GNOSISROMAN: HELENA
Inhalt:
Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog
Ruin
Gestern habe ich zufällig und ungewollt ein Gespräch belauscht, das mich noch immer beschäftigt; vor allem diese beiläufige Bemerkung des einen der beiden Männern, die am Nachbartisch saßen, einen Sandwich vor sich und mit offensichtlich zu wenig Zeit, um in ihrer Mittagspause in Ruhe eine warme Mahlzeit auszukosten - in Gedanken schon längst wieder bei der Arbeit, drüben über der Strasse, hinter einer der in den Himmel aufsteigenden Glasfassaden des Finanzviertels.
"Damals konnte jeder Niemand Geld machen," sagte der Jüngere der beiden, "es war viel zu leicht, heute schaffen es nur die cleversten, coolsten; wer jetzt etwas verdient, hat es auch verdient."
Dieser Satz hat mich getroffen. Ich war ein solcher Niemand gewesen. Ich hatte Geld gemacht, viel Geld. Was ich aber damals nicht wahrhaben wollte: Es war mir zugefallen, in Wirklichkeit hatte ich mich nie richtig darum bemühen müssen, eine Woge war da gewesen, ein Sog, ich hatte mich ihm völlig überlassen (und das manchmal am Tag 18 Stunden lang) - ich wurde getragen wie alle anderen und dachte, dass ich es sei, der sich auf Kurs hielt. Bis die Woge sich erschöpfte, das sich selbst stimulierende System in sich zusammenfiel und mich mit vielen anderen an eine sandige Untiefe anspülte. Schiffbruch. Den Weg zurück in diese Art Existenz habe ich nicht mehr gefunden. Es war mir klargeworden, dass ich eine Epoche abgeschlossen hatte und auf Neues aus war. Aber dieses Neue hat sich bis jetzt nicht eingestellt. Oder doch? Bin ich nicht schon mittendrin? Ist das, was ich angefangen habe, nicht schon das Neue, um das es geht?
Ich hatte mich geirrt als ich dachte, das Geld, das ich wie selbstverständlich einnahm, kam mir deswegen zu, weil ich clever und tüchtig war, kam mir zu durch ein persönliches Gut-Sein, durch meinen eigenen Verdienst, neben dem vielleicht zufälligen Glück, zur günstigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein - was aber andererseits vielleicht doch nicht ganz Zufall, sondern auch etwas Individuelles war, man sich durchaus selbst zuschreiben konnte, wie etwa eine Charaktereigenschaft oder eine Begabung. Ich verdankte es nicht meiner Tüchtigkeit, dass ich oben schwamm, genauso wenig, wie ich es meiner Untüchtigkeit verdankte, dass ich unterging. Und auch dieser junge Banker am Nebentisch ist nicht der Schöpfer seines Erfolges, auch wenn er sich selbstbewusst als solcher sieht, der sich über die anderen, nicht ganz so cleveren, erhebt, sie überflügelt - seine selbstverständliche Privilegiertheit ist Teil eines allgemeinen, fast mechanischen Spiels der Wirtschaft und der Kapitalbildung, dem er sich überlassen hat und das ihn bestimmt - sein Verdienst ist das eines guten Spielers, der die Spielregeln beherrscht und gleichzeitig von ihnen beherrscht wird.
Aus diesem Treiben war ich hinausgeworfen worden, war unfreiwillig ausgeschieden, aber jetzt, einmal draußen, wollte ich nicht mehr zurück. Ich wollte das Eigentliche in meinem Leben finden. Etwas, was wirklich zu mir gehört. Etwas, was mich ausmacht und dem ich auch vertrauen kann - das Gegenteil des Lebensgefühls in der Zeit des erfolgreichen Mitnehmens, in der die untergründige Angst des auf einem Hochseil Balancierenden, der in Wahrheit genau um die Gefährlichkeit seiner Situation weiß (auch wenn er das Wissen beiseite schiebt, die Augen davor verschließt), mich stets begleitete.
