Architexxt



Undine. Eine Novelle

(Leseprobe)




Aufbruch


In letzter Zeit hatte er angefangen sich mit seinen Träumen zu beschäftigen. Im Grunde nichts Ungewöhnliches: Viele seiner Bekannten - und hierbei vor allem Frauen - erzählten von ihren Ausflügen in diese irrationale Bilderzone. Oft mit einem merkwürdigen Unterton: Als ob sie ein Mysterium verraten würden. Doch ihm war das etwas Fremdes. Etwas Neues.
Der Anlass dafür war ein mehrmals wiederkehrender Traum, der ihn nicht losließ. Genauer: die Bruchstücke ein- und desselben Traumes. Sie tauchten, in Fortsetzung, während mehrerer Nächte auf, wollten sich zu einem Ganzen zusammenschließen, was aber frustrierender Weise nie wirklich gelang. So quälte er sich am Morgen mit dem vergeblichen Nachsinnen über eine scheinbar drängende Botschaft, die jedoch in dem Augenblick zu nichts wurde, als er genügend wach war, um sie festhalten zu wollen. Und dennoch war sie nachdrücklich genug, um ihn nicht einfach nach Aufstehen, Zähneputzen, Duschen, einer hastig heruntergestürzten Tasse Kaffee auf der Fahrt ins Büro vollständig aus ihrer Stimmung zu entlassen. Etwas rumorte in ihm.

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Es schien ihm, setzte er diese Traumbruchstücke doch noch irgendwie zusammen, als ob er in einem lichten Kiefernwald spazieren gegangen wäre, ein breiter Weg führte in einer leichten Kurve über eine sonnenbeschienene Wiese in die Tiefe. Dann veränderte sich der Charakter des Traumes und des Waldes ins Dunkle. Links und rechts von ihm knackten Zweige, als ob ihn jemand oder etwas beschlich: Wurde er verfolgt? Waren es Tiere gewesen, so hatte er jedenfalls vergessen, von welcher Art und ob überhaupt; es blieb nur das Gefühl eines angespannten Hinhorchens auf etwas Beunruhigendes. An Tierlaute erinnerte er sich nun doch. Und dass der Weg plötzlich nicht mehr da war, einzig Gestrüpp: vor ihm, neben ihm, hinter ihm. Und im Weiteren eine andere Szene: Riesige Bäume umgaben ihn, Zweige umschlangen Zweige, waren miteinander verflochten, arm- und schenkeldick; und waren nun wirklich behaarte Arme und Schenkel, die sich ineinander wandten und zu fellbesetzten Gliedern, Leibern, Brüsten, Schamlippen wurden, aber keine Gesichter hatten und noch immer Zweige an Bäumen waren. Er war in einem Verhau lebendiger Waldwesen gefangen, einem dichten, ihn umgreifenden Urwald, und sein einziger Ausweg bestand darin, aufzuwachen. Was auch geschah.

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Aufgedrängt hatte sich ihm die erstmals aufblitzende Erinnerung an dieses Traumbild ausgerechnet während der Arbeit, in einer Besprechung. Die dunkle Präsenz nicht festzuhaltender Trauminhalte begleitete ihn zwar, wie er jetzt wusste, schon seit längerem, aber er konnte sie bisher in der Routine des Tages verdrängen. Nun nicht mehr.
Während er versuchte, in einer Ingenieurssitzung die Idee der klaren Linie und der ungestörten Fläche einem (wie er meinte: ignorantem) Fachmann für Belüftungstechnik deutlich zu machen, bemüht, dessen praktischen und ökonomischen Einwände als nicht stichhaltig zu entkräften und für die reine Form zu streiten, brach plötzlich ein bizarres Traumfragment in sein rationales Tagesbewusstsein ein: verschlungene, fellbedeckte Äste, ihn umarmend, sich an ihn drängend. Der Kontrast zwischen dem, was er eben vortrug und dem, was in ihm untergründig wühlte, ließ ihn stocken. Aus dem Konzept gebracht, verstolperte sein Argument ins Ungefähre und er schloss hastig mit irgendeiner Phrase. Dies war das erste Mal, dass er die Unruhe ernstnehmen musste, die in ihm war. Den Traum. Den Sog. Den Verlust. Etwas fehlte.

