Architexxt



Faulhabers Komet

(Leseprobe)




I

Draußen stand der Feind. Vielhundertzählig. Erst in kleinen Gruppen eingetroffen, tröpfchenweise nach und nach sich sammelnd, vielleicht schon bald verzweifelt und wütend alles überflutend. Gestern Abend noch überschaubar, heute Morgen die sonst nur von Gänsen bevölkerten Weidenflächen vor der schmalen Zugbrücke über den Festungsgraben unübersehbar füllend. Es waren nicht die Spanisch-Kaiserlichen, die nach ihrem gestrigen Sieg über die schwedische Armee bei Nördlingen wieder das Sagen hatten, für diesen Augenblick wieder Oberwasser hatten - die gingen ihrer Menschenjagd im Felde nach, in den Wäldern und in dem, was an dörflichen Siedlungsresten noch übriggeblieben war. Der Feind, das waren die eigenen Leute. Die von draußen. Die Bauern*, Bettler, flüchtenden Habenichtse. Sie brachten Krankheit mit sich, Unruhe, noch mehr Enge in die sowieso schon beengte Stadt. Hunger, Teuerung, Streitigkeiten, Verbrechen. Und Bettelei, überall wurde man schon jetzt angebettelt, keinen Schritt konnte man in die Gassen und auf die Plätze der Stadt tun ohne angepöbelt zu werden.
Der Stadtbaurat Furttenbach stand auf der Torbastion und schaute auf das Gedränge. Es wurde selektiert. Die guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. So ging der Märchenreim. Und so ging die Stadtwache vor. Die Landpfleger standen dabei und winkten ihre Leute durch. Nur wer gewiss zu den Ulmer Untertanen zählte wurde aufgenommen. Von oben gesehen sah die Menge wie ein Meer aus, das gegen die Stadtbefestigung brandete, Graben und Zugbrücke überschäumte, eine wimmelnde Masse sich verzweifelt gebärdender kleiner Gestalten, gestenreich - so übertrieben, so vulgär, ein brausendes Meer, aus dem einzelne Schreie heraustönten, ein Wutgesumme, ein Verzweiflungsgeächze, ein merkwürdiger Lärm, der nicht nach menschlichen Stimmen klang, zusammengeschoben und verdichtet wie er war, emporgetragen zu ihm. Furttenbach hatte Angst. Und war voller Zorn. Der Bürgermeister und die Fünf vom Geheimen Rat, allesamt gutmütige alte Herren, hatten beschlossen, die Tore nicht dicht zu machen, die Stadt nicht vor dieser Invasion zu schützen, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, sie wollten so viele wie möglich aufnehmen, ein Asyl in der Verheerung; jeder, der Anspruch auf Schutz hatte, durfte herein. Jeder, der seinen Zins in den vergangenen Jahren abgeliefert hatte, jeder, der bekannt war und einen Fürsprecher in der Stadt hatte. Aber doch zu viele, viel zu viele. Er konnte es spüren, mit dieser Menge kam der Schrecken in die Stadt. Schon war an anderen Orten die Pest ausgebrochen, Gott sei Dank mit nicht zu erdrückenden Opfern - doch jeder einzelne, der auf diese Weise qualvoll starb, war einer Zuviel - aber hier würden sie nicht so glimpflich davonkommen. Das fühlte er in der Magengrube. Und er war zornig darüber, dass niemand von den Verantwortlichen die Größe oder Grausamkeit besaß, vorausnehmende Konsequenzen aus dem Offensichtlichen, dem Abzusehenden zu ziehen. Stattdessen verschloss man die Augen.

