Architexxt



HELENADREIECK
(novel under construction)


Inhalt:

Prolog + Johannes + Ellen + Magnus + Der Engel der gescheiterten Hoffnung



Prolog

Jetzt kommt es auf das Timing an. Timing ist alles. Ich weiß ja, was geschehen wird. Wie es geschehen wird. Brauche mich nur zu erinnern. Brauche nur zu wiederholen, was ich erlebt habe. Es zu wiederholen, damit ich es erleben werde. Verwirrung. Wieso glaube ich, etwas Geschehenes in Wiederholung geschehen lassen zu können? Wieso glaube ich, dass schon geschehen ist, was ich erst noch veranlassen will? Der Grund entzieht sich mir, mir schwindelt, mir scheint ich falle, stopp, gib mir Halt, alles auf Anfang: Timing ist wichtig. Die Abfolge ist wichtig. Es gibt fast keinen Spielraum im ineinander verschränkten Ablauf, kein so oder so im Zufall wäre zulässig, auf den Zufall kann ich mich nicht verlassen, die Choreografie muss exakt eingehalten werden, ich selbst muss es einrichten, jetzt, da es mir möglich ist. Wieso ist es mir möglich? Nicht darüber nachdenken, tun, ich kann es...

Der erste Schritt: Eine kleine Unaufmerksamkeit. Nein - das ist schon passiert: Der Reisekoffer wurde schon blindlings in die mit Kleidersäcken und Abfalltüten vollgestellte Küche gewuchtet, der Drehschalter am Herd wurde schon angestoßen und dadurch eingeschaltet, die umgefallene Plastiktüte auf der Herdplatte wird bald zu glimmen anfangen. Noch sitze ich ahnungslos im Badezimmer nebenan und schminke mich und bereite mich auf meinen Termin mit Johannes vor.
Als erstes muss ich bewirken, dass Johannes und Magnus zum richtigen Zeitpunkt dort sind, wo ich sie brauche, nicht anderswo. Johannes darf nicht zu früh anrufen, sonst ist er mit mir im Apartment während das Feuer sich ausbreitet, wir sind mit uns beschäftigt, bemerken es zu spät und sind im Zimmer gefangen.
Magnus darf weder trödeln noch sich zu sehr beeilen, er muss genau in dem Augenblick aus der Tür des Treppenhauses treten, wenn ich dort nach ihm suche. Johannes muss verzögert werden. Kann ich die Ampel an der Kreuzung vor dem Haus auf Rot schalten? Den Motor seines Wagens abwürgen? Einen Langsamfahrer vor ihn setzen? Ich lasse ihn unschlüssig im Auto verharren und über seine Gefühle für mich nachdenken, während es ihn untergründig heftig danach drängt, auszusteigen, zum Handy zu greifen, meine Nummer zu wählen und mich anzurufen.
Magnus ist bei meinem Wagen angelangt, schließt die Tür auf, legt, wie mit mir verabredet, die Decke auf den Rücksitz und muss jetzt auch verlangsamt werden, damit er nicht verschwunden ist, wenn ich ihn brauche. Ach ja, ich habe fast den Hausmeister vergessen, er muss zu Hause sein, im Apartment nebenan, ungewöhnlich für sein freies Wochenende. Dafür ist es notwendig, in der Zeit zurück zu gehen, einige Tage, und ihn mit seiner Freundin streiten zu lassen.
"Zuviel Stress", wird er später zur Erklärung sagen, warum er diesmal lieber allein in seiner Wohnung geblieben ist und nicht wie sonst bei ihr war. Tut mir leid ihr beiden, aber das muss sein, ohne den Hausmeister wäre die Katastrophe nicht zu verhindern.

