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Nach Ulm flüchten II




Die Kälte ist so groß, der Schnee so tief, dass das allein schon genügend Grund war, unterwegs aufzugeben und sich der Erschöpfung und damit dem Tod zu überlassen. Dem Schlafübergang in die Frostkälte, aus dem es kein Erwachen gibt. Manche zogen dies vor. Zogen es dem Gehetzt werden durch den Feind vor, der den endlosen Flüchtlingszug vor sich hertrieb. Wer nicht mithalten konnte, wer zurückblieb, wurde von den Panzern eingeholt und überrollt. Die Pferdefuhrwerke, vollgepackt mit Hausrat, waren zu schwerfällig, zu langsam, sie mussten zurückgelassen werden.
Die junge Frau zog abwechselnd mit ihrer Mutter den aus einem Backtrog improvisierten Schlitten, in dem ihr kleines Kind lag; außer diesem und dem, was sie in einer durchnässten Umhängetasche aus Stoff an Dokumenten und Erinnerungsstücken mit sich trug, hatte sie nichts mehr. Sie hatten das am Fluchtabend zuvor hastig auf den Wagen Aufgeladene im vorigen Dorf stehen lassen müssen, als die Nachricht kam, die einzige Brücke über den Kanal würde bald von den eigenen Soldaten gesprengt werden. Dann wären sie in der Falle gefangen, der heranrückenden Roten Armee ausgeliefert. Seit ihrem Aufbruch von zu Hause kam ihr alles wie ein Traum vor, ein Alptraum, sie konnte nur wie auf Zuruf reagieren, halten, wenn Halt gesagt wurde, weiter den Schlitten ziehen, wenn der Weg frei war.
Und nun war sie plötzlich in diesem Alptraum allein, stand verlassen im Flüchtlingsstrom: Ihre Mutter hatte zusammen mit ihr den Trog mit dem Baby auf ein Militärfahrzeug gewuchtet, war eingestiegen, sie selbst wollte im nachfolgenden Fahrzeug Platz nehmen, doch beide Lkws fuhren los, ohne auf sie zu warten, ebenso in Eile und auf der Flucht. Nun wurde alles wirr und verworren - doch der Tross nahm die Verzweifelte mit, sie lief weiter und weiter, immer in der selbsteingeredeten Hoffnung, ihre Mutter und ihr Kind noch einzuholen, es gab ja nur den einen Weg: über das Haff auf die Nehrung und dort nach Danzig. Und dann irgendwie durch oder über die Front nach Westen und schließlich nach Süden. Nach Ulm, wo sie bei der Familie ihres Mannes unterkommen konnte, einziger Zufluchtsort, der ihr einfiel. Eine weite Wegstrecke. Aber zuerst kam die Passage über das Haff.
Die klirrende Kälte der letzten Wochen hatte das Meer zwischen Festland und vorgelagerten Dünen zufrieren lassen, ein Glücksfall für die Flüchtenden, die sonst im Kessel der einmarschierenden Armee eingeschlossen gewesen wären. Das Eisfeld war riesig und eintönig, jedoch konnte sie sich auch auf sich alleingestellt zurechtfinden. Sie musste nur den deutlichen Hinweisen folgen, welche die Vorgänger hinterlassen hatten: weggeworfenes Gut, bis hierher geschleppt, dann aufgegeben, eingebrochene, halb versunkene Fuhrwerke, zu schwer für die Eisdecke, manchmal der erahnbare Körper eines Toten, schon mit Reif überzogen und schneebedeckt.
Sie ging allein, eine größere Gruppe fiel auf, fiel den Jagdflugzeugen auf, die immer wieder das Gelände im Tiefflug durchkämmten. Dann wurden Bomben abgeworfen, zersplitterte das Eis, Wagen brachen ein, Menschen schrien angsterfüllt oder schmerzgepeinigt. Sie hörte diese grässlichen Geräusche zwar - die Explosionen, das Maschinengewehrfeuer, die Schreie - ließ sie jedoch nicht in sich eindringen. Sie musste weiter, musste ihr Kind und ihre Mutter wieder finden. Kein Ablenken. Weiter. Und irgendwann war der Schnee unter ihr anders, kein Knarren und Knirschen mehr unter ihrem Schritt: Sie war auf den Sanddünen angelangt.