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Zwar wurde ihm durch darüber Nachsinnen auch nicht einsichtiger, welche Bedeutung dieser Traum (und ähnlich folgende) hatte, was ihn so wichtig machte: Außer, dass er ihn nicht vergessen konnte und er in seiner Erinnerung immer aufdringlicher wurde. Aber dass eine untergründige tektonische Verschiebung in seiner Psyche stattfand, das konnte er spüren. Er begann über sein Leben nachzudenken. Zu grübeln. Das betraf sein privates Leben, fast mehr noch sein Berufsleben. Sein Berufsethos. Für ihn war seine Arbeit immer Berufung gewesen, ein Streben zur Erfüllung einer Forderung, die sich für ihn aus der Sache ergab: Bauen war zwar kein Selbstzweck, l'art pour l'art führte in die Irre, doch ohne weitergehenden kreativen Anspruch war das Ziel - Qualität in der Architektur - nicht erreichbar. Ohne diesen blieben nur die Öde der Mittelmäßigkeit und ein verbauter Horizont.
Nun musste er sich sagen, dass dieser kreative Ursprungsquell seiner Arbeit vielleicht gar nicht mehr existierte. Irgendwie abhanden gekommen war. Dass er sich erschöpft hatte. Und dass hier sein Problem lag. Auch musste er sich sagen, dass er durch die Art seiner Arbeit selbst in diese Situation geraten war.
Noch immer war sein Ausgangspunkt ein spontaner Einfall, eine irreguläre Antwort auf eine gestellte Aufgabe; doch war es ihm früher darum gegangen, die Spontaneität und Irregularität beizubehalten und ins Bild zu setzen, hatte sich diese Haltung im Laufe seiner Professionalisierung - oder sollte er besser sagen: Anpassung? - geändert: Nun versuchte er von Anfang an seinen Einfall zu disziplinieren, ihn in eine Ordnung zu bringen, um all den verschiedenen Anforderungen an ein Bauwerk gerecht werden zu können. Um vernünftige Argumente für seine Sache vorbringen zu können: Um sie letztendlich durchzusetzen. Daher begründbar. Daher rational. Aber es war mehr als das. Seine Anfängerentwürfe schienen ihm nur noch schief und krummgewachsen, seine damalige Darstellungsweise ungelenk und naiv, seine frühere Haltung zu sprunghaft, nicht streng genug. Er selbst hatte sich verändert.

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Und wer war er heute, wenn er sich im Spiegel ansah? Er fand kein schmeichelhaftes Selbstbild vor sich: Hier war jemand, der sich unbehaglich fühlte, wenn irgendwer zu laut und hemmungslos lachte; jemand, den es störte, wenn ihn in der Straßenbahn ein Baby neugierig staunend ansah und befingerte; jemand, der ungeduldig wurde, wenn Behinderte oder Kranke ihn am Eingang eines Gebäudes oder an einer engen Treppe mit ihrer Ungeschicklichkeit und Schwerfälligkeit aufhielten; jemand, dem jedes lebhafte und ungewöhnliche Aus-der-Reihe-Tanzen suspekt war: Im Grunde jede Äußerung des Lebens in emotionsgeladener oder unvollkommener Form. Im Grunde jede Äußerung des Lebens. All das war Symptom für etwas, er spürte es als Mangel, als Verlust, und dieser Verlust betraf auch seine Arbeit, seine Fähigkeit, lebendig zu reagieren und sich auf neue Situationen einzustellen. Er war abgeschnitten. Irgendwie war ihm die Lebendigkeit, war ihm das Leben ausgeronnen, in und durch seinen Beruf, und so auch in den Kümmerresten seiner übrigen Existenz.
Nun war er jemand, den es quälte, wenn eine reine, unberührte Fläche durch ein Graffiti, wie er es empfand: verletzt wurde. Andrerseits dachte er: In dem Augenblick, in dem ihm die kryptischen Schriften und Bilder an den Wänden der Unterführungen und Betonabsperrungen nicht mehr nur als Schmierereien und Störung der Ordnung aufstießen, sondern von ihm als Ausdruck einer ungeregelten, ungezähmten, nicht zu unterdrückenden Kreativität angenommen werden würden, in dem Augenblick hätte er auch wieder Zugang zu seiner eigenen Ausdruckskraft gefunden.
Wie lange war es her. dass er diese Zeichen wirklich angesehen hatte? Wie lange her, dass er sich nicht sofort innerlich empört abgewandt (er wollte all den Schmutz und die Unordnung gar nicht mehr sehen), sondern sie neugierig aufgenommen hatte? Abbild des Lebens. Auch hier. Gerade hier. Und jetzt vertrat er die andere Seite. Forderte Respekt für die leere Fläche, die ungestörte Ordnung, den weißen Putz. Und litt unter den Angriffen des Chaos auf seine puristisch karge Form. Symptom des Verlustes.

