Architexxt



ERZÄHLEN

(Leseprobe)




INHALT

Woanderswelt
Schreiben, erzählen
In die Ferne
Nach Ulm flüchten I
Nach Ulm flüchten II




WOANDERSWELT - FUGE IN MOLL

ENDSTAND + WACHSENDE VERWIRRUNG + ERKLÄRUNGEN + VERSCHWÖRER: ROTTAS MONOLOG + KORREKTUREN + GESCHICHTE, ALTERNATIV + VERSCHWINDEN + SCHWEBEN, SCHWIMMEN + BRUDERSOHN + ANKUNFT + EPILOG



Endstand

Manchmal wünschte er sich, einer der kleinen Götter zu sein - nicht einer der großen, diese hatten zu viel Verantwortung, waren Amtsträger - aber einer der minderen. Nur um einzugreifen und umzustellen, wenn ihn etwas störte oder quälte, ein Benehmen oder eine Tatsache - wer konnte schon alle Rüpel aus seinem Gesichtsfeld entfernen, alle Falschheiten berichtigen, alles bereinigen - so ein Übermensch, so ein kleiner Gott der Gelegenheiten konnte es. Wo würde er anfangen? Gerade jetzt. Gerade hier (bei diesem nervenden Vordermann). Warum stellte sich dieser so an, drängelte sich vor an der Kasse und beklagte sich nörgelnd darüber, dass er so lange schon gewartet hätte?
Vielleicht Hermes? Hermes Trismegistos, sein Lieblingsgott, der leichtfüßige Bote, Führer der Seelen, Gott der Diebe und Kaufleute, Erfinder aller Techniken der eigentlichen Stufen der Zivilisation, nicht des Pfluges oder der Viehhaltung, das war anderen vorbehalten, aber der Schrift, des Rechnens und des Würfelspiels. Ja, Hermes hätte er sein wollen, ihn hätte er sich von allen Göttern als Über-Selbst ausgesucht; Loki, ein ähnlich gearteter Geist, wäre ihm zu negativ bewertet gewesen - aber er war nun einmal kein Gott oder Halbgott und seine Mittel, mit lästigen Mitmenschen umzugehen, deshalb ziemlich eingeschränkt.
Diese Gedanken, die ihm durch den Kopf zogen, verscheuchten nun doch seinen Missmut, indem sie ihm seine Misanthropie wie in einem Spiegel zeigten, ihn gleichzeitig über sich selbst lächeln ließen und so seine Stimmung aufhellten. Er sollte etwas tun, was ihn davon abbrachte, seiner Depression nachzugeben. So beschloss er, seine Lieblingsplätze aufzusuchen: den kleinen Park mit der Holda-Statue, das Antikenmuseum, die daran anschließende Ladenpassage - nicht um etwas zu kaufen (so viel Selbstdisziplin brachte er auf), nein, nur um sich wieder einmal umzusehen und in die vertraute Atmosphäre jener Orte einzutauchen.

Nachdem er den Laden betreten hatte, dieses ein wenig dumpf riechende Chaos gestapelter Bücher und die Sicht versperrender, überladener Regale, wollte ihn die Niedergeschlagenheit wieder einholen, die er glaubte vorher abgeschüttelt zu haben. Aber für diesmal setzte sich der selbstaufmunternde Impuls, aus dem heraus er dem Lockruf der alten Bücher und unbekannten Geister in das Antiquariat gefolgt war, doch noch gegen die andauernde Bedrückung der letzten Zeit durch: mit einer kleinen Intervention von oben. Der kurze Lichtreflex, ins Auge geblinzelt von der Statue der Großen Mutter draußen vor dem Laden (in moderner Interpretation natürlich: - Ich erkenne dich in allen Verkleidungen, oh Göttin unseres Altertums..), half ihm, sich aus dem Schwermuts-Tal zu heben, in das ihn die merkwürdigen Träume versetzt hatten, die sofort nach dem Aufwachen ins Vergessen verblassten, aber als Stimmung nicht mehr loszuwerdenden Bilder und Szenen der letzten Nächte. Nun aber: abgeschüttelt und beiseitegelegt. Er freute sich sozusagen über seine wiedergefundene Freude, blickte sich um und war erneut an all diesen unterschiedlichen Welten interessiert, die sich hinter den Titeln verbargen. Die Sonne selbst unterstützte ihn dabei, sein Verstimmung zu überwinden, der Einzelstrahl von vorher war nur ein Vorläufer der breiten Lichtbahn gewesen, die jetzt durch das zugestellte und verstaubte, hoch oben angebrachte einzige Fenster in den für einen Laden sonst zu dunklen Raum fiel.
Geschichte faszinierte ihn immer wieder, also blätterte er ein wenig in einem Band über die Punischen Kriege - einer (mit Recht, wie er meinte) verstaubten romanhaften Populärgeschichte über das Zeitalter Alexanders - einer historischen Abhandlung über Herakleios Entscheidung, Konstantinopel aufzugeben und Karthago (heimatlicher Ort von dessen Kindheit) zur neuen Rückzugs-Hauptstadt zu machen (gleichzeitig eine wüste Spekulation über mögliche andere Geschichtsverläufe, die sich an dieses Ereignis anschließen ließen) - einem Buch über die Anfänge der hibernianischen Kolonisation und das erste Reich beiderseits des Atlantiks - sowie in einer Abhandlung über den Zusammenhang zwischen westlichem Messianismus und der großen Revolution im Osten. Schließlich zog er ein dünnes Heft aus einem wackeligen Stapel ungeordneter Schriften, dessen Untertitel ihn neugierig machte: "Übersetzung eines kürzlich aufgefundenen Lehrgedichtes der Nazoräer-Sekte aus der Zeit des S.M." Von vielen dieser historischen Gruppen wusste er fast nichts, allerdings beschäftigte ihn die Zeit und das Umfeld des Simon Magus, seit er wieder angefangen hatte, sich mit seiner religiösen Erziehung auseinander zu setzen - seine Eltern waren sehr liberal gewesen, dennoch hatten sie ihm ihren Glauben an das gnostische Universum halbherzig weitergegeben, wenn auch philosophisch rationalisiert und dadurch eher akzeptabel; eine Altlast, mit der sich mehr oder weniger jeder davon Geprägte abplagen musste. Er erinnerte sich an die unbequemen Diskussionen mit seinen jüdischen Freunden über die Absurditäten seines Glaubens - den er trotzdem verteidigte, obwohl dieser, genau gesehen, nicht der eigene war, sondern derjenige der Großeltern mütterlicherseits.
Für diese waren Planeten keine bloß physikalischen Körper im All, sondern Lebewesen oder zumindest Wohnstätten geistiger Entitäten, ganz anders als normalerweise vorgestellt. Ebenso waren sie von einem ewigen Kreislauf alles Bestehenden überzeugt, auch wenn sie persönlich mit jedem Jahrzehnt ihres Lebens neue technische Errungenschaften erleben konnten und sich dadurch ihr Alltag - zwar unmerklich schrittweise, aber doch tiefgreifend - veränderte. Für sie war dies einfach der Charakter des jetzigen Äons, der äußeren Fortschritt brachte, jedoch spirituelle Verarmung, und der nach Ablauf seiner Zeit durch einen weiteren abgelöst werden würde, mit anderen Vorzeichen, in der festgelegten Folge des in sich kreisenden Großen Jahres. Er konnte mit dieser Art, in Zyklen zu denken, nichts mehr anfangen, war ihr entfremdet, obwohl auch er manchmal den Wunsch hatte, mehr mit den natürlichen Rhythmen verbunden zu sein, die durch Wachsen und Vergehen jeden Lebensprozess bestimmten; aber sein Alltag, wie der jedermanns um ihn, war nicht dazu geeignet, ein Gespür dafür zu entwickeln.