So die Erzählung meiner Mutter. Ihre Lebensgeschichte immer wieder repetierend: Es lässt sie nicht los, nach vielen Jahren tauchen die Szenen ihrer Flucht erneut und verstärkt in ihr auf, als ob das Entsetzen erst jetzt zugelassen werden darf, einer mildernden Betrachtung zugänglich. Sie hat gerade die Neunzig überschritten und die Erinnerungen an ein fernes Damals werden wichtiger als das jüngst Vergangene, verdrängen oftmals die Gegenwart. Und es sind ja auch dramatische Szenen und Umstände, sich grell abhebend gegenüber dem unaufgeregten Heute. Doch nur für uns hier unaufgeregt und ruhig dahinfließend; in anderen Weltgegenden gibt es Umbrüche und Abbrüche zuhauf, wie sie mit Krieg und Terror einhergehen und das Leben von heute auf morgen auf den Kopf stellen können. Dann gibt es Flucht und Einpacken des Nötigsten und Verlust und Verzweiflung, nicht anders als damals bei ihr. Ob in Eritrea, im Sudan oder in Syrien. Namen, die für viele weitere stehen..

Ulm war der weit entfernte Anlaufhafen. Würde ihr Vater sagen, der als Matrose auf einem Kriegsschiff im Mittelmeer schipperte. Die Zuflucht von der Zuflucht. Denn sie war vor drei Wochen erst von ihrer Mutter aus dem Bombenhagel der die Stadt Ulm verheerenden Luftangriffe in die abgelegene Idylle der Masurischen Seen zurück geholt worden, trotz Warnungen der Schwiegermutter, die Hitlers Krieg realistischer Weise schon für verloren ansah, was man jedoch nicht zu deutlich äußern durfte. Auf jeder Europakarte konnte man sich klar machen, was dass für diese Gebiete bedeuten würde. Doch ihre Mutter glaubte eher der Propaganda, die noch immer von einem möglichen Endsieg faselte. Und sie folgte ihr nach Hause; umso williger, als das Schicksal ihres Mannes, wie jedes Soldaten in diesem Krieg, in den Sternen stand und ihr Leben bei der Schwiegermutter eher dem einer Dienstmagd glich, zum Arbeiten gut genug, doch nicht wirklich willkommen. Dass sie ein uneheliches Kind mitgebracht hatte, entspannte die Situation nicht gerade.
Dabei war sie voller Freude und Erwartung nach Süddeutschland gekommen, zur Hochzeit mit ihrem Soldaten - ihr fast unbekannt und doch tief vertraut aus den Briefen, die er ihr seit schon vier Jahren geschrieben hatte, fast jede Woche eine neue Freude. Sie hatte alle Hindernisse in Form von wiederholten Urlaubssperren endlich überwunden - und auch das größte Hindernis, ihre juristische Noch-Unmündigkeit (einige Wochen bis zu ihrem 21. Geburtstag fehlten ihr), wurde durch das Entgegenkommen des Standesbeamten aufgelöst, der sich entschloss, sie unter dem Vorbehalt zu trauen, dass das väterliche Einverständnis nachgereicht wurde.
Jede überwundene Widrigkeit hatte sie im Glauben bestärkt, dass dies ihre Bestimmung sei - im Gegensatz zu der Mutter ihres Mannes, für die jedes neue Hindernis der Beweis dafür war, dass es eben nicht sein sollte. Keine gute Basis für ein Zusammenleben; sie blieb allein unter Fremden zurück, Provinznaive unter Bildungsbürgern, als für ihren Mann der Heiratsurlaub zu Ende war und er die Rückreise nach Frankreich antreten musste, mitten in die erwartete Invasion hinein. Der Krieg war allgegenwärtig und traf nun mit voller Wucht auch Ulm. Deshalb also ihre Rückkehr.

