Architexxt



Nach Ulm flüchten I




Endlich wird es hell. Die Schwärze, die ihn eingeschlossen hatte wie eine undurchdringliche Wand, lichtet sich. Konturen werden sichtbar, Blätter und Zweige zeichnen sich ab - Schattensilhouetten vor einem ins silbergraue wechselnden Hintergrund.
Morgendämmern. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen und der fröstelnd machende Wind wird durch keine wärmenden Strahlen gemildert. Doch Auroras Vorboten (so reden sie wohl in der Stadt, aber nicht er, Heberle) kündigen sich schon in der wiedergewonnenen Farbigkeit an, die sich allmählich ausbreitet. Kündigen den Tag an, der den Schutz der Nacht aufheben wird. Die nächsten Stunden werden alles entscheiden: Rettung oder doch noch eingeholt werden von dem Schrecklichen, vor dem sie geflüchtet sind. Die Reiter der Kaiserlichen sind schnell. Sie werden überall umherschwärmen, erbarmungslos Jagd machen auf alles, was ihnen als willkommene Beute über den Weg läuft. Beute wie sie. Auch wenn wenig bei ihnen zu holen ist, so sind sie doch schutzloses Freiwild für Vergewaltiger und sadistische Schlächter.
Wie ein gehetztes Reh wittert Heberle nach allen Richtungen. Stürmt etwa aus jenem Wäldchen auf dem gegenüberliegenden Hügel der Tod heran? Aus jener engen Tobelschlucht, von hier nicht einsehbar? Taucht er unvermutet aus dieser Senke im freien Feld auf, welches sie später überqueren müssen? Kommt der Tod von Süden, Osten, Norden, Westen? Er könnte von überall kommen, sie sind ihm hilflos ausgeliefert, sobald sie vom Feind entdeckt werden. Heberle erhebt sich aus seiner Kauerstellung, in der er versucht hatte, sich auszuruhen und trotzdem nicht einzunicken, bei aller Erschöpfung. Er zögert. Soll er seine Familie wecken? Eng ineinander verknotet, einander Halt und Tröstung gebend, sind sie auf den Boden gesunken und eingeschlafen nachdem ein Weiterkommen im nachtschwarzen Wald nicht mehr möglich war, das Umherirren in der Dunkelheit sinnlos. Sein Vater, seine Stiefmutter, seine Schwestern, seine Frau und die vier Kinder, das jüngste, Thomas, gerade dreieinhalb Jahre alt, brauchten diese aufgezwungene Ruhepause, obwohl gefährlich vergeudete Zeit. Zeit, die ihnen vielleicht fehlen wird, Zeit, die sie benötigen, um den Zufluchtsort zu erreichen. Sie sollten bald aufbrechen, keine Frage. Und er musste herausfinden, wie weit sie in der Nacht gekommen waren und wohin sie sich von hier wenden müssen, um in die befestigte Stadt zu gelangen. Ulm ist der einzige Ort weit und breit, der Sicherheit verspricht. Sie müssen sich nur immer nach Süden halten, können sich dabei am Sonnenstand orientieren, während sie die Straßen und Weiler möglichst meiden und querfeldein gehen. Zu leicht könnten sie dort Opfer der marodierenden Soldaten und Plünderer werden.
Es ist, obwohl erst Oktober, schon winterkalt im Wald, wie fast immer in diesem schneereichen Jahrzehnt. Viel zu kalt, um draußen die Nacht zu verbringen, ohne Feuerstelle, ohne schützendes Dach oder wenigstens einem Schutz aus Blättern und Zweigen gegen Nachtreif und Wind. Doch er hatte nicht gewagt, ein Feuer anzuzünden. Nicht sehr wahrscheinlich, dass dieses Raubgesindel sich der Kälte der Nacht aussetzte, doch wer weiß - sie durften auf keinen Fall auf sich aufmerksam machen, kein weithin sichtbarer Feuerschein durfte sie verraten.