Jemand kletterte die Stiege empor und stellte sich neben ihn. Es war sein von ihm nicht besonders geschätzter Kollege Faulhaber. Dieser grüßte ihn mit einem stummen Nicken, zu vertraulich für Furttenbach, der lieber Abstand zu dem in mancher Hinsicht Rivalen hielt, aber es war nicht der Moment für Förmlichkeiten.
"Es ist nicht gut" sagte er, mehr zu sich selbst als zu dem anderen. "Es wird Unheil bringen. Unruhe. Verderben".
"Aber es sind verzweifelte Menschen, denen wir Rettung und Sicherheit geben können", stieg Faulhaber in das wie vor sich Hingesprochene ein. "Und sie bleiben nicht für ewig, sobald das Kriegstheater weitergezogen ist, kehren sie wieder in ihr Zuhause zurück."
"Zu ihren verwüsteten Äckern und zerstörten Hütten? Nein, das glaube ich nicht. Sie werden erst verschwinden, wenn das Leben ihnen hier noch schlimmer vorkommt als ihr vergangenes inmitten der Kriegsgräuel. Und ich hoffe nicht, dass sich das so entwickelt."
"Wir werden es eben ein wenig enger haben, doch dafür haben wir ein gutes Gewissen, und das ist doch auch etwas wert, nicht wahr?"
Furttenbach schwieg. Warum sollte er auf solch eine naive Meinung eingehen? Die Notwendigkeit einer Handlung einzusehen und sich dann vor dem Handeln zu drücken war nicht etwas, was er mit einem guten Gewissen vereinbaren konnte. Und sich ein gutes Gewissen durch Verschließen der Augen vor den zukünftigen Folgen zu bewahren (auch wenn niemand wirklich die Zukunft vorhersehen konnte), war für ihn selbstgerechte Dummheit. Doch Faulhaber dachte wohl anders.
Furttenbach verabschiedete sich steif von ihm, konnte es aber nicht unterlassen, als Begründung seines eiligen Abgangs etwas von viel Arbeit und größeren Projekten zu sagen, die auf ihn im Amt warteten; er, dächte dabei an ein Pesthaus zur Absonderung und Pflege von ansteckenden Kranken. Er wusste, dass diese Bemerkung den anderen treffen würde, da Faulhaber einst selbst auf die Übernahme des Bauamtes gehofft hatte und nun mehr oder weniger im auftragslosen Abseits stand. Aber so war nun einmal das Leben: der eine stieg auf, der andere fiel...

Nachdem Furttenbach gegangen war, blieb Faulhaber eine Zeit lang regungslos an der Brüstung stehen, blickte auf die Szene unter ihm und fühlte sich hilflos. Er konnte nur wenig, eigentlich gar nichts für diese heimatlos gewordenen Menschen tun, sah sie ihrem Schicksal entgegenwanken, unaufhaltsam ihrem persönlichen Abgrund zu. Die als Ulmer akzeptierten wurden als Bettler hereingelassen, mit wenig mehr als ihrem bloßen Leben davongekommen, die fremden Bettler als unerwünscht abgewiesen. Sie mochten sich vor den Toren Hütten bauen, das war schon öfters vorgekommen, um die Illusion zu haben, im Schatten der Bastionen geschützt zu sein, aber bald würden sie von dort vertrieben werden, ihre Hütten abgebrannt, auch das kam schon vor, damit im Schanzenvorfeld die Schusslinien freigehalten wurden. Er selbst hatte vor einiger Zeit diese Schusslinien berechnet und die Schanzen eingemessen und abgesteckt; vor drei Jahren erst hatten sie wieder ihren Wert bewiesen, als im Sommer des Kirschenkrieges - wie man ihn jetzt verniedlichend nannte - der Feind einen Belagerungsversuch unternahm, trotz der aufwendigen Festungsanlagen, wie sie sich nur eine Stadt von der Bedeutung und der Wirtschaftskraft Ulms leisten konnte, wenn auch auf der Kippe zum Ruin. Diese übermäßige Belastung hatte sich letztlich ausgezahlt: Das Verhängnis Magdeburgs war nicht über Ulm gekommen. Der Untergang der Stadt in Feuer, Vergewaltigung, Mord.
Doch Faulhaber wusste auch, dass dies vor allem daran lag, dass der Graf von Fürstenberg nur halbherzig die Belagerung Ulms unternommen hatte, nicht so, wie der inzwischen gefallene General Tilly und dessen Feldmarschall Pappenheim die Erstürmung Magdeburgs, die in letzter Anstrengung, von Not getrieben, den verhassten Feind bezwingen mussten oder von den heranziehenden Schweden selbst besiegt worden wären; auch hatten sie als Terrortaktik eine neue, bisher so nicht gekannte Art des Dauerbombardements mit Feuertöpfen gegen die belagerte Stadt eingesetzt. Ulm hätte sich wohl ergeben müssen, wenn der größte Teil der Stadt in Trümmern gelegen wäre, die Einwohner elendig in ihren Häusern verbrannt oder in den Kellern erstickt wären, in denen sie Schutz vor dem ständigen Beschuss gesucht hätten.
Was er über Magdeburg gehört hatte, auf welche Weise dort vor allem Frauen und Kinder durch die Feuertöpfe und Brände qualvoll zu Tode gekommen waren, hatte Faulhaber mitfühlend entsetzt und zu Überlegungen angeregt, wie dies durch Entlüftungsschächte vermieden werden könnte; er hatte Zeichnungen dazu gemacht und Modelle gebaut, wie es seine Art war, hatte sie in seiner Kunstkammer aufgestellt, hatte eine Broschüre verfasst, den "Magdenburgischen Phoenix", und mit dem Rat darüber gesprochen. Doch schon lange ging niemand so richtig auf seine Vorschläge mehr ein, er war halb abgeschrieben, der neue Mann, auf den die Stadt setzte, war Furttenbach, und der fand die Idee zwar gut, die Realisation aber zu aufwendig und nicht durchzubringen und deswegen nicht weiter zu verfolgen.