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Den Propheten traf er eines Spätnachmittags nach Arbeitsschluss, im hastigen Geschiebe der Fußgängerzone. Für ihn sah er aus wie ein Prophet: alttestamentarisch, mit zotteligen dunklen Haaren, verwildertem Bart, schmuddeliger Kleidung. Er stand einfach da, eine Plastiktüte in der Hand, und begann seine Beschimpfung. Beschimpfung ist vielleicht zu hart gesagt, es war nichts Persönliches, er sprach niemanden direkt an, aber er wollte offensichtlich den Leuten ins Gewissen reden, indem er sie auf ihre gierige, oberflächliche Lebensweise hinwies. Konsumgeilheit. Egozentrik. Massenverblödung. Seid ihr denn alle Verrückt, das mitzumachen, erinnert euch, erinnert euch an euch selbst, ihr wollt, ihr braucht das alles nicht, ihr verplempert eure Lebenszeit, ihr setzt auf das falsche Pferd, ihr versäumt euch. So ging es weiter, er wartete nicht ab, bis der Prediger zu Jesus kam oder zu Che oder einem anderen Heilsbringer, der das falsche Leben ins richtige umbiegen konnte, wie ein solcher Sermon für gewöhnlich ausklang; für ihn war das genug an Appell, an Ermahnung. Normalerweise wäre er ohne hinzuhören weitergegangen, er hasste Predigten und missionarische Töne, aber durch die Beschäftigung mit seinen Träumen und durch die beginnende Anzweiflung seines eigenen Lebens sensibilisiert, berührte ihn irgendetwas daran. So blieb er zwar nicht stehen, aber er nahm einen intensiven Eindruck mit: Sich einfach aus dem gewohnten, geforderten Leben hinausfallen zu lassen, nicht mitzumachen, bei was auch immer, sich hinzustellen und andere aufzufordern nachzudenken, dass musste ihm imponieren, und er fragte sich, ob er selber den Mut dazu aufbringen würde. Obwohl die Situation selbst nur einer Konvention entsprach, nur eine Rolle auszufüllen war, einem uralten Textbuch verpflichtet: der Prophet und seine ungläubigen Zuhörer, der Mahner unter den Gleichgültigen, der von Gewissheit erfüllte unter den Zweiflern. Nicht sein Weg. Aber genügend Anstoß, um ihn in seiner Nachdenklichkeit zu bestärken.

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Diesen Morgen weigerte er sich aufzustehen. Er verweigerte sich sich selbst, seinem vernünftigen, einsichtsvollen, an die Realität angepassten Erwachsenen-Ich. Später würde er im Büro anrufen und einen Arztbesuch vortäuschen. Später würde er deshalb wirklich zu einem Arzt gehen. Jetzt versuchte er, mit sich ins Reine zu kommen.
Noch war er in diesem Stadium des Aufwachens, in dem er jederzeit in den Schlaf zurück-tauchen konnte, aber schon zu weit gelöst von den Träumen der vergangenen Nacht, um sie weiterspinnen zu können. Ein unbestimmtes Moment der Irrealität (Geborgenheit, Wunscherfüllungsland, Eingewoben sein in sexuell gefärbte Phantasien) umgab ihn, wie es nur ein allmähliches, sanftes Aufdämmern zuließ, nicht das abrupte Aufschrecken aus einem Alptraum oder das automatische Reagieren auf den Weckalarm. Er beschloss, sich den Bildern zu überlassen, die auftauchen würden, wenn er sie suchte, ließ sich fallen, um auf den Grund seiner Verwüstung zu kommen: in einen Schlaf, der nicht mehr Schlaf war. Doch kein Trostbild erwartete ihn, stattdessen die Tauchfahrt in eine schroffe Kargheit. In einen ausgetrockneten Ozean. Unten steht er auf der öden Fläche eines Schuttberges. Nur Wüste und Staub und Schotter. Gräbt nach der Quelle, die es dort (noch) geben müsste. Findet den Kopf einer zerbrochenen Statue: blaues Lehmgestein, ungebrannt, lapislazulifarbene unbekannte Göttin. Große Augen, wissendes Lächeln. Als er endlich auf Wasser stößt, zerbröckelt die Statue in der Feuchte, er kann sie nicht erhalten - doch auch das Wasser kann er nicht festhalten, es verrinnt ihm zwischen den Fingern, versickert wieder im Steingeschiebe.
Ist er das? Sieht es so in ihm aus? Geschichtslos, leblos, nur Bruchstücke auf einem Trümmerhügel, unfähig die Gegenwart des lebendigen Wassers zu fassen und zu nutzen?

