Architexxt



LEGENDE II


Es war einmal ein Mann.
Sein Vater hatte ihm einen Krug voller Goldstücke vererbt, es war schon lange her, dass dieser sich hingelegt hatte um zu sterben. Den Krug hütete er seither pflichtgetreu. Er erinnerte sich ab und zu daran, vergewisserte sich, dass er noch da war und betrieb dann weiter sein alltägliches Geschäft, im Bewusstsein, einen beträchtlichen Schatz in der Hinterhand zu haben, jederzeit darauf zurückgreifen zu können, wenn notwendig - aber jetzt noch nicht, nicht jetzt.
Der Schatz ging ihm ja nicht verloren, er war noch da, verdarb nicht - oder? Wäre es verwesendes Fleisch gewesen, verrottende Felle, verrostendes Eisen oder keimendes Saatgut, er hätte sich darum gekümmert, hätte sich darum gesorgt. Aber so war es ihm nie wichtig erschienen, Gold blieb beständig, Gold blieb erhalten, Gold war einfach da - das genügte. Er kam auch ohne sein Gold über die Runden - zwar nicht weit; lebte - zwar nicht prächtig; aber es genügte.
Einmal werde ich den Schatz nehmen und etwas ganz Besonderes damit machen. Einmal werde ich damit etwas Wundervolles erreichen. Bis dahin weiß ich, dass es diesen Schatz gibt, nur ich weiß davon, dass ist schon genug. Er fühlte sich auf diese Weise als der Hüter des Erbes seines Vaters.
Sein Leben blieb äußerlich bescheiden; manchmal musste er sich einen Wunsch versagen, manchmal hungerte er sogar, aber er rührte den Schatz nicht an. Wenn die Gelegenheit kommt, die besondere Chance, werde ich das Gold nutzen, sagte er sich dann. Aber diese besondere Gelegenheit kam nie. Sein Leben verlief weiter in engen Bahnen, eingeschränkt und eingezäunt, keine großartige Möglichkeit öffnete sich überraschend.
Einmal, als er fühlte, dass für ihn selber die Zeit gekommen war zu sterben, überdachte er sein Leben und konnte keinen Fehler finden, obwohl ihn irgendetwas quälte. Es war ihm, als stehe eine hohe, schattenlichthafte Gestalt neben seinem Bett, die ihn aufforderte, seine Besitztümer zu nehmen und vorzuzeigen, was er hatte. Hier habe ich einen Krug mit Gold, alles noch vollständig, wie ich ihn selbst erhalten habe, sagte er voller Stolz zu dem Wächter.
Dessen Gesicht sah ihn voller Trauer an. "Es ist nur Metall", sagte er, "es ist nicht Leben geworden. Es hat sich nicht verwandelt, ist nicht gewachsen. Wo ist die Fülle, die dir dadurch möglich gewesen wäre?"
Jetzt erschrak der Sterbende, wusste, was ihn quälte, trauerte mit dem Engel um seine verpassten Möglichkeiten, seinen nicht realisierten Reichtum.
Angst erfasste ihn, bedrängte seine Brust in Atemnot, verengte seinen Blick, Schatten flackerten im Augenwinkel, zogen sich um ihn zusammen. Er wollte sich wehren, umkehren, zurückgehen, alles anders machen, jetzt, da es zu spät war. "Nun weiß ich, um was es geht, gib mir Zeit, ich will mich ändern, gib mir eine neue Chance, einen Neubeginn".
Sanft sagte das Gesicht, Trauer im Blick: "Du wirst deinen Neubeginn bekommen, aber jetzt folge mir. Nimm deinen Goldschatz und komme mit..."

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