In abgelegenen, ländlichen Gegenden mochte das vielleicht noch möglich sein, in den Anden, oder den Bergzügen Mittelamerikas etwa... Was ihn in seinen Gedankensprüngen auf ein neues Thema brachte, auf etwas, was er heute Morgen wieder als Aufmacher in einigen der Übertreibungs- und Klatschzeitungen im Vorübergehen gelesen hatte, und schon seit einem halben Jahr immer wieder aufgerührt und diskutiert wurde. Auch ihn brachten die Nachrichten aus Mechiko ins Grübeln: In einer entlegenen Ecke des Hochtals von Topia waren Reisende aus den nördlichen Hibernia-Staaten verschwunden, unbemerkt zuerst, dann wurden immer neue Fälle gemeldet. Böse Gerüchte hatten die Runde gemacht, aus Tenochtitlán waren Untersuchungsbeamte geschickt worden, die auf einen grausigen Fund stießen: Frische und auch schon ältere menschliche Häute, mehr oder weniger im Ganzen abgezogen, hingen an Gerüsten in einem der seit Hunderten vor Jahren aufgegebenen, halbverfallenen Dorftempeln, nun offensichtlich reaktiviert. Der Opferbrauch des Xipe Totec! Was war davon zu halten? Die Untersuchungsbeamten verhafteten Dorfbewohner, Schafhirten, ebenso einen alten Mann, der die Funktion eines Priesters übernommen hatte - die Leute schwiegen, aber niemand stritt ab, als man ihnen ihr Verbrechen vorhielt. Aber war es überhaupt ein Verbrechen? Die alten Opferbräuche waren niemals offiziell abgeschafft oder gar verdammt worden. Sie waren nur eingeschlafen, lösten heute Entsetzen und Ekel aus; niemand kam auf den Gedanken, das Menschenopfer, das allmählich wieder auf seinen Ursprung als Gabe aus Mais und Früchten zurückgeführt worden war, sei noch irgendwo Brauch. Und nun war es doch so. Wie damit umgehen?

Es hatten sich zwei Fraktionen gebildet, die sich in merkwürdigen Koalitionen zusammenfanden, quer zu sich normalerweise feindlich gegenüberstehenden ideologischen Lagern. Die Konservativen, die den Brauch als heilig durch sich selbst gerechtfertigt sahen, fanden sich in Nachbarschaft mit den Verfechtern einer kulturellen Selbstbestimmung, die zwar nicht das Opfer an sich, aber die kulturelle Identität verteidigten. Sie standen den Befürworter der Moderne gegenüber, für die blutige Rituale, ob antik oder neuzeitlich, nichts weiter als Ausweis der Barbarei und der Unwissenheit waren. Aber in deren Lager gab es nicht nur dogmatische Vertreter des Fortschritts, dem sich ihrer Meinung nach alles unterzuordnen hatte und in dessen Verlauf solche Relikte quasi naturgegeben verschwanden, sondern auch humanistische Skeptiker, die den Verlust von Authentizität und Identität beklagten, dennoch schon die historische Entstehung solcher Bräuche - wenn auch durch die Tradition mit Patina versehenen - als Fehlentwicklung verstanden und korrigiert haben wollten.
Er selbst war im Zweifel, welche Fraktion die besseren Argumente auf ihrer Seite hatte, allerdings nicht im Zweifel in Bezug auf den blutigen Akt des Hautabziehens bei lebendigem Leibe, einer Vorstellung, bei der es ihn fröstelte. Weder wollte er in einer Welt leben, in der jeder regionaler Unterschied durch eine allumfassende Globalisierung der Geschmäcker und Sitten eingeebnet war, in der überall dieselbe Art Menschen mit denselben standardisierten Ansichten und Verhaltensweisen lebten und Gebräuche nur als Folklore vorkamen - noch wollte er wirklich, dass blutige Bräuche, sich auf Tradition berufend, sinnlos weitergeführt wurden, ein Weltbild fortsetzend, das in seinen Augen durch Wissenschaft und Humanismus unwirklich geworden war. Wenn er die Einheitsgesellschaft unerträglich fand, musste er sich dann mit Menschenopfern abfinden? Wenn er Menschenopfer ablehnte, war er dann für den einheitlichen, standardisierten Globaltyp, der überall auf der Welt dieselben Verhältnisse wie Zuhause erwartet und auch vorfindet, nur mit ein bisschen exotischem Touch versehen, je nach Weltgegend als Wikingerambiente oder im Ife-Stil?
Der griechisch-römische Humanismus war die Wurzel seiner Kultur; diesen Maßstab legte er - wenn er darüber nachdachte, musste er es einräumen - überall an; er konnte (und wollte) nicht aus seiner Haut - mechikanische oder auch skandinavische Blutrituale und Menschenopfer (der Neo-Wotankult!) waren seine Sache nicht.