Ach ja, Furttenbach - weswegen hasste ihn dieser Mann: ein Dezennium jünger als er, ehrgeizig, talentiert, gebildet, weit gereist, erfolgreich, beliebt und geachtet - was konnte er selbst denn schon an ihm schmälern? Merkwürdig war nur, wie Furttenbach in vielem in seine Fußstapfen trat, wie er Faulhabers Ideen und Lebensstil kopierte, dabei aber alles größer und prächtiger haben musste. Seine eigene Kunstkammer war die erste weit und breit gewesen (natürlich nicht zu vergleichen mit derjenigen der Fugger in Augsburg, aber das war in Wirklichkeit ein anderes Genre), über die Jahre hin aufgebaut, mit Modellen und Schaubildern seiner Erfindungen und Erkenntnissen, mit Sphären, Messinstrumenten, Proportionalzirkeln, mit Grund- und Aufrissen von Festungsbauwerken; nun hatte man ihm erzählt, dass Furttenbach angefangen hatte, ebenso eine Kunstkammer einzurichten, und er konnte sich vorstellen, dass diese unbedingt die seine übertreffen sollte - obwohl sie fast nicht mehr bestand, seitdem er Modelle und Pläne gegen eine jährliche Zahlung von 100 Gulden nach und nach an die Stadt abgegeben hatte - all seine Geheimnisse und Erfindungen verschwanden in den Archiven der Stadt, sein Leben selbst verschwand mit diesen...
Und Furttenbach hatte nun freien Zugang zu seinem Lebenswerk, als Baurat, dem die Verantwortung für alles übergeben worden war, was mit Planung und Bauen von Schulen, Krankenanstalten, Zeughäusern, Kornspeichern, Wasserversorgung und Brunnenwerk, Schleusen, Mühlenkanäle und Feuerwehrteichen, was mit Brandabständen und Feuerwehr, Straßenpflasterung und Brücken und vor allem natürlich mit der Erweiterung und Unterhaltung des Festungsgürtels um die Stadt zu tun hatte. Faulhaber versank kurz in ein Nachsinnen darüber, was Furttenbach wohl mit seinen Erfindungen anfangen konnte, mit seinen Plänen, Projekten, Berechnungen, ob er wohl irgendwann Verwendung für seine Brunnenmechaniken hätte, die er nach dem Vorbild von Salomon de Caus Heidelberger Gartenanlage weiterentwickelt hatte, ohne Auftrag, nur zu seinem eigenen Vergnügen, oder vielleicht für seine rasch aufbaubare, mobile Theaterbühne mit Bühnenmechanik und Drehkulissen nach italienischer Vorlage, die er zusammen mit Robert Browne und seiner englischen Schauspielergruppe entworfen hatte, die vor dem Krieg Jahr für Jahr in die Stadt gekommen waren, um ihre Stücke aufzuführen - ob Furttenbach wohl etwas Großes, Prächtiges aus diesen anfänglichen Versuchen machen konnte, von ihm nicht weiterverfolgt, aus Mangel an Gelegenheit, Muse, Geld, Auftraggeber?