Es ist die dritte Flucht. Diesmal vor umherstreifenden Truppen, die bei Günzburg und Laupheim Quartier gemacht hatten und nun anfingen, ihr Recht auf Beutezüge im Feindgebiet auszuüben. Ein heftiges Klopfen an der festverriegelnden Tür hatte ihn am Abend aufgeschreckt. Es war ihr Nachbar, kaum erkannte er dessen Stimme, so verzerrt klang sie, so angstgepresst.
"Sie sind unterwegs! In Neenstetten brennen schon Häuser und Scheunen, bald sind sie auch bei uns! Pack deine Sachen zusammen, nimm deine Familie, wir verschwinden im Wald!"
Denn die Kaiserlichen waren schnell. Die Kroaten ritten den Fußtruppen voraus, die hinterherkamen und die Beute einsammelten, während die Reiter weiterstürmten und jeden, den sie aufgreifen konnten, gnadenlos misshandelten. Sich still verhalten und im Haus verstecken wollen war zwecklos. In Geislingen war der Geistliche, der im Bewusstsein seiner Amtswürde im Pfarrhaus geblieben war, aus der Stube gezerrt, beschimpft, geschlagen und schließlich geköpft worden, nachdem er ihnen nicht verraten hatte, wo das Kirchensilber vergraben war - einfach deswegen, weil es keines mehr gab, da schon vorher geraubt. Doch die Kroaten glaubten ihm nicht. Solche Geschichten machten die Runde, man wusste, was einen erwartete, fiel man den Soldaten in die Hände. Und kam man in das Dorf zurück, erfuhr man vom Schicksal eines glücklosen Nachbarn, dessen blutige Überreste man im Hausflur verteilt aufgefunden hatte, zur Warnung an alle malerisch drapiert.
Der Jahreszeit entsprechend wurde es schon früher dunkel, sie mussten das schwindende Tageslicht nutzen so lange es ging. Als die Familie aufbrach, trug jeder so viel mit, wie er bewältigen konnte, ohne sich selbst und die anderen zu behindern oder aufzuhalten. Denn es kam auf Geschwindigkeit und Beweglichkeit an, auf das Durchkommen im sperrigen Astwerk des Unterholzes, welches das Vorankommen auf dem ungebahnten Weg erschwerte und ein freieres Gehen unmöglich machte. Das traf jedoch auch die möglichen Verfolger. Waren sie weit und tief genug in die Wälder vorgedrungen, verloren diese wohl die Lust, ihnen in der aufkommenden Dunkelheit noch weiter im Dickicht nachsetzen zu wollen. Sie blieben jedoch Getriebene ihrer Angst. Weiter, tiefer! Ihr Ziel war die Stadt, normalerweise ohne Rast in vier Stunden zu erreichen, jedoch unter diesen Umständen? Mit den Kindern? Heberle ging an der Spitze der kleinen Gruppe, sein Vater, schon über sechzig, folgte dichtauf, die Stiefmutter in dessen helfender Nähe. Die vier Kinder wurden von seiner Frau und seinen Schwestern durch das unwegsame Gelände geführt, auch getrieben, oft trug seine Frau den Kleinsten auf dem Arm, musste ihn jedoch immer wieder absetzen, wenn er ihr zu schwer wurde. Dann stolperte er auf schwachen Beinen neben ihr her, sich verzweifelt an ihre Hand klammernd. Niemand durfte die anderen aufhalten, niemand zurückbleiben.
So liefen sie weiter und weiter, wie mechanisch, manchmal verlangsamt durch Hindernisse, die im bald nachtdunklen Wald unvermutet auftauchten, doch unbeirrt; als Begleiter die herzpressende Angst, die größer war als die Furcht vor der finsteren Baumwildnis vor ihnen. Anfangs erhellte der Mond ihnen noch den Weg, zeigte die Richtung an, die sie zu gehen hatten, später jedoch - inzwischen waren sie müde geworden und am Rande ihrer Kräfte - verschwand dieser im Astgewirr und schließlich unter den Horizont. Die funkelnde Pracht der Sterne über ihnen, die immer wieder durch das Geäst sichtbar war, konnte sie nicht darüber trösten, dass es nun zu dunkel für ein effektives Weiterkommen war und die Kälte ihnen zusetzte. Sie verfingen sich nur noch in den Zweigen, die ihnen ins Gesicht peitschten, wenn vom Vorangehenden losgelassen, verfingen sich in den Wurzeln, die sie nicht mehr sahen, nur noch erstolpern konnten.
Heberle befürchtete, dass sie, orientierungslos geworden, im Kreis gehen könnten, er hatte davon gehört, wie das manchem im Wald verirrten passiert war. Nur das nicht. Nur nicht an den Ausgangspunkt zurückkehren, dem Feind in die Arme. Noch glaubte er zu wissen, wo ungefähr sie sich befanden und befahl daher die Rast. Im Morgengrauen werden wir weiterziehen, jetzt ruht euch aus, soweit ihr könnt. Er selbst konnte nicht. Sorge um ihre Existenz in der Gegenwart und der Alp eines unentrinnbaren Fatums, dem sie scheinbar hilflos entgegengingen, drückten ihn.

Die klare Herbstnacht in ihrer frostigen Kälte führte sein Erinnern zu einer längst vergangenen Nacht zurück, ebenso klar und kalt und sternengesprenkelt, jedoch mit einem furchtauslösenden zusätzlichen Detail: Ein gleißender Lichtstrich beherrschte den Himmel, wie ein Rutenbüschel aus kaltem Sternenfeuer, zog seine hohe Bahn über allem und kündigte offensichtlich Unheil an. Ein Komet. Sein heller, langer Schweif schien für den Betrachter im Wind zu flattern und von Zeit zu Zeit zu hüpfen. Mit Grausen und doch wieder fasziniert hatte Heberle mit den anderen Dorfbewohnern das nächtliche Schauspiel beobachtet, das sich ihnen einen Monat lang bot, bevor das Zeichen - ja, es war ein Zeichen - wieder verblasste. Der Unstern, der über ihnen gestanden hatte, der Irrstern, dessen Erscheinen am Nachthimmel beklemmende Vorahnungen in jeder Seele aufsteigen ließ, der Schweifstern, er hatte vor sechszehn Jahren das Kommende vorverkündet. Das Eingetroffene. Hatte alle Angst, alles Entsetzen, alle Not wenn nicht heraufbeschworen, so doch vorhergesagt.
Das Kometenjahr 1618 war der Anfang gewesen. Stand am Beginn des großen Krieges, dessen Ende noch nicht abzusehen war. Ob sie ihn wohl überlebten? Alle? Schon war eines seiner Kinder ihm zum Opfer gefallen, Bartholme, das Jüngste, mit nur vier Monaten an den Folgen der zweiten, der vorherigen Flucht gestorben; sie hatten das Neugeborene den Härten des Lebens auf den Gassen in Ulm aussetzen müssen, wie alle in der Familie. Was wohl brachte der aufdämmernde Tag?

