätte. Diese Möglichkeit waberte um ihn, zitterte als Folie im Hintergrund, pflanzte sich wie eine Druckwelle fort in alle anderen Möglichkeiten, diese bedrohend. Es gab eine Welt, er war sich sicher, in der sie Wirklichkeit geworden war. Ein anderes Leben. Eine andere Realität. Für einen Augenblick konnte er alle Alternativwirklichkeiten spüren, als Woge aufbrandend, wirbelsturmbewegt, chaosfraktal. Und seine jetzige Wirklichkeit schien ihm zu brüchig, zu irreal zu sein, um ihn zu halten. Er war defokussiert worden. Für diesen instabilen Moment schwankender Orientierungslosigkeit.


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