HELENADREIECK
(novel under construction)
Inhalt:
Prolog + Johannes + Ellen + Magnus + Der Engel der gescheiterten Hoffnung
Johannes
So also passiert's. Man ist verwickelt und merkt's nicht. Nicht sofort. Bis es offenkundig ist. Warum gibt es diesen Übergang in ein anderes Leben nur in der Rückschau? Nicht in dem Augenblick, in dem es geschieht? Kein Warnzeichen, kein Stoppschild: Ab hier beginnt etwas Neues, kein: Vorsicht, überleg's dir nochmal - Wenn es das gäbe, wäre dann alles anders gekommen? Ich weiß es nicht. Möchte es im Grunde auch nicht wissen. Jetzt ist es geschehen, das neue Leben hat schon begonnen - und ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ich es so auch will. Denn nichts ist klar und eindeutig und entschieden.
Mein Freund, der Psychomeister - ich nenne ihn Psychomeister, so wie Zenmeister, aber er würde diesen Titel bestimmt nicht akzeptieren und ob er unsere Beziehung als Freundschaft bezeichnen würde, weiß ich nicht - mein Ratschlag gebender Masseur also, würde zweifellos sagen: "Da hast du dich aber in etwas verrannt. Bist blind in eine Falle getappt. Wache auf und kehre um. Sonst sitzt du zwischen allen Stühlen"
Und recht hätte er. Ich sitze zwischen den Stühlen. Mein bisheriges Leben ist mir gründlich verleidet. Ich habe es über. Schon seit Jahren suche ich einen Ausgang daraus. Einen nicht schuldhaften Abgang. Habe es aber bisher nicht geschafft, mich von Job und Ehefrau zu trennen. Von den liebesentleerten Gewohnheitsmustern, in denen wir uns miteinander bewegen, und von dem alltäglichen Kram und der Routine im Büro und den Entscheidungen, die über meinen Kopf hinweg getroffen werden und hinter denen ich nicht stehen kann, wenn ich mich selbst ernst nehme. Habe es bisher nicht geschafft, die Zelte abzubrechen und meinen Traum von einem Haus mit Olivengarten in Ligurien wahr werden zu lassen, nicht mit diesem Menschen an meiner Seite, der dies für eine der üblichen unrealistischen, um Dekaden verspätete 70erjahre Aussteigerfantasien hält, was es in unserer Konstellation auch ist.
Und jetzt gibt es Ellen. Mit ihr wäre das alles möglich. Ich bin mir sicher. Die Umstände, unter denen wir uns begegnen, sind allerdings nicht optimal dafür, unsere Beziehung müsste transformiert werden... Wie auch immer... Ich weiß, ich kann mich von Ellen nicht mehr lösen. Sie nicht mehr loslassen. Ich würde auf der Stelle meine Ehe aufgeben und mich mit ihr zusammentun. Wenn sie mit nur ihrem kleinen Finger winken würde. Aber sie winkt nicht...
Sie kann doch nicht wirklich mit dem Leben zufrieden sein, welches sie jetzt führt, weswegen sagt sie nicht "Ziehen wir zusammen, sorge für mich, für dich kann ich alles aufgeben, so wie du für mich"?
Mein skeptisches Vernunft-Ich schließt daraus: Sie will nicht. Entweder nicht mich oder kein anderes Leben. Mein hoffnungsfrohes Gefühls-Ich sagt dagegen: So tief, so reich, so übervoll wie du jetzt empfindest, hast du noch nie in deinem Leben etwas empfunden. Es muss etwas daran sein. Diese Gefühle können nicht aus dem Nichts kommen. Auch sie wird irgendwann akzeptieren wie einmalig unsere Beziehung ist und sich darauf einlassen. Wenn sie ihren Job überdrüssig ist. Wenn sie erkennt, dass mein Angebot eine wirkliche Alternative dazu ist. Wenn, wenn...