Jetzt erst bemerke ich etwas. Ein nicht deutbares Knistern hinter der Küchentür. Ein flackerndes, undeutliches Streiflicht durch den Spalt zwischen Tür und Estrich. Ich stehe auf, denke, ich habe vergessen, das Licht in der Küche auszumachen und will Johannes nicht dazu verleiten, sich darum zu kümmern - er liebt bei unseren Begegnungen das Dämmerlicht und stört sich an solchen Details wie Licht im Nebenraum - will nicht, dass er die Tür öffnet und mein Überforderungsraumkunstwerk in der Küche sieht. Er soll die vollgemüllte Abstellkammer nicht mitbekommen, zu der meine Küche inzwischen geworden ist, ich schäme mich dafür, doch war zwischen Terminen, Vorbereitung zur Reise, Reise und Rückkehr einfach keine Zeit zum Aufräumen, deswegen auch der hastige Akt des Hineinzwängens des schweren Koffers in den zugestellten Raum.
Ich schließe die Tür auf. Sehe etwas und begreife nicht, schlage aber instinktiv die Tür wieder zu. Feuer? In diesem Moment klingelt das Handy, Johannes sagt, er sei da. Ein absurder, zeitfressender Dialog hält auf:
"Ich kann! Dich nicht! Abholen, es brennt bei mir!".
"Bei mir brennt es auch, mächtig, ich muss zu dir kommen, bitte mache mir auf, ich stehe unten vor der Tür".
"Nein, es brennt! wirklich, ein wirkliches Feuer!".
Mehr als dieses Feuer fürchte ich den beschämenden Blick von Johannes, wenn er mein Mülldesaster sieht. Deswegen rufe ich ihn nicht zu Hilfe, sondern renne in Panik aus der Wohnung, einen einzigen Gedanken in meinem Kopf ständig wie automatisch wiederholend:
"Magnus! - Magnus muss mir helfen, er ist beim Auto in der Tiefgarage, er wird das Richtige tun".
Und tatsächlich, Magnus taucht genau dann aus der Tiefgarage auf, als ich dort am Treppenhaus ankomme (wie vorgesehen, wie vorgesehen - das Timing klappt!); er schaut zwar verblüfft und verständnislos als ich "Feuer!" rufe, "Es brennt! In meiner Küche!", doch er läuft mir voraus, öffnet die Küchentür und erstarrt, als eine Flamme plötzlich geräuschvoll höher schlägt und der kleine Flur sofort mit Rauch erfüllt ist.
Hilflos sind wir beide, wissen beide nicht was zu tun ist, er greift nach dem Brauseschlauch im Badezimmer nebenan und richtet einen kümmerlichen und zu kurzen Strahl auf den sich nun heftig entwickelnden Brand, die Flammenzunge kriecht die Decke entlang bis zur gegenüberliegenden Wand und fällt dort herab, der Rauch wälzt sich zurück zum Herd und wirbelt wieder aufwärts.
Doch Gottseidank kommt jetzt der Auftritt des Hausmeisters. Alarmiert durch den ätzenden Rauchgestank, der sich schon bis zu seinem Apartment ausgebreitet hatte, steht er plötzlich neben uns im Qualm und übernimmt das Kommando. Feuerlöscher holen, Feueralarm auslösen, Dusche abstellen, jemand ist da, der sich nicht so ungeschickt anstellt wie wir beide.
Ab jetzt läuft alles in sichere Bahnen, ich kann mich ausklinken, es weiter geschehen lassen, es ist geschafft.

Aber was passiert nun mit mir, der Schock wirkt noch immer nach, ich fühle mich wie im freien Fall, und warum schwebt mein Flurnachbar neben mir, ich dachte schon immer, er ist anders als die meisten, jetzt merke ich, er ist eine Art Engel, der mich hält und mir sagt:
"Ich sammle deine verlorenen Möglichkeiten ein, deine nichtrealisierten Lebenslinien, bewahre sie auf und gebe sie dir später wieder. Jetzt schlafe"
Bin ich in einem Traum? Ich kann mich noch, wie schon als Echo in der Ferne verhallt, an dieses irre Gelächter von Magnus erinnern, der in einer Ecke des verrußten Zimmers sitzt und mich nicht beachtet, während mich die Schockwelle des Geschehenen schließlich erreicht und ich den Drang in mir spüre, das Fenster zu öffnen und davonzufliegen.
Habe ich es getan? Stehe ich kurz davor? Bin ich ohnmächtig geworden und stürze auf den Zimmerboden zu? Falle ich ins Bodenlose? Die ganzen vergangenen Jahre und hinter dem Horizont noch weit mehr knäueln sich zu einem unentwirrbaren Knoten zusammen, ich möchte sie wieder entwirren und in eine ordentliche Reihe bringen, in eine Überschau, die mir meine Geschichte erzählend erklärt und mir den Sinn bringt, den ich brauche. Was geschieht?

Weiter nächstes Kapitel: Johannes