Ich bin nicht auf der Straße gelandet, wie einige, über deren Schicksal ich in der Zeitung gelesen habe, doch der unbekümmerte Umgang mit Geld und den Möglichkeiten, die man mit noch mehr Geld hat, ist aus meinem Leben verschwunden, ich bescheide mich mit dem, was mich einigermaßen durchbringt und stelle mich darauf ein. Gott sei dank hatte ich einen Teil meines Geldes nicht nur in Aktien und Optionen investiert, sondern, als besonderes Schnäppchen von einem Bekannten angepriesen, ein etwas heruntergekommenes Gebäude im alten Hafengelände erworben, das ich herrichten und verkaufen oder vermieten wollte. Nach dem großen Knall, mit dem die aufgeblähte Spekulationsseifenblase zerplatzte, ist diese Immobilie fast das Einzige, was mir aus der ganzen Geschichte geblieben war - ein halb renoviertes Haus in einer Gegend, die erst allmählich anfängt, sich zur bewohnbaren Zone zu entwickeln.
Immerhin fanden sich Mieter; der Ertrag davon (wenn die Leute genügend Geld haben, pünktlich zu überweisen) bringt mich über die Zeit - und erspart mir eine demütigende, schlecht bezahlte Arbeit am unteren Ende der Erwerbsgesellschaft. Meinen Mietern geht es nicht anders als mir - sie sind auf einen verständnisvollen Hauseigentümer angewiesen, ich auf ihren guten Willen, das mir Zustehende aufzubringen und irgendwie ihre Schulden auszugleichen, und bis jetzt funktioniert dieses Arrangement leidlich.
Das Haus steht allein für sich, noch verloren im städtebaulichen Brachland (beim Kauf wurde mir versichert, dass die ganze Gegend vor einer Renaissance stehe, eine Generalplanung wäre vorhanden, eine Neubebauung beschlossene Sache...), ein schmales, dreigeschossiges, schmutzigbraun-rotes Ziegelgebäude, ehemals Büro und Speicher, nun als veredelter Rohbau vermietet; drei loftähnliche Appartements, nicht ganz so großzügig, wie man sich eine Loft vorstellt, aber ohne Zwischenwände, mit nur einer einzigen Tür, dem Eingang zur Wohnung. Bevor ich den Umbau wegen Geldmangels einstellen musste, hatte ich noch die Elektrik verlegen, Toiletten, Wasserleitungen und Waschbecken installieren und, wichtig in dieser Gegend, eine Sicherheitstür mit einer kameraüberwachten Gegensprechanlage einbauen lassen.
Für den weiteren Ausbau, auch für die Wände, fehlten dann die Mittel, es blieb den Mietern überlassen, was sie daraus machen wollten - oder konnten. Je nach Mentalität bauten sie eine Duschkabine ein oder setzten eine Wanne mitten in den Raum, zogen Wände um ihren Toilettensitz oder auch nicht, installierten Spüle und Küchenherd nach Belieben. In der obersten Wohnung, der des Malers, steht bis heute die Kloschüssel unabgeschirmt in der Ecke des Wohn- Ess- Schlaf- Arbeitsateliers (oder sollte ich besser sagen: Gerümpelspeichers?), die Badewanne statt Spüle frei neben dem Herd. Aber dieser ungesellige, in seinem Materiallager verschanzte Einsiedler ist mein pünktlichster Zahler und treuester Mieter, um die anderen Wohnungen musste ich mich mehr kümmern, vor allem die Wohnung im Erdgeschoss ist zu einem Durchgangsheim für merkwürdige Menschen geworden, die jeweils als Gäste, Mitbewohner, Untermieter, schließlich zahlende Hauptmieter in wechselnden Rollen auftreten.
Und als eine von solchen Mitbewohnern sah ich Ellen das erste Mal. Ich stand als fordernder, autoritärer Typ vor ihr (so interpretierte sie meinen Part als Vermieter: ein Geldeintreiber), sie war für mich nicht viel mehr als ein Schatten im Hintergrund, kaum wahrgenommen. Denn ich hatte eine Auseinandersetzung mit dem Mann, in dessen Wohnung sie eingezogen war. Es ging, wie üblich, um die rückständige Miete. Plötzlich sagte er:
"Sie wird bezahlen", und zeigte in Richtung Sofa, auf dem eine mir unbekannte Person saß, die mich ablehnend musterte. Ich würde gerne sagen können, das von diesem Moment an alles anders war, der Raum größer, das Licht strahlender, dass der Augenblick ins Zeitlose gefror und als Ewig stehen blieb - aber leider verpasste ich dieses Erste-Augenblick-Erlebnis.
Ich sagte nur knapp "Okay, bis morgen Abend", drehte mich um und verlies die Wohnung, innerlich wütend über die Arroganz des Mieters, der nicht bezahlen konnte oder wollte und mich als engstirnig-bürgerliches Subjekt behandelte, welches ihn mit Bagatellen wie diese belästigte.