**

Er war von zu Hause ausgezogen, weil er das gemeinsame Unglück nicht mehr aushielt. Diesen über Nacht von Glück in dessen Gegenteil umgeschlagenen Zustand, wie er jetzt sein Zusammensein mit ihr erlebte. Kälte, Anfeindung, Attacken aus dem Hinterhalt: War dieser tagtägliche Krieg, auf den seine Ehe reduziert worden war, wirklich Forderung des Schicksals an ihn, standzuhalten, auszuhalten, das Gemeinsame durchzutragen? Sein Flüchten davor, war es eher Feigheit oder resignierendes Fügen in das Unausweichliche, Notwendige? Wie kann man denn gegen jemanden um diesen Jemand kämpfen? Als Gegner den, um den es in diesem Kampf geht? Den man dadurch gewinnen will? Unlösbarer Widerstreit.
Und nun war er hier und betrachtete das spärlich möblierte Zimmer: in der Ecke die noch immer unausgepackten Koffer und Kartons, Kleiderhaufen unordentlich auf dem Bett, Plastiktüten mit ungeputzten Schuhen daneben. Und Bücher, an den Wänden in Doppelreihen aufgestellt, die notwendigsten, ihm liebsten, an denen er sich, als Ertrinkender, Untergehender, festhalten konnte - wenn es ihm nur gelänge... Schon vor Monaten war er eingezogen und hauste noch immer im Umzugschaos des ersten, provisorischen Abladens. Als er die Wohnung gemietet hatte, war er kurzzeitig in Euphorie gefallen und hatte sich in Gedanken ausgemalt, wie er die Wände mit Pflanzenfarben streichen würde, welchen Farbton er wählen würde, welche Auftragstechnik. Was er sich anschaffen würde und wie alles geordnet sein könnte. Zu nichts davon reichte seine Kraft, sein Wille. Aufstehen, Zähneputzen, Frühstück machen - wie schwierig war allein das schon - und danach dehnte sich der Tag ins Endlose, der gleichzeitig irgendwie viel zu rasch vorüberging, um auch nur ein Bruchteil der selbstgestellten Aufgaben anzugehen. So blieb er die meiste Zeit im Halbdunkeln seines Zimmers, die Jalousien gegen die Zumutung des freien Blicks nach draußen heruntergelassen, zur Innensicht selbstverdammt. Und er hatte Zeit, den Geräuschen des Hauses und dem Leben in ihm, das er aus ihnen enträtselte, nachzuspüren.

Zuerst war es ihm nicht aufgefallen, warum auch, doch irgendwann kam ihm plötzlich der Gedanke: Viel Geld kann der neue Betrieb in seiner Nachbarschaft wohl nicht machen. Nach Abzug der Handwerker, dem anfänglichen Gedränge von Unbekannten verschiedenster Art im engen Hauseingangsflur, die alle irgendwie das Merkmal von Betriebsamkeit und selbstverständlicher Inanspruchnahme einer fremden Lokalität an sich hatten - Pakete wurden gebracht, Werkzeuge hineingetragen, Papiere studiert und unterzeichnet - gab es fast keine Begegnungen mehr mit Fremden im Treppenraum, obwohl doch das Schild Compuservice auf die nun öffentliche Zugänglichkeit der Etage unter ihm aufmerksam machte. Keine Kunden! Trotzdem waren die Räume nicht unbesucht. Geschäftigkeit ließ sich erahnen. Und bald wusste er auch, wie diese Leute dorthin kamen: über das Nachbarhaus, durch die kleine, bisher immer verschlossen gehaltene Tür zwischen den Hinterhöfen, dem Zugang zum Trockenplatz. Nachdem er einmal darauf aufmerksam geworden war, wurde ihm bewusst: Ein ständiges Kommen und Gehen fand statt, manchmal schienen es sogar Versammlungen zu sein, so viele Menschen mussten sich nach und nach eingefunden haben; und nur wenige davon betraten die Geschäftsräume - es waren doch Geschäftsräume? - von der Straßenseite aus, an der das Schild sichtbar angebracht war. Was ging hier vor?