Doch dann wanderten seine Gedanken in die Zeiten zurück, in der er solches und ähnliches projektiert hatte, und plötzlich stellte sich die Erinnerung an ein Gespräch mit einem jungen Franzosen ein, der ihn vor rund fünfzehn Jahren besucht und mit ihm unter anderem auch über Brunnenmechanik gesprochen hatte. Er kam von der Kaiserkrönung in Frankfurt, über Heidelberg, und hatte dort die Baustelle der Gartenanlage besichtigt, die der Winterkönig vor seinem Abenteuer mit der böhmischen Krone in seiner damaligen Residenz errichten ließ und von der seinerzeit als dem 8ten Weltwunder gesprochen wurde. Faulhaber hatte gerüchteweise viel Neugier machendes von dem Projekt gehört und war begierig darauf, aus erster Hand etwas darüber zu erfahren; so ließ er sich gerne von seinem Besucher eine genaue Beschreibung der Anlage geben - darüber, was schon vorhanden war und was noch geplant, wie sein Gast dies von dem Gartenarchitekten selbst, dem berühmten Salomon de Caus, erläutert bekommen hatte.
Monsieur Polybius, wie er sich nannte, war außerdem sehr interessiert an jeder Art von Mechanik gewesen, wie auch an seinen Erfindungen, besonders an Faulhabers Weiterentwicklung des Proportionalzirkels, von dem er behauptete, etwas ähnliches selbst versucht zu haben; so hatten sie einen ganzen Nachmittag in seiner Kunstkammer verbracht und er hatte ihm alles gezeigt, was es zu dieser Zeit zu sehen gab - nicht so viel wie später, bei weitem mehr als jetzt.
Der junge Gelehrte hatte ihm dann eine Art Theorie vorgetragen, wie der menschliche Körper durch Blutzufuhr und Muskelschwellung auf eine ähnliche Weise bewegt werden würde wie die Brunnengestalten, die vom pneumatischen Druck des zugeführten Wassers in lebensähnliche Bewegungen gebracht wurden, je nach Verteilung des Wasserstromes und der Stellung der Ventile. Für Faulhaber war dies eine bloße Metapher, tauglich um ein grobes Modell von mechanisch durchgeführten Bewegungsabläufen zu skizzieren, für den jungen Mann ein ernsthafter Versuch, sich die Welt zu erklären, der aber, unausgereift wie er war, Faulhaber nicht besonders überzeugte. Was wohl aus diesem jungen Franzosen geworden war? Er hatte nie mehr etwas über seinen Besucher gehört, der ihm damals wie ein junger Genius erschienen war, von dem man noch viel erwarten konnte - doch war er wohl, wie so viele vor und nach ihm, in eine durchschnittliche Anonymität abgesunken, die Hoffnungen nicht erfüllend, die seine Freunde und er selbst sich einst auf die Eroberung von Wissenschaft und Philosophie gemacht hatten, oder, schlimmer noch, er war den Kriegswirren zum Opfer gefallen, die seitdem Landstrich um Landstrich verwüsteten. Ja, so war es wohl geschehen, denn er war als Offizier Maximilians von Bayern bei ihm aufgetaucht, damals, als sich das Heer der katholischen Liga sammelte und später vor Ulm dem Heer der protestantischen Union gegenüberlag und die Führer in der Stadt um ein Stillhalteabkommen verhandelten - was in der Folge direkt in die Katastrophe der Schlacht am Weißen Berg führte, in welcher der alleingelassene König von Böhmen, Friedrich V, den Truppen Maximilians unterlag. Mit dem Heer des Bayern zog auch der Franzose in den Kampf, war er damals noch nicht umgekommen, dann bestimmt in einer der vielen weiteren Schlachten...