Ich hatte noch nie jemanden aus der Wohnung geworfen, auch wenn die Miete länger als üblich ausblieb, weil ich verstand, wenn mir jemand seine Situation erklärte und ich die vertrackte Lage, in die er im Moment geraten war, nachvollziehen konnte - wenn wir darüber redeten und ich sah, dass er gerne wollte, aber nicht konnte. So waren Mieter vor diesem gewesen, so war ich zu ihnen gewesen - auch wenn ich manchmal den Verdacht hatte, dass ich angeflunkert worden war - egal, ich akzeptierte die Geschichte, den guten Willen und das Versprechen auf bald... In diesem Fall spürte ich aber nur, dass mich jemand offen ausnutzen wollte, meine Schwäche, wie er es sah, meine Gutmütigkeit. Mein Unvermögen, zu harten Maßnahmen zu greifen, meine Hilflosigkeit in einer solchen Konfrontation. Ich spürte Überheblichkeit, Dreistigkeit und die Überzeugung, das Recht des Überlegenen auf seiner Seite zu haben.
Ellen war es, die mir am nächsten Abend die Tür öffnete und mich einlud, hereinzukommen. Sie war offensichtlich bemüht, den schlechten Eindruck von gestern vergessen zu machen, indem sie mir nicht nur einfach einen Umschlag mit dem ausstehenden Geld in die Hand drückte, sondern fragte, ob ich einen Tee oder sonst etwas zu trinken haben möchte und leichthin ein Gespräch anfing.
Ich sah ihr gerne zu, wie sie das Wasser aufsetzte, die Tassen hinstellte und dann das sprudelnde Wasser über die Teebeutel goss; ihre Hände waren schlank und feingliedrig, jeder einzelne Finger sollte geküsst werden - dachte ich plötzlich, als ich deren Bewegungen folgte. So abrupt, wie mir dieser Gedanke gekommen war, so schnell verdrängte ich ihn als nicht korrekt, wie wenn ich es tatsächlich getan hätte und mich verwirrt vor ihr rechtfertigen müsste. Aber mit diesem Gedanken war ein ganz anderes Hinschauen verbunden: Ich sah sie an und bemerkte eine ausnehmend schöne und harmonische Frau, ein schmales, klares Gesicht, jetzt ein wenig verdeckt durch langes, blondgesträhntes Haar, das ihr beim einschenkenden Vorbeugen nach vorne gefallen war und mit einer beiläufig unbewussten, fließenden Bewegung zurückgestrichen wurde, während sie mit der anderen Hand den Teekessel hielt. Sie blickte auf, blickte mich an, irgendetwas an meinem Schweigen musste ihr aufgefallen sein, verlegen lächelnd nickte ich ihr zu, sagte "danke" und überließ ihr wieder die Fortführung des Geplauders, das noch ein wenig vor sich hin dümpelte, bevor ich aufstand, mich noch einmal bedankte und ging.
Ihr Freund war der Grund, warum ich lange Zeit eine weitere Begegnung vermied, ich wollte so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben, hatte ein fast schon physisch gewordenes Vorurteil gegen ihn aufgebaut, eine Abneigung, die sich als Versteifung meiner ganzen körperlichen Haltung, als armverschränkte Abwehr ausdrückte. Später erfuhr ich von ihr Dinge über ihn, die dieses Vorurteil in meinen Augen mehr als bestätigten, mir das Gefühl gaben, ihn richtig eingeschätzt zu haben. Aber sie selbst war jemand, den ich immer gerne traf.
**
Den Maler hielt ich bei unserem ersten Zusammentreffen für einen der Penner aus den südlichen Stadtteilen, den die immer schroffer auftretende Polizei von dort vertrieben hatte. Er stand im trockenen Eingangsbereich, geschützt vor dem aufkommenden unangenehm kalten Nieselregen, und wartete auf mich, wie wir in unserem kurzen Telefongespräch zuvor ausgemacht hatten, zum verabredeten Zeitpunkt, aber ich dachte, er sei jemand, der einen Unterschlupf gesucht und gefunden hatte und sich zufällig dort aufhielt. Er war groß und kräftig, sein fülliger Bauch wölbte das kurzärmelige, blumige Hawaiihemd; Shorts, bloße Füße in Sandalen, zottige graue Haare und ein ebenso grauer Weihnachtsmann-Bart stellten ihn, als Hippie in den 60er-Jahren verblieben, im kalten Herbstregen noch die längst vergangene Hitze des Sommers demonstrierend, irgendwie außerhalb von Zeit und Gegenwart. Er war es, der mich begrüßte und sich als meinen zukünftigen Mieter vorstellte.