Es gibt einen Fluss in Afrika (er hatte einen Bericht darüber gelesen, den Namen allerdings vergessen), der entspringt, schwillt an, wird mächtig und breit wie alle großen Flüsse der Welt, aber er findet nicht den Weg ins Meer wie alle anderen, er verstockt, versumpft, versandet, die Sonne brennt ihn aus - genauso hatte er sich gefühlt, als er vor kurzem Bilanz über sein Leben zog. Alles was er erreicht hatte, alles was er war, ist nichtig. Wertlos. Versickert. Jetzt, nach dem Ende der Beziehung, sah er, was sie für ihn gewesen war, was seine Familie für ihn bedeutet hatte: Nicht das, womit er sich scheinbar unausgesetzt beschäftigt hatte, sein Traum, durch Studium und Selbstversuch einer letzten Erkenntnis nahe zu kommen, war das wichtigste auf der Welt für ihn gewesen, nicht die Ferne, der er in diesem Traum nachspürte, sondern das Nächste, die ihm Nahen. Aber genau das hatte er aufs Spiel gesetzt. Hatte sich abgekapselt, sich zurückgezogen, sich gegen Ansprüche und Ansinnen taub gemacht, da ihm alles lästig geworden war, was ihn von seiner Suche abhielt. Und jeder Text, den er las, jeder Fund, den er machte, hatte ihn in seiner Beurteilung der Belanglosigkeit von Alltag und Existenzfürsorge gegenüber der Dringlichkeit des Durchbruchs ins Eigentliche, deren Bedeutungslosigkeit gegenüber diesem Ziel, bestätigt. War er jetzt nicht frei, das zu tun, was er tun wollte? Warum war er nicht glücklich? Warum fühlte er sich schuldig? Ihr gegenüber, seinem Sohn gegenüber?
Die Träume, die ihn in letzter Zeit quälten, mussten wohl mit seiner Lage zu tun haben, obwohl er keinen direkten Sinnzusammenhang feststellen konnte - aber so deutlich sprachen ja Träume selten. Sein jetziges Unglück, sein Allein- und Verlassen sein, welches ihn tagsüber als Trauer begleitete und als Stimmung in den Schlaf mit einzog, war bestimmt Anlass genug, um schlecht zu träumen. Obwohl: es waren eher merkwürdige, als schlechte oder sogar Albträume. An ein Bild erinnerte er sich so überdeutlich und klar, wie er sich normalerweise nie an Traumbilder erinnerte, kehrte er aus dem Schlaf ins Wachsein, aus dem Traumreich in die Tagesgedanken zurück: Ein Baum oder ein baumähnliches Lebewesen stand vor ihm auf einem Hügel, ringsum von einem schmalen Wassergraben umzirkelt, mit nur einer Unterbrechung, als Zugang zu dem inneren Bereich. Der Baum verwandelte sich fortwährend, manchmal bestand er aus einem rötlichen, schuppigen, drachenstarken Astgewirr, manchmal war er ein abstrakt wirkendes Drahtgeflecht, manchmal ein riesiger Stamm mit einer unproportional kleinen Krone aus fleischig-weichen Zweigen und Blättern. Er sah zwar traumbedingterweise alle Details der einzelnen Baumerscheinungen klar und deutlich vor sich, aber wenn er die Gestalt genauer anblicken wollte, war sie schon wieder durch eine andere ersetzt worden. Neben dieser klaren Sequenz gab es eine Unzahl von Verfolgungsträumen, von Verlustträumen, von abgefahrenen Zügen und ohne ihn wegsegelnden Schiffen. Einmal schreckte er mitten in der Nacht auf und glaubte, ein leicht surrendes, pulsierendes Geräusch zu hören, fast schon unterhalb der Schwelle des Hörbaren, welches den ganzen Raum ausfüllte und immer wieder durch ein Murmeln überlagert wurde. Das Summen und Brummen wurde tiefer, versank mit ihm in den ihn erneut einholenden Schlaf - am nächsten Morgen dachte er kurz daran als einen weiteren merkwürdigen Traum oder Halbtraum und vergaß das Erlebnis.

**

Heute hatte er sich entschlossen einen der Streitpunkte aus der Welt zu schaffen, die in der Endzeit ihres Zusammenlebens immer wieder für Verstimmung zwischen ihnen gesorgt hatten. Nach und nach wollte er alle diese Streitfälle ausräumen, hatte er sich vorgenommen, wollte dann zu ihr gehen und sagen können: Schau, das habe ich für dich gemacht. Ich erinnere mich gut an unsere Gespräche, habe Konsequenzen daraus gezogen, will dir zeigen, dass ich mir Mühe gebe. Vielleicht gab es noch eine Rückkehrmöglichkeit, einen Weg zurück zum Anfangszustand, in dem alles noch funktionierte, die Beziehung noch harmonisch und zukunftsoffen war. Deswegen stand er jetzt hier. Und zögerte doch.