Faulhaber fühlte sich durch seine Erinnerungen eher belastet. Die Gegenwart war nicht so, dass sie viel Hoffnung offen ließ, fast keine für die Menschen unter ihm vor der Bastion, wenig für ihn selbst. Was war aus den messianischen Erwartungen geworden, die er aus dem Erscheinen des Kometen abgeleitet hatte? Das Reich Friedrichs war nicht gekommen. Auch das Reich Gustav Adolfs war mit dessen Tod in der Schlacht bei Lützen zur Fiktion geworden. So war auch seine zweite Prophezeiung über den endgültigen Sieg, als Huldigung an den Schwedenkönig vorgebracht, bloßes Papier gewesen. Der Löwe aus Mitternacht, in welcher Gestalt auch immer, war nicht in Sicht.
Welches Resümee seines Lebens konnte er also ziehen? Er war erfolgreich gewesen. Er hatte sich zum geachteten Festungsexperten entwickelt, durch Fleiß, Selbststudium, Disziplin, durch Eingebung und Gnade. Er hatte es zu etwas gebracht. Die Verwirrungen seiner Jugend waren vergessen, sein Überwältigt sein durch Prophezeiungen und die Erwartung der Endzeit. Er war Realist geworden. Und er war einer der besten Rechenmeister und Mathematiker seit Cardano, davon war er überzeugt, nur dieser junge Franzose, an den er gerade denken musste, hatte ihn mühelos überflügelt; und hätte selbst sein Lehrmeister sein können, wenn er, statt sein Leben dösend im Bett zu verbringen, sich hingesetzt hätte, um seine Mathematik aufzuschreiben und öffentlich zu machen...

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Der Ort, an dem Faulhaber einst vor etwas weniger als vierhundert Jahren gestanden haben könnte, hat sich verändert. Heute markiert er nicht mehr eine Grenze zwischen drinnen und draußen, zwischen Stadt und Umland, im Alarmfall zwischen Freund und Feind - heute liegt er inmitten der größer gewordenen Stadt. Diese ist seitdem über den engen mittelalterlichen Kern hinausgewachsen, hat die alten Stadtmauern überflüssig gemacht, die Schanzenbauwerke aus Faulhabers Zeit, den Festungsgürtel einer späteren Epoche, und hat sich weit ins Umland ausgebreitet. Das alte Torhaus ist nicht mehr ein Bollwerk gegen den Feind und ein sperrbarer Eingang in die schutzbietende Siedlung, es ist ein Relikt aus einer versunkenen Epoche, der Rest eines Mauerrings, der sich in der darüber hinaus gewachsenen Stadt als historisches Bauwerk erhalten hat. Jedoch bildet dieser noch immer eine Grenzlinie im Stadtgrundriss, trennt kleine Häuschen auf schmalen Parzellen von großzügig angelegten Gründerzeitstraßen, trennt den Stop-and-go-Verkehr der in Stoßzeiten überlasteten Durchgangsstraße von den fast dörflich anmutenden kleinen Gässchen und idyllischen Hinterhofwinkeln des am Tor liegenden Viertels, dessen Straßenzüge und -namen noch dieselben sind wie zu den Zeiten Faulhabers, so dass dieser sich wohl auch heute noch in ihnen zurechtgefunden hätte.
Die Stadt hat sich an diesem Ort erhalten und doch gleichzeitig vielfältig und durchgängig verändert. Die gesamte Stadt hat sich verändert. Und einen großen Anteil an dem heutigen Zustand hatte das feurige Bombardement, welches doch noch über die Stadt gekommen war, weit schrecklicher und umfassender als es sich Faulhaber in seinen heftigsten Zerstörungsfantasien je hätte ausmalen können, infernalischer als es zu seiner Epoche mit den gegenüber unseren Mitteln doch recht bescheidenen technischen Möglichkeiten des Tötens und Zerstörens durchführbar gewesen wäre.
Doch auch dies ist ebenso ein vergangenes Kapitel der Geschichte, wenn auch ans Heute durch Erzählungen von Zeitzeugen angeschlossen, wie sie mir selbst noch als Stimmen meiner Großmutter, meines Vaters oder meiner Mutter gegenwärtig sind, die von damals berichten. Die ruinierte Stadt wurde wieder erneuert. Die Trümmergrundstücke von einst sind verschwunden, in denen ich noch als Kind umher geklettert bin, trotz der Warnung vor Blindgängern, die vielleicht noch unter den Schutthügeln liegen könnten, bisher noch nicht entdeckt und zur Explosion bereit. Auch die mir unheimliche und gleichzeitig verlockende Ruine des alten Zeughauses nahe der Mauer ist als rekonstruiertes historisches Gebäude wieder auferstanden, es steht jetzt als Erinnerungsmal für die Vergangenheit da, einschließlich jenes Zeitabschnittes, der für Faulhaber Gegenwart war. Als Ingenieur für Festungswesen und Kriegshandwerk ist er hier ein- und ausgegangen, vorsorgend zur Verteidigung seiner Stadt beitragend. Und an den aufgetürmten Kanonenkugelpyramiden des Arsenals mag ihm seine Grundeinsicht über die dreidimensionale Struktur der Pyramidalzahlen, die in seinem Leben eine so gewichtige Rolle gespielt haben, zuerst und anschaulich aufgegangen sein.