Ich glaube nicht, dass ich ihm meine eigene Wohnung überlassen hätte, aber dort draußen, im nur notdürftig restaurierten ehemaligen Lagerhaus, im tristen, regentrüben Licht, welches eine verrottete Umgebung mehr ahnen ließ als ausleuchtete, schien es mir fraglich, ob ich überhaupt jemanden finden würde, der ohne große Ansprüche - die ich nicht mehr erfüllen konnte - das Appartement, so wie es war, akzeptierte oder sogar bereit war, zur Wohnlichmachung Geld und Zeit zu investieren. So wurde er tatsächlich mein erster Mieter und, wie gesagt, der unproblematischste und beständigste.
Es war schwer, mit dem Maler ins Gespräch zu kommen, Tag und Nacht schien er am Arbeiten, versunken in sein Werk, aber seine Bilder interessierten mich, nach dem flüchtigen Blick, den ich auf sie werfen konnte, bei meinem anfänglichen Höflichkeitsbesuch, der sich jedoch nicht wiederholte; ihn brauchte ich ja nicht daran erinnern, dass es mich noch gab, er überwies die Miete pünktlich, im Gegensatz zu der untersten Etage, deren wechselnde Bewohner ich öfters durch unvermutetes Auftauchen auf die überfällige Zahlung hinweisen musste.
Einmal gab er mir jedoch die Ehre einer Einführung in sein Werk (und es war wirklich eine Auszeichnung: Normalerweise blockte er schroff jeden neugierigen Blick darauf ab) - und beeindruckte mich damit. Seine Bilder wirkten zwar nicht sehr originell, in der Art der mittleren Epoche Pollocks etwa, aber genau wie bei diesem stellte sich der Eindruck eines Geheimnisses ein, je länger man vor dem Bild stand und sich damit beschäftigte.
Sein Atelier war vollgestellt mit Leinwänden, gegen metallene Industrieregale dicht an dicht gelehnt, die Materiallagern glichen: Federn, Wurzeln, Stöcke, Kieselsteine, rostige Eisenteile, Fundstücke jeder Art und Größe enthielten, alte, ausgetrocknete Farbeimer, Terpentinkanister, Sprühdosen, farbverschmierte Kittel oder Lappen (oder etwas, was beides war), Holzschemel, farbbekleckst, ausgeschraubte Glühbirnen, jedes vorstellbare Werkzeug; ein Sammelsurium eben, wie es sich ergibt, wenn man alles, was einem in die Finger gerät, für Wert hält, irgendwann im Produktionsprozess verwendet zu werden und es bis dahin irgendwo ablegt und verkramt.
Ich zwängte mich durch die Zwischenräume, die eine Art Schneise offen hielten; die Toilette stand, wie schon erwähnt, unabgeschirmt im Weg, man musste sich an ihr vorbeidrücken, um an die einzig freigehaltene Stelle nahe der zwei großen Fenster zu kommen, wo es möglich war, Bilder aus einigem Abstand zu betrachten. Hier zeigte er mir fünf oder sechs seiner Werke, dasjenige, an dem er gerade arbeitete, stand verhüllt auf der Staffelei, er überging es stillschweigend. Ein Bild beeindruckte mich besonders: In einem wirren, chaotischen Gekritzel von blauen, schwarzen und grün-grauen Pinselstrichen, nur wenig aufgehellt durch gelbe und rötliche Farbtupfer, konnte man, wenn man sich darin vertiefte, ein maskenhaftes Gesicht erkennen, den angedeuteten Körper einer Frau, die sich, wenn einmal entdeckt (oder hineingelesen), unabweisbar aufdrängte, Macht über den Blick gewann: Ein Vexierbild der magischen Art.
"Das hier ist die Göttin der unterirdischen Wasser, eine Freundin hat das Bild so genannt..."
Andere Gemälde hießen: Parmenides, Der Schamane, Der Öffner der Wege, Durchbruch zum Hades, und ein kleineres Format, in rot-violetter Grundstimmung flächig angelegt, mit schwarzen, goldenen und tiefblauen Pinselschwüngen dynamisch bearbeitet, nannte er: Innewerdung. Schaute man es eine Zeitlang an, sah man plötzlich zwei Gesichter, die sich anblickten oder gegenseitig spiegelten, das abstrakte Tableau ordnete sich zu einem symbolisch-gegenständlichen Sujet. Es gefiel mir, spontan fragte ich ihn, ob er seine Bilder auch direkt verkaufen und wie viel er für dieses verlangen würde...