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Er verstand: Er musste in seinem Leben etwas ändern, um wieder im Leben zu sein. Was genau, wusste er nicht; Er wusste auch nicht, wie er in diesen Zustand geraten war, auf welchem Weg, in welcher langsamen, unmerklichen Drift. Es war ja nicht als ein Ereignis, als ein Unfall oder ein Schicksalsschlag über ihn gekommen, sondern als schleichende Erosion, als Verschleiß. Abgenutzt war das, was ihn, wie er gedacht hatte, ausmachte: sein Herkommen, sein Impuls, seine Richtung; jetzt sah er dies alles wie eine Kulisse an, die er sich selbst aufgebaut hatte, um sein Stück aufzuführen. Selbstillusion, Selbstverblendung, um sich selbst einen Namen geben zu können. Um sich in ein Wort zusammenzubinden: Das bin Ich. Auch, um sich in Worten festschreiben zu können: Ich bin Architekt.
Denn das war für ihn immer wichtig gewesen: sich durch das, was er tat, selbst zu finden, sein Selbst zu finden. Er war Architekt, nicht weil er in diesem Job zufällig untergekommen war, sondern weil er sich als Architekt erkannte und definierte. Aber gerade das war seine Illusion: Es gab kein statisches Ich, kein festes Gefüge von Werten, Urteilen, übermittelten und gewonnenen Erfahrungen; in Wirklichkeit war er geschichtslos, wurzellos, nur von den Wechselfällen der Gegenwart dirigiert. Er war ein Schwimmer im strudelnden Wasser und hatte, verzweifelt um Halt bemüht, irgendwie das Fließende in ein Festes verwandelt. Staub und Schotter war das Ergebnis, unfruchtbarer Gesteinsschutt. Sein Wahrtraumbild.
Der imaginierte Halbtraum zeigte ihm deutlich: Austrocknung, Verwüstung war da; Kultur nur als archäologische Vergangenheitsbruchstücke - er konnte danach graben und die fragilen Formen auffinden, aber der Kontakt mit der gelebten Realität würde die Bruchstücke sofort auflösen, während er gleichzeitig unfähig war, das flutende, hervorquellende Lebenswasser aufzunehmen und zu speichern. Es würde, so wie er war, versickern. Es versickerte schon die ganze Zeit.

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Wie jeder Eingeborener in einer durch das Vorbild der Älteren übermittelten, normativ festgelegten Kultur aufgewachsen, hatte ihn der Zivilisationsschock (ironischerweise war seine eigene, dynamische Zivilisation dafür verantwortlich) von den Werten der Vergangenheit abgeschnitten. Alles, was er früher für feststehend und wahr gehalten hatte, war in Wirklichkeit schon längst ohne Bestand: kein fester Fels, auf den sich gründen lässt, sondern längst brüchig, längst mürbe gewordenes Eis, in Auflösung in einen ruhelosen Ozean von Ereignissen und Meinungen begriffen. Im Rund-um-die-Welt-Medienzeitalter gab es keine Eindeutigkeiten mehr, nur die Konkurrenz unterschiedlicher Weltsichten, sich gegenseitig ausschließender und trotzdem nebeneinander bestehenden Welterklärungserzählungen. Die wie selbstverständlich in der Realität verankerte einzige Erzählung über die Welt gibt es nicht mehr. Und für ihn war das offenbar ein Problem.
Er konnte sich, wie es schien, nicht nur damit begnügen, sich über Wasser zu halten und nicht weiter darüber nachdenken, welche Tiefe unter ihm lag. Der normale, gesunde Zynismus, wie er ihn nannte, der es möglich machte, alles auf praktische Art abzuhandeln und sich nicht ins Grundlose, Grundsätzliche zu verirren, diese Haltung, in der vieles Lästige nicht mehr beachtet werden musste, ließ sich für ihn auf Dauer nicht durchhalten. Was es sonst noch gab, Karriere, Sex, Amüsement, beschäftigte ihn, anders als andere, nicht ausschließlich. War das sein Fehler? Jedenfalls sein Problem. Es genügte ihm nicht, in seinem Denken auf die gerade gängigen Phrasen reduziert zu sein, in seiner Motivation auf das Mitschwimmen im Strom des unbezweifelt Üblichen.