Es war nicht die Ruine und nicht das wiedererrichtete Gebäude, welche mich zu dem Ingenieur und Festungsbaumeister Faulhaber führten, diese Verknüpfung stellte sich später erst her, es war ein 1915 in einem Ulmer Verlag erschienenes Buch, die "Chronik von Ulm", in dem ich auf den Rosenkreuzer Faulhaber stieß, welches mein Interesse an ihm weckte. Mit dieser Chronik ist für mich jedoch oft auch ein Anflug von Trauer verbunden, sie steigt auf, wenn ich das Buch in die Hand nehme, nicht jedes Mal, aber doch wie ein halbbewusstes Begrüßungsritual, das ihm zugehört - ich werde an die Umstände erinnert, unter denen es in meinen Besitz übergegangen ist. Es war Teil eines Bücherstapels, den ich eines Nachmittags, in einen kleinen Rollkoffer gepackt, aus der verstaubten und verschlissenen Wohnung meiner eben verstorbenen Tante herausgetragen habe. Mein Erbe sozusagen, welches ich aus dem Chaos einer Wohnungsauflösung gerettet habe, ausgewählt durch Zufall und Neigung - aus einer Vitrine buchstäblich vor meine Füße gefallen und als mitnehmenswert eingeschätzt.
Ihr Ende war nicht schön gewesen - vielleicht gibt es in Wirklichkeit ja keinen schönen Tod - sie starb im Krankenhaus, eine Woche nachdem man sie entkräftet und halb dehydriert auf dem Boden ihres Schlafzimmers entdeckt hatte. So hatte sie dort schon einige Tage gelegen, unfähig wieder aufzustehen, nachdem sie neben das Bett gefallen war. Gegen die Kälte hatte sie sich mit Zeitungspapier bedeckt, aus den Stapeln herübergezogen, die in Reichweite ihrer geschwächten Arme um das Bett aufgetürmt gewesen waren. Eine winzige alte Frau, schon im Leben zusammengeschrumpft und im Verschwinden begriffen, nun fast nicht mehr sichtbar unter dem Papierhaufen: Die schließlich doch von den Nachbarn alarmierten Polizisten, welche die Wohnung durchsuchten, übersahen sie beinahe.