Wenn er darüber nachdachte, kam es ihm auch merkwürdig vor, dass er so distanziert, so kritisch allen gegenüber war, die ihm ein Versprechen auf Heilung, auf Heil, auf Lösung seiner Probleme gaben. Alle, die damit ihren Lebensunterhalt verdienten, anderen gute Ratschläge zu erteilen oder den Kontakt zu irgendeinem Gott oder Engelsdämonen zu vermitteln, waren ihm der Hochstapelei verdächtig. Nicht nur die offensichtlichen Betrüger, die Unmögliches versprachen, gegen recht viel Geld versteht sich, sondern auch die ehrlich bemühten Zuhörer seelischer Problemfälle oder die einsamen Zelebranten eines obskuren Kultes. Er selbst wäre sich an ihrer Stelle als Hochstapler vorgekommen, Dinge versprechend, die zwar eintreffen konnten - auch seiner Meinung nach - aber nur als seltenes Ereignis, als geglücktes Leben, als Gnade, nicht als selbstverständliches Arbeitsergebnis wie garantiert. Diese Gedanken gingen durch seinen Kopf, während er das Schild "Praxis für geistiges Heilen" betrachtete, vor dem er stand. Sie hatte ihn oft dazu gedrängt, etwas gegen sein psychisches Problem zu unternehmen, wie sie es nannte. Suche Rat bei irgendjemand, dem du vertraust, egal welcher Richtung, Hauptsache er hört dir zu und spricht mit dir. Aber was konnte der andere ihm schon sagen? Sein Problem war nicht sein Problem, sondern ihres. Sie ertrug seine philosophischen Anwandlungen nicht, in denen er alles in Frage stellte, seine misanthropischen Anfälle, in denen er fast jeden, dem er begegnete, unerträglich fand, seine selbstquälerischen Verzweiflungsattacken, seine Melancholie, die ihn grundlos überkommen konnte. Das alles erschien ihr krankhaft, ihr, die solche schwarzmalerischen Anwandlungen nicht kannte, nichts damit zu tun haben wollte, für die eine positive Ausstrahlung und ein mitreißender Schwung Bedingungen waren, um sich bei einem Menschen wohlfühlen zu können, während ihm dies (in seiner missmutigen Phase) verdächtig nach Oberflächlichkeit und Verdrängung existenzieller Probleme klang. Er beschloss, die Praxistürklingel nicht zu drücken, nicht hineinzugehen, sondern umzukehren, mochte es deswegen Streit geben oder nicht, mochte sie ihn einen Feigling nennen oder nicht (aber sie würde es nie erfahren...), doch konnte er nichts in seinen Augen Sinnloses tun, auch nicht um ihretwillen. Während er langsam, gleichzeitig erleichtert und belastet, zu seiner neuen Wohnung zurück-ging, sann er über den Impuls nach, der ihn, trotz seines festen Entschlusses, alles für eine Wiederaufnahme ihrer Beziehung zu tun, dazu gebracht hatte, auf der Schwelle umzukehren: War es destruktive Eigensabotage oder aufrichtende Selbsttreue gewesen, wie sollte er ihn nennen?

In sich versunken ging er weiter, beschäftigt, dieser Frage nachzuspüren. Irgendetwas ließ ihn plötzlich, mitten im Schritt, stehen bleiben. Er war gerade dabei, seinen Fuß auf den Fahrweg zu setzen, zog ihn jedoch zurück. Im gleichen Moment streifte ihn der Luftzug eines vorbeilärmenden Lastwagens, zu nahe am Bürgersteig, zu schnell, um ihm noch auszuweichen, hätte er diesen Schritt getan. Ein Schwächeanfall ließ seine Beine zittern; für einen Moment umwaberten ihn, wie Hitzeschlieren, die unendlichen Möglichkeitsräume dieses: hätte. Hätte er, läge er jetzt da, umgeworfen, beiseitegefegt, blutig zerbrochen. Hätte er, läge er jetzt vielleicht fortgeschleudert da, benommen, doch glücklich davongekommen. Hätte er halb zögerlich, er wäre wohl angeschlagen zurückgezuckt - wäre der Wagen ein wenig früher, ein wenig später gekommen, ein wiederum anderer Verlauf wäre eingetreten: Der Wagen hätte angehalten - er hätte mit einem kleinen Spurt die Straße überquert. Und am einschneidendsten wäre der Fall gewesen, der ihm die Existenz genommen hätte. Diese Möglichkeit waberte um ihn, zitterte als Folie im Hintergrund, pflanzte sich wie eine Druckwelle fort in alle anderen Möglichkeiten, diese bedrohend. Es gab eine Welt, er war sich sicher, in der sie Wirklichkeit geworden war. Ein anderes Leben. Eine andere Realität. Für einen Augenblick konnte er alle Alternativwirklichkeiten spüren, als Woge aufbrandend, wirbelsturmbewegt, chaosfraktal. Und seine jetzige Wirklichkeit schien ihm zu brüchig, zu irreal zu sein, um ihn zu halten. Er war defokussiert worden. Für diesen instabilen Moment schwankender Orientierungslosigkeit.