Und deswegen stand sie nun verloren auf dem schneebedeckten Strand der Landzunge. Es fing wieder leicht zu schneien an und der Himmel war ebenso einsam und eintönig wie das eben überquerte Haff. Jenseits des schmalen Streifens festen Landes war düstergraue Endlosigkeit: Eisgeröll und Eisplatten mit wenigen Vogelspuren auf der dünnen Schneedecke und dann das dunkle Wellengewoge des offenen Meeres. In der beginnenden Abenddämmerung näherte sich ihr ein Militärfahrzeug auf der Straße, die alle Ortschaften der Nehrung miteinander verband. Sie winkte, machte auf sich aufmerksam, nutzte die Gelegenheit, nach einer Mitfahrt zu fragen. Danzig war das nächste logische Ziel. Dort würde sie weitersehen. Die Soldaten halfen ihr auf die Lastwagenpritsche, die schon voller Passagiere gleich ihr waren; sie suchte sich einen freien Platz zwischen Gepäckbündeln und Beinen und lehnte sich empfindungsleer und schon jenseits aller Verzweiflung an die Kabinenwand. Dann schlief sie ein, völlig erschöpft.
Und kam im Morgengrauen in der Stadt zu sich. Die Flüchtlinge beeilten sich, zum Hafen zu gehen, dort gab es Schiffe, die auf sie warteten, wurde erzählt, die sie nach Kiel oder Dänemark bringen würden, jenseits der Front. Sie wollte nicht mitkommen. Ihre Mutter und ihr Baby waren vielleicht noch in der Stadt, und außerdem, was wollte sie dort im Norden: Ihr Ziel lag im Süden. So entfernte sie sich von dem Menschenstrom, der in eine Richtung drängte, und geriet ins Abseits: leere Straßen und Plätze, kaum jemand unterwegs, kein Verkehr, sie verlief sich im Häusermeer. Gestrandet in einer völlig unbekannten Stadt. Ihr kam der Gedanke, dass sie unmöglich aufs Geradewohl ihre Mutter wiederfinden könnte, die Stadt war einfach zu groß dafür, zu unübersichtlich, und wo anfangen mit der Suche, an wen sich wenden, was tun? Ihr Gehen war nun blindlings, Tränen verwischten die Sicht, ihr ganzes Elend erwachte in ihr.
Da wurde sie angesprochen. Eine junge Frau in ihrem Alter. Ob es ihr gut gehe, ob sie ihr helfen könne, ob sie wisse, wohin sie müsse?
"Wohin willst du?"
Der Einsamkeitsdruck in ihr war so stark, sie konnte nicht anders als ihre Geschichte herauszuheulen, in Bruchstücken, froh ein Gesicht zu sehen, das sich ihr in Anteilnahme zuwandte.
"Ich kann dir nicht helfen deine Mutter zu finden, es sind zu viele Flüchtlinge in der Stadt, niemand hat den Überblick mehr, du müsstest auf einen großen Zufall hoffen. Aber ich könnte dir helfen, aus der bedrohten Stadt nach Westen zu entkommen, über die Frontlinie hinweg. Auf dem Flugplatz wartet ein letztes Flugzeug, ich arbeite dort und kenne den Piloten, mir wird ein Platz freigehalten, aber ich will nicht mitfliegen. Ich kann meine Mutter nicht im Stich lassen, sie braucht mich hier, ich bleibe. Wenn du willst, kannst du an meiner Stelle fliegen."
Sie wollte. Wird einem ein Rettungsring zugeworfen, während man dabei ist zu ertrinken, greift man danach und fragt sich nicht, ob es nichts Besseres gäbe. Die junge Frau - was wohl aus ihr geworden ist, was war ihr Schicksal? - brachte sie zum Flugzeug, einem Fieseler Storch des Roten Kreuzes, überfüllt mit verwundeten Soldaten.
"Wir müssen damit rechnen, abgeschossen zu werden, wenn wir die russischen Stellungen überfliegen, das ist unser Risiko", sagte der Pilot.

Noch heute ist meine Mutter voller Verwunderung über diese Wendung in ihrem Leben. Und voller Dankbarkeit. Sie sinniert über Zufälle und Fügung und darüber, wie auch alles hätte anders ausgehen können.
Ihre Mutter und ihre Tochter hat sie nach dem Krieg im Alten Land bei Hamburg wiedergefunden, nachdem diese einige Zeit in Danzig verbracht hatten und der Belagerung ebenso in letzter Stunde auf einem Schiff entfliehen konnten.