Vielleicht hätte Franco, mein Psychomeister-Masseur, doch recht: Ich bin in eine gar nicht so seltene Falle getappt, in meiner Sehnsucht und meiner Bereitschaft zur Gefühlsüberhöhung, und bin nur zu blöde, um dies zu erkennen und vor allem auch zu akzeptieren. Seltsam, ich hätte nie gedacht, dass ich von mir einmal sagen kann, ich bin jemandem oder etwas verfallen...
Doch nicht ich. Die Junkies, die sind ihrem Stoff verfallen. Es gibt Workaholics, Shopaholics, Säufer, Erotomanen... Alle in Suchtszenarien gefangen. Bin auch ich etwa süchtig?
Ich bin Sehnsuchtsgefangen, das gebe ich zu. Doch nur, wenn ich nicht bei ihr bin. Bei ihr bin ich Schönheitstrunken, Liebestrunken, gesteigert sensibel und empfänglich für alles, was von ihr ausgeht. Für das, was sie mir gibt. Und diese Zärtlichkeit in den Berührungen ihrer streichelnden Finger auf meiner Haut, dieser von weit her kommende, traurige und nahe und mich aus mir heraushebende Blick, mit dem sie mich schon vor der Umarmung umarmt und die Umarmung selbst und ihre völlig gelöste Hingabe dabei - alles das muss wirklich sein, muss auf etwas Realem beruhen. Etwas verbindet uns. Ich erlebe es so deutlich, so überwirklich, so empfindungsgesättigt, wie ich noch nie in meinem bisherigen Leben etwas erfahren habe.
Wenn ich an Magie glauben würde, würde ich etwas Magisches vermuten, eine Verzauberung - Aber ja, wenn ich bei ihr bin, glaube ich an Magie.
Ich habe irgendwo einmal den Ausdruck "Mondfrauenmensch" gelesen, die Göttin als Glanzseele, als Erscheinung im Mondlicht, im Zauberlicht des Himmelspiegels, in dessen helldunklen Schein Geheimnisse zugleich offen liegen und sich verbergen - so kommt sie mir vor: Als ein Mondfrauenmensch...
Es ist eine Art Unberührtheit, die sie umgibt, sie wie eine Aura einhüllt, umschwebt, ich kann es nicht besser ausdrücken. Und gleichzeitig ist sie sehr konkret da, der Sex mit ihr ist das Beste, was ich je auf diesem Gebiet erlebt habe - wobei ich, offen zugegeben, nicht sehr viele Vergleichsmöglichkeiten habe und vor allem die frustrierenden Pflichtveranstaltungen meiner Frau jedes andere Verhalten als Paradies erscheinen lassen.
"Wenn du dich selbst sehen könntest, deinen Blick, während wir uns lieben und danach: rätselhaft, verloren, abwesend, völlig anwesend - es gibt nur uns und diesen Moment der Fülle, nur uns und die blanke Gegenwart - dann wüsstest du, warum ich dich brauche und dich für jemanden außerhalb des Irdischen halte. Einen Extraterrestrier der Innenwelt. Ich brauche Engel, um überleben zu können. Und du bist das engelähnlichste, was mir in meinem Leben je begegnet ist." So oder so ähnlich habe ich ihr einmal zu erklären versucht, warum sie mir so wichtig geworden ist.
Ich weiß, ich bin am Verdursten. Bin dabei, auszutrocknen. Man kann nicht jahrzehntelang am selben Schreibtisch sitzen und denselben täglichen Kleinkram erledigen (in Wahrheit wechselten Schreibtisch und Kram immer wieder, aber es kommt mir so vor, als ob es ein ewiges Gleiches wäre.), ohne an Substanz zu verlieren, ohne etwas von dem ursprünglich vorhandenen Lebensschwung einzubüßen. Ich habe mich auf einer Schwundstufe eingerichtet. Und verschwinde nun mir selbst.
Der gemeinsam mit meiner Frau geträumte Traum vom eigenen Haus ist realisiert worden, alles was wir an Zeit und Geld aufbringen konnten, haben wir in dieses Projekt gesteckt, und nun weiß ich nicht, was ich in diesem Haus mit ihr und mir anfangen soll. Was es darüber hinaus noch an Gemeinsamem gibt. Eine erschreckende Erkenntnis, die mir irgendwann aufgedämmert ist.