Nach einer für mich peinlichen Pause meinte er, er würde es sich überlegen und könne mir in nächster Zeit Bescheid geben, war aber anscheinend nicht sehr daran interessiert, zu Geld zu kommen.
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Der Kontakt zu meinen Mietern war zwar kein nur geschäftsmäßiger und gleichgültiger, aber ich hielt ihnen gegenüber doch einen eher distanzierten, förmlichen Umgang ein, wollte meine Position nicht ausnutzen, mich dort aufzudrängen, wo ich so offensichtlich abgewehrt wurde wie von dem Maler - mit der einen Ausnahme - der in schroffer Unhöflichkeit seine Eremitenexistenz weiterhin verteidigte, oder höflich-unverbindlich auf Abstand gehalten wurde, wie auch von Ellen, die mein deutlicher werdendes - aber nicht zu deutlich gezeigtes - Interesse an ihr mit einem freundlichen Schweigen überging. Das änderte sich an dem Tag, an dem sich für jeden von uns etwas änderte.
Als mein Handy seine Alarmmelodie (ich nahm mir wieder einmal vor, den Klingelton zu wechseln) jazzte und ich auf den Annahmeknopf drückte, wusste ich im ersten Augenblick nicht, wessen Stimme - sie kam mir vage bekannt vor - irgendetwas von einem Notfall erzählte, bis ich über die Stichworte Haus und Schlüssel und untere Wohnung den Maler identifizierte, der mich bat, mit einem Zweitschlüssel die Wohnung im Erdgeschoss aufzuschließen, da etwas nicht stimmte. Es war schon spät in der Nacht, da es aber dringlich klang, machte ich mich sofort auf den Weg.
Er wartete auf mich im Treppenhaus vor der Wohnungstür, nickte nur mit dem Kopf in deren Richtung, sagte dann: "Hören Sie?", und schwieg, während ich mich auf die Situation einzustellen versuchte und meine Wahrnehmungen sensibilisierte. Tatsächlich hörte ich etwas: Eine Art schrilles Juchzen oder Schluchzen, nicht eindeutig einzuordnen, dann langgezogenes Stöhnen, dazwischen Geplapper und immer wieder dumpfklingendes, rhythmisches Schlagen mit irgendwas auf irgendetwas. Von dem, was da vor sich ging, konnte ich mir kein rechtes Bild machen, aber etwas stimmte wirklich nicht, wie der Maler gesagt hatte, und so öffnete ich die Tür und wir betraten beide das Appartement.
Dort fanden wir Ellen, auf dem Boden kauernd, mit dem Rücken an der Wand, halbnackt, nur mit einem T-Shirt bekleidet (meine Augen suchten wie von selbst das enthüllte Geheime zwischen ihren Beinen, magnetischer Anziehungspunkt, sogar in einer solchen Situation), die immer wieder ihren Hinterkopf mit voller Wucht gegen die Wand hinter ihr schleuderte, dabei ein klagendes Wimmern von sich gebend, ein verzweifeltes Stöhnen, das sich halb nach Lust, halb nach Schmerz anhörte. Neben ihr lag eine leere umgefallene Whiskyflasche, ein Rest Whisky, nicht sehr viel, in einer Lache ausgelaufen davor. Meine erste instinktive Reaktion war, meine Hand zwischen ihren Kopf und die Wand zu halten, um den Schmerz (den sie aber nicht zu spüren schien) zu mildern, sie abzuhalten, sich selbst zu schaden; dann aber packte ich sie mit beiden Händen fest an den Schultern, sprach beruhigend auf sie ein, oder wollte es wenigstens, doch sie war weit weg vom Hier, meine Worte erreichten sie nicht, machten für sie keinen Sinn. Da sie nicht aufhörte, sich selbst zu verletzen, rief ich ihren Namen und gab ihr gleichzeitig eine Ohrfeige, herrschte sie an, damit Schluss zu machen.
Verblüfft schaute sie zu mir hoch, fragte mit erstaunlich beherrschter, klarer Stimme: "Wer bist denn du? - hilf mir bitte aufzustehen, ich will ins Bett" - bevor sie wieder abdriftete und nur noch wimmerte, jetzt nicht mehr heftig stöhnend, sondern wie ein kleines Mädchen schluchzend.