Wachsende Verwirrung

Koslowski traf er an dem Tag, als ihm zum ersten Mal eine Veränderung aufgefallen war. Noch vor dieser Veränderung. Also gehörte Koslowski in die alte Welt vor deren Auflösung, war demnach sein Zeit- und Weltgenosse. Er war erst zwei- oder dreimal in dieser Bar gewesen, kannte niemanden der Anwesenden, auch nicht vom Sehen. Den Barkeeper, einen gutgelaunten Afrikaner, vielleicht ausgenommen, aber auch bei ihm war er sich nicht sicher, ob dieser ihn schon das letzte Mal bedient hatte. Koslowski suchte nicht wirklich ein Gespräch, er auch nicht, obwohl er dafür dankbar war, dass er mit jemanden reden konnte, nach einem Tag des schweigenden Umgangs nur mit sich selbst, einzig einen inneren Monolog führend. Die Bar war in einer Art klassizistischem Stil eingerichtet, hatte eine kreisförmige, dunkelgebeizte Holztheke im Zentrum, gemalte mythologische Szenen unbestimmbarer Bild-Erfindung an der Decke, in schwebenden Blautönen gehalten, das Licht war gedämpft, ebenso die Musik, die unaufdringlich Stimmung machte, in leichten Anklängen an südhibernianische Rhythmen. Er steuerte einen freien Thekenplatz an, der ihm ins Auge gefallen war, setzte sich, um sich dann erst richtig umzusehen. Einige Tische in den Nischen waren besetzt, dem Alter nach ein gemischtes Publikum, in Gruppen oder als Paare - zwei Frauen, die ihn offen musterten, schienen Geschäfte halber hier zu sein, so zeigte er sein Desinteresse an ihrem Angebot dadurch, dass sein Blick nur flüchtig über sie streifte.
"Zum ersten Mal hier?", fragte ihn überraschend sein Nebenmann, der sein bemüht beiläufiges Registrieren der Örtlichkeit, der Einrichtung, der Menschen im Raum trotzdem bemerkt haben musste. "Nein, ja, nicht wirklich, aber bisher nur tagsüber, für einen persischen Mokka, heute will ich etwas Richtiges trinken." "Richtig ist in Ordnung, richtig muss sein." Danach kam lange nichts mehr von der Seite des Nachbarn, der ihn angesprochen hatte. Nach seiner Bestellung und der raschen Bedienung (ein gälischer Whiskey) prostete er höflichkeitshalber in dessen Richtung. Das blieb lange Zeit der einzige Worttausch, bis sein Nachbar sich vorstellte: "Koslowski, bin hier als Gast fest angestellt, weiß aber, wann genug ist." Genug schien ein sehr dehnbarer Begriff zu sein, umfasste offensichtlich sehr viel, nüchtern war er jedenfalls nicht mehr. Aber er war auch nicht unangenehm betrunken, obwohl sich seine Philosophie, die er im Laufe des Abends vortrug, ein wenig ungeordnet anhörte. "Gefiel Ihnen nicht auch als Kind der Ritt auf dem Karussellelefanten? Die Fahrt mit der Feuerwehr, auf dem Lokführerstand, immer im Kreis, Runde um Runde, und das Ende der Fahrt kommt immer zu schnell... Warum das Vergnügen daran? Weil es eigentlich nicht wir sind, die sich drehen, die Welt dreht sich um uns, im Schwung zieht die Szenerie an uns vorüber, wir aber bleiben (ein wenig schwindelig) immer bei uns. So erlebe ich mich: Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Mondauftritt, Jahreszeiten, wechselnde Moden, vorüberhuschende Gesichter, vorbeiziehende Partner, eine neue Rolle, ein anderes Kostüm - alles geht vorüber, zieht an mir vorbei, endet und fängt an. Nichts von dem bin ich selbst. Nichts dabei, was mich ankettet. Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass vor einer halben Stunde hier alles ganz anders aussah? Wen interessiert's. Ist doch egal, läuft auf dasselbe hinaus."
- (wovon spricht er überhaupt?) -
"Warum auch nur die geringste Aufmerksamkeit in diesen flüchtigen Umkreis investieren, der mich schneller und schneller umläuft (ein Blinzeln von mir, und ich bin schon wieder in einem anderen Leben gelandet), lass es auf sich beruhen, es wird sich eh' gleich alles ändern, auch dich sollte das nicht berühren: Mich berührt' s nicht. Ich habe keinen Ehrgeiz, mich dort irgendwo festzukrallen und im Zufälligen Wurzeln zu schlagen, um zu wirken. Um was zu wirken? Im Egal-was-ist? Ich bin nicht verbunden. Realisiere mich dadurch nicht. Weiß nicht mal, ob ich immer derselbe bin, der sich verweigert. Vielleicht bin ich es ja, der immerzu wechselt, und die Welt bleibt stehen, wie bei der Karussellfahrt, von außen betrachtet. Kommt wahrscheinlich auf den Standpunkt an, was man sich drehen, sich verändern, was man stillstehen sieht. Prost und Amen"
"Prost" - (er wusste immer noch nicht, um was es eigentlich geht) -
"Ein stetiges Ich in einer veränderlichen Welt zu sein, ist Arbeit. Ist Mühe. Alles will dich zu sich ziehen. Hinein in den Mahlschlund. Will dich schlucken. Du strampelst dich ab, um dich zu erhalten. Um dich aufzubauen. Glaubst, es ist deine dir zugewiesene Aufgabe, ein respektables Selbst in einer respektablen Welt zu sein. Den Ansprüchen genügen zu können. Fuck it. Kettet dich nur an die respektable Außenseite, an die Fassade. Lass los. Bindet dich nur an Vorstellungen, wie du eigentlich sein sollst. Lächerlich. Dich als eigentlich gibt es nicht. Dich gibt es, das ist schon alles"
- (gibt es mich?) -
"Und wenn es dich gibt, dann nicht durch deinen eigenen Verdienst, sondern du wirst gehalten. Durch das Eigentliche. Und wenn es sein soll, wirst du dich erfüllen. Auch ohne das flüchtige Gekreise um dich. Ohne dass du dich verlierst und gewinnst und verlässt und ankommst. Betrink' dich mit mir. Ist eh' der beste Zustand, den man erreichen kann. Abgesehen von Satori. Aber wie könnte man Satori durch Arbeit erreichen? Arbeit am Ich - was für'n Schwachsinn. Du wirst geboren, dein Fleisch zerfällt und zum Trost willst du ein Ich aufbauen. Ein starkes Zentrum, das auch dann noch existiert, wenn alles zerfällt. Wie eben deine Zähne ausfallen, deine Haare abfallen, du selbst mitsamt deinem Ding schrumpelig wirst. Dagegen kämpfst du an, mit deinem verstärkten Ego. Und nimmst alles, was du in diesem Kampf einsetzt, aus dem, was zerfällt, sich ändert, wechselt. Schwachsinn. Du bist. Das ist das ganze Geheimnis. Du bist, und musst es nur wissen. Dir bewusst sein, dass du es weißt."
- (Scheint ein Zen-Anhänger zu sein…) -
"Ich bin nicht ich, Mann. Bin es nur von außen. Weil man mich so sieht. Sehen will. Bin dann Koslowski. Für dich. Für den da. Und für mich? Bin ich eine Außenstation meines eigentlichen Zwillings. Sitze auch dort an der Bar, aber besser. Nur das, was uns verbindet, ist echt. Sonst bin ich eine Fälschung, gemacht von dem Publikum für das Publikum. Ist doch piepegal, als was die mich verkaufen. Ich jedenfalls bin damit nicht gemeint. Tut, was ihr mit Koslowski tun müsst, ich bin es nicht, den ihr damit trefft. Mich gibt es nicht als den, den ihr zu eurem Spiegelbild gemacht habt. Euer Blick streift den Spiegel und ihr seht euch, nicht mich. Mit dem, was ihr seht, könnt ihr machen was ihr wollt. Es gehört euch. Ich bin es nicht. Ich halte mich nicht an euch. Ich halte mich an meinen Zwilling. Mit ihm als Rettungsachse kann ich schwimmen. Angeleint an ihn. Die Identität, die ihr mir zubilligt, brauche ich nicht. Kann ich fahren lassen. Aufgeben. Brauche mich nicht an sie zu klammern, damit ich nicht verloren bin - bin sowieso verloren. An das, was ihr mir zubilligt. Alles zerrt an dieser gefakten Masken-Identität. Will sie mir vom Gesicht reißen. Gesicht gibt es nur nicht. Der Mahlstrom will mich mit sich fortreißen, will mich verschlingen. Nimmt nur die Maske mit sich fort. Und ich? Sitze hier. Habe keine Identität mehr. Und warum sie nicht in den Wind schreiben? Warum nicht den Sturm, die Tsunami-Woge reiten? Ich weiß dann zwar nicht, wer reitet, aber als Surfer balanciere ich auf der Welle, als Fisch schwimme ich in der Welle, als Vogel schwebe ich über der Welle.... Frei von ihr, verbunden mit ihr. Fühle mich merkwürdigerweise nicht in alle Winde verstreut, wenn ich mich auf die Winde einlasse, fühle mich nicht dezentriert, wenn ich zulasse, dass sich mein Festkrallen an ein Zentrum lockert. Will nicht mehr allem, was mich durchzieht, meinen Namen geben, um ein Selbst mit Namen zu sein. Ein Zentrum. Ein Punkt. Will mich lieber ausdehnen, über alle Grenzen hinaus, mich mit allem ausfüllen, was mir begegnet. Aber diese Filter, Sperren und Ausgrenzungen, die ich brauche, um mich dabei nicht zu verlieren, hindern mich, in Kontakt mit dem ganz Anderen, dem Ganzen zu kommen. Und diese Filter, Sperren und Einschränkungen hab' ich nicht selbst aufgebaut, sie sind mir eingepflanzt worden, ohne mein Wissen, ohne mein Wollen, ohne mein Einverständnis. Nur weil sie schon immer da waren, weil ich mich an sie gewöhnt habe, mein' ich, dass sie mir meine Identität garantieren. Und verstärke sie ängstlich, statt sie niederzureißen. Forget it. Diese angstdurchsetzte Identitätsaufrechthaltung ist zu anstrengend, um sie auf Dauer durchzustehen. Warum nicht gleich loslassen. Warum nicht gleich dort heimisch sein, wo wir sowieso stehen, schweben, landen: Im Chaos. Ein Prost auf das Chaos. Ordnung ist der Tränenweg. Ist der Schmerz. Die Mühsal. Verschwendete Anstrengung in Aufrechterhaltung der Fassade. Ich-Arbeit ist der Irrweg. Merkst du nicht, wie du trotzdem getragen wirst? Lass dich fallen, Mann..."
So ging es weiter, er verstand nur die Hälfte davon, was Koslowski ihm erzählte; bei aller Bereitschaft sich auf ihn einzulassen, wurde er das Ganze allmählich überdrüssig. Die nächste Unterbrechung im Redestrom nutzte er deshalb, um sich auszuklinken. "Ich muss jetzt gehen, tut mir leid, bis demnächst." Fragte nach der Rechnung, bezahlte und stand auf, um sich zum Ausgang durchzuschlängeln (die Leute standen inzwischen dichtgedrängt um den Tresen).