Als Heberle vorsichtig den Wald verließ um sich umzuschauen, stellte er bald an ihm bekannten Landschaftsmerkmalen fest, wohin sie der nächtliche Irrlauf gebracht hatte. Sie befanden sich in der Nähe des Weges, der nach Jungingen und von dort durch das Lehrer Tal nach Ulm führte. Wenn ihnen im Dorf und auf dem Weg zur Stadt keine böse Überraschung begegnete, konnten sie so in wenig mehr als einer Stunde im sicheren Zufluchtsort sein. Rasch ging er zu der großen, vom Blitz gezeichneten Eiche zurück, welche die Stelle markierte, an der er aus dem Wald getreten war; dabei schaute er sich immer wieder um, ob er nicht doch, obwohl zu so früher Stunde, von jemandem beobachtet wurde.
Er fand seine Familie so vor, wie er sie verlassen hatte: in ihrem ohnmachtsähnlichen Zustand zusammengesunken und regungslos. Zuerst rüttelte er seine Frau wach, dann seinen Vater und die Stiefmutter, die sich, aus der Kältestarre gerissen, nur mühsam erheben konnten, noch nicht ganz unter den Lebenden. Auch seine Schwestern begannen sich zu regen, bald kümmerten die Frauen sich um die Kinder. Eins ums andere wachte auf, schaute noch traumumfangen und mit verständnisleerem Blick um sich, in eine kalte, befremdliche Gegenwart geholt. Nur beim Jüngsten blieb das Schütteln vergeblich, er wollte nicht erwachen. Heberle wurde aufmerksam, ging zum Sohn und hob das Leichtgewicht zu sich hoch. Der kleine Körper war steif vor Kälte; ja, er war steif, war leblos, war wie ein Scheit Holz in seinen Armen.
Ein Schrei zerriss die Stille, ein Wehlaut, er konnte die Klage nicht zurückhalten, ob sie nun zu ihrer Entdeckung führte oder nicht. Sein Thomas war tot, sein Kind, das zweite schon. Opfer dieses Krieges, der sie bald alle verschlingen würde. Seine Frau umarmte schluchzend ihn und das tote Kind, sie hatte noch Tränen übrig, doch die Lebenden verlangten ebenso ihr Recht. Es blieb keine Zeit zum Trauern. Sie musste den Leichnam zum Pfarrhof nach Jungingen bringen, falls sich dort noch jemand aufhielt, und ein ordentliches Begräbnis veranlassen; aber in Sicherheit waren sie in Jungingen nicht, wie in Weidenstetten konnte der Feind auch hier jederzeit auftauchen. Nur hinter den Festungswällen der Stadt waren sie geschützt.

Heberle war durch den Kometen zum Chronisten geworden. Dessen Anblick hatte einen so starken Eindruck auf ihn gemacht, dass er anfing, ein Zeytregister anzulegen, in welches er alle Ereignisse vermerkte, die ihm wichtig erschienen: private und historische. Er war überzeugt, dass der Schweifstern große, bedeutende Geschehnisse ankündigte und er wollte diese bezeugen. Wollte Zeugenschaft ablegen. Sein Buch wurde zur Chronik der Verheerung.
Auch der Tag der Flucht wurde eingetragen - und der Tod von Thomas. In kargen Worten wird darüber berichtet. Und weitere Einträge folgen. Der Tod seiner Stiefmutter. Der Tod seiner ersten Schwester. Der Tod der zweiten Schwester. Der Tod der dritten Schwester. Alle innerhalb weniger Tage verstorben: In der Stadt wüteten Hungerkrankeiten und die Pest. Die Stadtoberen drängten auf die Rückkehr der Landbevölkerung in deren Heimatdörfer. Trotzdem blieben die meisten der Flüchtlinge, so auch Heberle und die Seinen, bis nach Weihnachten am Ort ihres Elends: noch gefährlicher schien ihnen das Leben außerhalb der Mauern.
Die dezimierte Familie kehrte Ende Dezember in das verwüstete Weidenstetten zurück, doch sollte es nicht die letzte Flucht bleiben. Dreißigmal vermerkte Heberle in seinem Zeytregister, dass sie sich in die Stadt in Sicherheit bringen mussten. Und doch: trotz aller Gefährdung erlebte er noch den ersehnten Frieden, erreichte das hohe Alter von beinahe 80 Jahren und konnte noch die Taufe eines Enkelkindes mitfeiern, der letzte Eintrag in seiner Chronik.

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