Zu zweit schafften wir es, sie auf ein Bett zu legen, das wie ein Monument in der Mitte des Zimmers stand, zuerst aber von Kleidern, Büchern und anderen Gegenständen freigeräumt werden musste, die nicht nur auf ihm, sondern im ganzen Raum wild durcheinander lagen, wie wenn jemand den Inhalt aller Schränke und Regale ausgeräumt und überall hin verstreut oder geschleudert hätte - was wahrscheinlich auch passiert war. Kaum auf dem Bett liegend, rührte sie sich nicht mehr, kein Stöhnen, kein Laut. Der Maler bot an, bei ihr zu bleiben und aufzupassen, dass sich das Ganze nicht wiederhole, ich war ihm dankbar dafür, versprach, am Morgen oder Mittag wiederzukommen, wenn sie ausgeschlafen und ansprechbar war und wir mit ihr über das, was vorgefallen war, reden konnten, falls sie es wünschte.
Es war schon Mittag, als ich dazu kam, nach oben zu fahren (wie selbstverständlich in meiner inneren Landkarte Norden immer oben ist), um nachzusehen, wie es Ellen ging. Sie lag noch im Bett, der Maler war bei ihr.
"Der Guru ist verschwunden", sagte er. Ich hatte nicht gewusst, dass er ihn auch so sah wie ich, für mich hatte ich ihn immer so genannt, aus einer antipatischen Einstellung gegenüber allem Guruhaften.
"Das ist nicht weiter schlimm", meinte er, "eher gut, aber er hat ihr Konto geplündert, alles gestohlen, was sie besaß."
Sie lag da wie erstarrt, doch die Augen geöffnet, nicht schlafend. Langsam lief aus ihrem Augenwinkel ein einzelner Tränentropfen die Wange entlang. Lautloses Weinen. Mit der Rückseite meines Zeigefingers strich ich über die Tränenspur, sie trocknend. Eine neue Träne erschien. Was sollte ich sagen - Alles nicht so schlimm? Alles wird gut? Es gibt schlimmeres? - Weinte sie um ihr Geld? Um ihr Verlassensein? Um einen Verrat? Ich schwieg. Und strich mit meinem Handrücken über ihr Gesicht, zart, fast ohne sie zu berühren.
Hatte ich gehofft, durch dieses Erlebnis mit Ellen enger verbunden zu sein, so wurde ich enttäuscht. Meine Rolle bei ihrer "Rettung" war ihr völlig entgangen, sie erinnerte sich an nichts von dem, was sich in der Nacht abgespielt hatte. Nur daran, dass sie nach ihrem bewusst erzwungenen Absturz in den Vollrausch (sie hatte sich vorgenommen, sich durch eine Überdosis Alkohol zu vergiften), in der Obhut des Malers aufgewacht war, der sich um sie kümmerte, ihr Tee brachte, Kopfwehtabletten besorgte, sie in ihrem Elend nicht alleine ließ. Aber mehr als das, was er mir mitgeteilt hatte, erzähle sie ihm auch nicht, es dauerte einige Zeit, bis sie sich dazu überwinden konnte.Zu tief war sie getroffen, zu schmerzlich.
Ich schaute noch ein paar Mal vorbei, mich zu vergewissern, dass mit ihr alles wieder in Ordnung war, wollte mich als um sie Besorgter deutlich machen, bemerkte aber bald, dass der Maler schon diesen Platz besetzt hielt. Sie blieb in ihrer Wohnung, er in seiner, aber ich hatte früh den Verdacht, dass sie anfingen zusammenzuwohnen, so selbstverständlich konnte man sie Tag und auch Nacht beisammen finden. Als ob sie aus dem Leben mit dem Guru übergangslos in ein Leben mit dem Maler gewechselt wäre. Doch meine eifersüchtige Vermutung (ich muss es zugeben: Ich war eifersüchtig) traf nicht zu: Sie waren kein Paar im üblichen Sinn, hatten kein sexuelles Verhältnis miteinander, keine Lebenspläne füreinander, gaben sich nur die Hilfe und die Wärme, die sich zwei Menschen geben können, die eng miteinander verbunden sind. Aber auch meine Beziehung zu ihr - und zu dem Maler - war eine andere geworden. Nicht so, wie ich es erhoffte, aber so, dass ich mich in eine vertrauter werdende Freundschaft eingebunden sah, die sich allmählich zwischen uns Dreien entwickelte.
Weiter nächstes Kapitel: Ellen/Der Maler