Uringestank und Papierchaos waren noch da, als ich das Zimmer durchstöberte; ich kam mir wie ein Leichenfledderer vor. Doch die Wohnung musste geräumt werden, und alles, was nicht als wertvoll und Erinnerungswert mitgenommen wurde, wanderte in den Müllcontainer. So wird schließlich vieles, was ein Leben ausgemacht hat zum bloßen Abfall, unverständlich und nicht mehr dechiffrierbar für die Nachfolgenden, die nicht die Erinnerung der Toten besitzen und nicht wissen können, was die hinterlassenen Dinge diesen bedeuteten. Was steckt hinter dieser Notiz, um was geht es in dieser Zeichnung, wer ist auf diesem Foto und wo wurde es aufgenommen? Vergessen und bald nicht mehr vorhanden...
Andererseits werden Informationen und Gegenstände auch weitergereicht, von einer Generation zur anderen, wenngleich sie dabei an Informationsdichte verlieren, bilden Schichten und Ablagerungen von einst Gewesenem, an denen sich die Nachkommenden noch immer orientieren können. Auch die Chronik war auf diese Weise an meine Tante weitergegeben worden, sie stand vergessen in einer Buchvitrine, die seit dem Tod meiner Großmutter wohl nicht mehr benutzt worden war, so wie die Wohnung insgesamt über Jahrzehnte eher ein Memorial war, als ein Ort lebendiger Nutzung: Nur das Zimmer meiner Tante wurde bewohnt, der Rest schlief vor sich hin und verfiel.
Wenn Hinterlassenschaften schon nach einer Generation zum Rätsel werden können, wie erst, wenn einige weitere dahingegangen sind - dann wird das Erbe zu einem historischen Relikt, in das Abstraktum Geschichte einzuordnen, getrennt von uns nicht nur durch die inzwischen vergangene Zeit, sondern oft auch durch einen eingetretenen Wechsel der Mentalitäten.

Auf einen solchen Epochenschnitt des Mentalitätenwechsels bin ich durch den Hinweis auf das Rosenkreuzertum des Johannes Faulhabers aufmerksam geworden. Der Wechsel wird wie im Schlaglicht markiert durch eine Episode im Leben Faulhabers, in der sich die Genese einer neuen gedanklichen Ausrichtung gleich einem Realsymbol darstellt: in der Begegnung zwischen ihm und René Du Perron, einem jungen, dreiundzwanzigjährigen Franzosen, der sich ihm unter dem Pseudonym Polybius vorgestellt hatte, später bekannt und berühmt geworden als René Descartes.
Diese Konstellation war für mich der Anreiz, mich näher mit den Umständen des Zusammentreffens zu beschäftigen. Und die daraus folgende Entdeckung, dass das scheinbar so weit in der Vergangenheit Liegende doch viel mit mir selbst zu tun hatte, weckte noch mehr mein Interesse: Nicht nur die Örtlichkeiten waren mir vertraut, wenn sich auch vielleicht nur der Namen erhalten hat, der Ort selbst ein völlig anderer als damals geworden war, auch die Personen, denen ich dabei begegnete, schienen mir so fremd nicht. Ich wusste auf einmal, wie viele Fäden, die meine eigene Lebenstextur wirken, sich bis in diese Zeit (und weiter noch) zurückverfolgen lassen: Bei allen Abbrüchen waren wir doch noch immer in dasselbe Gewebe miteingewoben, welches Mentalität, Sitte, Umstände, Geschichte, Ideen und Gedankenformen kontinuierlich produzierten - wie lange in die Vergangenheit reichend und wie weit wohl in die Zukunft?

Das einst deutlich sichtbare, betastbare Gesicht einer realen Person löst sich im Fortgang der Zeiten auf, verschwimmt und kaleidoskopiert in unzählige Facetten, zersplittert in Fragmente und wird zu einem Gerücht, welches weitererzählt wird und sich dabei von Mund zu Mund verändert. So auch das Weiterleben eines Menschen in Texten, die sich wie von selbst generieren und in die verschiedensten Archive ablagern, ein Sediment bildend, und auf diese Weise Teil unseres überlieferten kulturellen Gedächtnisses werden. In diesem Sediment wollte ich eine Grabung vornehmen, einen versuchsartigen archäologischen Stichgraben legen, der die einst gewesenen Personen finden und sie wieder ans Tageslicht bringen soll.
Es ist eine Situation, um die es dabei geht: Eine Begegnung zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann am Vorabend eines bald in Kampfgeschehen ausbrechenden, sich lange hinziehen werdenden Krieges
- ein sich Abtasten zweier unterschiedlicher Zugangsstrategien zur Wirklichkeit
- eine vergehende Epoche und eine neu aufkommende, deren Ausläufer noch immer bis in unsere Gegenwart reicht.

(Ende Leseprobe)

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