Als er beim Weggehen nochmals zurückschaute, schon an der Tür stehend, um den Ort mit einem letzten Rundum-Blick zu umfassen, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er hatte diesen Raum, den er gerade verließ, nie betreten. Die Garderobe war ein dünnes Bambusrohr, an dem stumpf gemachte Fleischerhaken hingen, die Theke selbst eine fragile Konstruktion aus Bambus, blanken Metallflächen und Neonschriftzügen, die über ihr und an der Rückwand angebracht waren, irgendwelche Zen-Zitate, in Ornament verwandelnd. Ein ernster, großgewachsener Asiate stand hinter der Bar und schüttelte feierlich-rhythmisch den Shaker, wie einer Tempelzeremonie vorstehend. Die Musik sirrte verhalten durch den Raum, elektronischen Zikaden ähnlich. Dann setzte ein wummerndes Bassgewitter ein, allerdings gesprächstauglich heruntergeregelt. Der Wechsel des Musikstiles konnte noch normal sein, aber nicht die Veränderung des Raumes. Dafür hatte er keine Erklärung. Außer der, dass sein Gedächtnis, was die letzten Stunden betraf, völlig ausgesetzt hatte. Selbstverständlich gibt es keine reale Vergangenheit, es gibt als Realität nur eine andauernde Gegenwart, jeder Augenblick des Lebens ist ein gegenwärtiges Moment, aber dass sich seine Erinnerung an die eben entschwundene Gegenwart so sehr von der jetzigen Gegenwart unterschied, er nichts von dem Erinnerten im Jetzt finden konnte, bestürzte ihn zutiefst. Was war mit ihm passiert? Hatte er einen Blackout? Nein, er erinnerte sich fast lückenlos an sein Hereinkommen: An seinen etwas verunsicherten Gang zur Theke (nicht wirklich heimisch hier), daran, wie er sich auf den hohen, schmalen Barhocker gesetzt, verstohlen die Nachbarn links und rechts gemustert, die Flaschen im Regal hinter der Theke geprüft hatte; er erinnerte sich an die Frage des Barkeepers und an seine Bestellung; danach kam der Kontakt mit Koslowski und das merkwürdige Gespräch mit ihm. Nirgends eine Lücke, nirgendwann ein Aussetzer. Woher, wann also der Wechsel? - Wenn es einen gab. Ab wann war in seinem Gedächtnis eine andere Szenerie präsent, ein anderer Stuhl, auf dem er saß, ein anderer Musikstil, ein anderes Publikum (denn das war doch auch ausgewechselt worden, oder?). Nein Koslowski saß wie vorher an seinem Platz, ein Zeuge dafür, dass es sie beide vor einer Stunde schon gab, er nicht erst in dieser Sekunde angefangen hatte zu existieren - obwohl: war das nicht genauso gut ein mögliches Konzept wie das, dass er schon mehr als dreißig Jahren unter einer realen Sonne lebendig gewesen war? Ihm kam es vor, als ob er in einem Bewusstseinskino säße, einen Film vor sich (um sich), und dieser Film einen Schnittfehler hätte: Versehentlich waren alternativ gedachte Szenen, in anderen Kulissen gedreht, aneinandergeschnitten worden. Aber er hatte es bemerkt. Warum? War er versetzt worden, verrückt? War die jetzige Gegenwart real, die im Gedächtnis bewahrte vorige Gegenwart irreal? Die jetzige Realität konnte er nicht leugnen, ohne sich selbst in Frage zu stellen, ein absurder Gedanke, aber er weigerte sich, seine so deutliche Erinnerung aufzugeben, ins Vergessen zu flüchten. Er wusste doch, was gewesen war. Aber wenn das Jetzt wirklich war, konnte das Vorher nicht wahr gewesen sein. Und trotzdem: es war gewesen. Was gewesen war, gab es allerdings nur noch als Erinnerung: Konnte diese gefälscht sein? Sie musste es - das war die einzige logische Erklärung. Wenn das aber der Fall war, er mit einer gefälschten Erinnerung herumlief, wer war er dann? Sein Bild von sich selbst beruhte auf Erinnerungen. Wie weit ging die Fälschung, die Täuschung über sich selbst, betraf sie nur die Bar, betraf sie seine Erinnerung insgesamt, sein ganzes Leben, wie er es als einst gewesen voraussetzte?