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Denn auf einer tieferen Ebene war er es selbst, der den einfachen Erklärungen und simplen Erzählungen misstraute, schon immer, von Beginn seines bewussten Nachdenkens an; niemand brauchte ihn von außen zu verwirren und von etwas abzubringen. Und auf dieser Ebene führte eine Spur zurück in eine Zeit, in der er wirklich noch an der Quelle einer ursprünglichen Erfahrung saß, voller Verwunderung darüber, dass es ihn gab, dass er existierte und andere Dinge um ihn herum ebenso da waren... Und dass es ihn in einer bestimmten Gestalt gab, so wie die Dinge um ihn herum eine bestimmte Gestalt hatten, nicht einfach ihr Aussehen wechselten und am neuen Tag anders waren (obwohl, in einer noch früheren Zeit war er sich nicht sicher gewesen, ob es nicht doch so wäre...). Auch tief verwundert darüber, dass er sich als etwas ebenso eindeutig Festgelegt ansehen musste wie die Dinge, wie wenn diese ihn von außen veranlassen würden, ihre Eindeutigkeit zu übernehmen, obwohl er selbst doch ständig schwankte und in der Unschärfe einer nur hin und wieder aufflackernden Wachheit existierte, wofür er zwar keine Worte hatte, was ihm jedoch deutlich bewusst war. So deutlich bewusst, wie er sich auch als sein eigener Verfestiger erlebte, der sich aus den offenen Möglichkeiten, den weithin offenen Himmelsrichtungen in ein einziges Selbst zurückzog, sich auf eine bestimmte Fixierung beschränkte. Warum in dieser Gestalt und nicht in einer anderen? Warum so fest, so eindeutig? Oder war er gar nicht eindeutig, und war diese Form vielleicht nur etwas zufällig Gewordenes, unter beliebigen Bedingungen Entstandenes? Vielleicht Austauschbares? Die Spur führte zurück in eine Zeit, als er sich selbst noch beim Einüben in eine Rolle zusehen konnte, schon halb verborgen unter einer Maske, die jedoch, noch nicht festgewachsen, jederzeit abgenommen und gewechselt werden konnte; eine Zeit, in der er klarsichtiger Weise seinem Text, den er vorspielte, beim Entstehen zusah - lange vergessen, verdrängt. Sein eigener Beschrieb war ihm inzwischen einzige Realität geworden, als ob es nicht tausend Möglichkeiten gäbe, sich der Meta-Wirklichkeit zu versichern, einen Pfad in die Existenz zu legen. Auf dieser Spur aber konnte er vielleicht doch zurückfinden: die Versteinerungen aufweichen. Das Erstarrte rückschmelzen.
Er erinnerte sich nun, wie er damals versucht hatte, das aufzulösen, was ihn bestimmen wollte, was ihn festschrieb: Verhalten, Meinungen, Selbstverständlichkeiten, Grundsätze. Er hatte immer wissen wollen, woher diese kamen, wie sie entstanden sind, wie sie in seinen Kopf hineingekommen waren. Und warum er sie als selbstverständlich akzeptieren sollte. Er brauchte sie nicht zu akzeptieren. Er konnte nachdenken. Er konnte wählen.
Er musste, um wenigstens sich vor sich selbst zu rechtfertigen und seine Vorstellung von Gott und der Welt auf einen Nenner bringen zu können, doch wieder wagen, die eine mögliche Erzählung zu finden - seine eigene individuelle diesmal. Das konnte er nur durch einen analytischen Akt der Dekonstruktion aller Konstrukte, die ihn aufgebaut hatten, der restlosen Aufgliederung von allem, was zu dieser Gegenwart führte, in der er sich befand. Alle Fäden, die sich im Jetzt zum Knäuel verknoteten, mussten entwirrt und als Einzelstrang weiterverfolgt werden. Eine unbewätigbare Aufgabe. Oder aber, dieser Gedanke kam ihm, er musste den Knoten durchschneiden, die Fäden trennen, und radikal und synthetisch ein neues Verständnisnetz knüpfen: Welches er überschauen konnte, weil er es selbst hergestellt hatte. Synthetischer Aufbau - natürlich eine Illusion, er konnte für sich nicht eine ganze Welt entwerfen, immer war er auf Vorarbeit und damit auf Vorgänger angewiesen. Und doch war dies von ganz anderem Gewicht als eine festgelegte Glaubenserbschaft, widerspruchslos übernommen. Es lag nur an ihm, was er verwarf und was er weitertrug: Mit leichten Bällen jonglierend, konnte er anfangen zu tanzen. Er beschloss, sofort einen dieser Bälle zu ergreifen und hochzuwerfen: seinen Kinderglauben, die religiösen Überzeugungen, in denen er aufgewachsen war.

(Ende Leseprobe)