Durch den Schock dieses Erlebnisses (welches? Schon verschwand ihm die Möglichkeit, an das Vorher als ebenso real wie an das Jetzt zu denken) wurde er auf Unstimmigkeiten aufmerksam, die sich unbemerkt überall eingeschlichen hatten. Ein Gebäude, an dessen leuchtend blaue Farbanstrich er sich zu erinnern glaubte, war in Wirklichkeit, wie er sah, grün, eine Statue, von der er die ganze Zeit geglaubt hatte, sie stellte einen löwenmähnigen Zervan aus der Mythologie der Mithrasmysterien dar, war, wie er jetzt, vor ihr stehend, feststellte, Perseus mit dem abgeschlagenen Kopf der Hydra in der Hand - sein Gedächtnis schien ihm Streiche zu spielen, oder etwas noch grundlegend Merkwürdigeres ging mit ihm vor. Manchmal sah er, wie aufeinander gehalten, ineinandergeschoben, das Erinnerungsbild eines Gebäudes, verschmolzen mit dem realen Gebäude, mit dem es seltsamerweise nicht oder wenig übereinstimmte. Dann war wieder der Eindruck von Fälschung (seiner Erinnerung oder der Gegenwart) wie weggewischt, alles war selbstverständlich und normal, bis ihm der unerklärliche Verdacht kam, dass dieser oder jener Anblick gestern noch ganz anders gewesen war, ohne dass er dieses dumpfe Gefühl konkret an etwas festmachen konnte. Als er vor dem Haus stand, in das er vor einem halben Jahr eingezogen war, fragte er sich einen Augenblick, ob ihn seine automatisch gelenkten Schritte nicht vor das falsche Gebäude geführt hatten, er irgendwann vom schon gewohnten Weg abgekommen war (aber wo? Es gab keine verwirrende Abzweigung auf seiner Route), er sich verträumt und die Richtung verloren hatte - einen Augenblick lang schien ihm das Haus sehr fremd, bis sich alles normalisierte und er akzeptierte, dass das, was er sah, einzige Realität und schon immer so gewesen war.
Im Zimmer angekommen, war er erleichtert, nichts Befremdliches vorzufinden, keine Veränderung, die er sich nicht erklären konnte, keine aufflackernde Ahnung von einem gestern noch vorhanden gewesenen Tapetenmuster, das es heute nicht mehr gab - sein neues Zuhause empfing ihn wie ein wirkliches Zuhause: Zum ersten Mal hatte er dieses tröstliche Gefühl der Umarmung durch das Gewohnte.

(Ende Leseprobe)