Meine Frau interessiert sich nicht für das, womit ich mich angefangen habe zu beschäftigen. Sie hält es für Psychokrempel oder Esoterikspinnerei.
"Den Weg der inneren Entwicklung gehen" - sehr schön, aber nicht gerade jetzt, heute sind praktischere Entscheidungen zu treffen: Was ist mit der aufgeschobenen Bonitätsprüfung, was mit dem überfälligen Termin bei unserem Steuerberater, was mit der notwendigen Reparatur des Wasserhahns im Garten, der durch deine Unachtsamkeit im Winter eingefroren ist und nun leckt?
Ich kann ihre leicht ins Schrille übergehende Stimme in meiner Vorstellung fast hören, wie sie mein zögerndes Beginnen wegwischt und das Gespräch, das ich anfangen wollte abblockt.
Wie anders dagegen die Stimme von Ellen. Nichts Hartes, Kreischendes, Zersetzendes. Ich löse mich augenblicklich in ihrer Sanftheit auf, zerfließe in ihrer Wärme, werde aufgesogen in einen ganzen Kosmos von Empfindungen, höre ich deren Hauchklang, wenn Ellen mich begrüßt. Und dann das weitere Willkommen...
Später sprudelt es nur so aus mir heraus, alles, was ich in der öden Zeit zwischen unseren Begegnungen gelesen, gedacht, gefühlt habe und was ich jetzt jemand verständnisvoll Zuhörendem vortragen kann. Ich brauche sie als Zuhörer. Und sie ist gut darin. Wie auch in allem anderen. Sie weiß die richtigen Fragen zu fragen, weiß, wann das Gespräch in ein Schweigen übergehen kann ohne abzubrechen, weiß, was ich im Augenblick nötig habe und wie es um mich steht.
Sie gibt mir Geborgenheit, aber gleichzeitig und viel stärker noch kann ich mich bei ihr als Beschützer sehen. Etwas Kostbares zu behüten, zu beschützen: was für eine bereichernde Aufgabe! Etwas Zerbrechliches, Flüchtiges zu beschirmen und Zerstörung abzuwehren: was für eine Heldenrolle! Es drängt mich einfach danach, bei ihr diesen Part zu übernehmen. Und sie ist dabei die beste Besetzung für die Prinzessin.
Nicht ganz so gut kommt allerdings bei ihr an, welche Rolle ich im wirklichen Leben spiele, in meinem realen Beziehungsleben. Ich weiß, ich mache in ihren Augen keine gute Figur, wenn ich es nicht fertig bringe, einen klaren Schnitt zu machen und mich von meiner Frau zu lösen; ohne Absicherung alles Erreichte aufzugeben, um frei zu sein etwas Neues beginnen zu können.
Doch ich kann das nicht tun, ohne zu wissen, ob sie da sein wird, wenn ich diesen Schritt wage. Ohne sicheren Gewinn möchte ich das alte Leben nicht einfach aufgeben, den Stress des Enttäuschen müssens nicht auf mich nehmen, der Auseinandersetzung über Vermögen, über das Haus, das belastende Erlebnis der Teilung der Einrichtung und des Auseinanderfallens des Bekanntenkreises, und einfach sagen: Ich gehe.
Ist das feige? Ich glaube ja. Ellen hat es mir zwar nicht so direkt vorgeworfen, aber sie hat ihre Gedanken darüber einmal angedeutet und ein Urteil von ihr ist immer klar und entschieden, auch wenn sie es zurückhält. Sie mag kein Hin und Her schwanken und nicht wissen, was man will.
Doch, doch, ich weiß, was ich will, aber ich weiß nicht wirklich, was SIE will und ob sie dieselben Wünsche wie ich hat. Wann immer ich mich an ihrer Seite in ein anderes Leben hineinphantasiert habe, mir ausgemalt habe, wie es sein würde, ein altes Bauernhaus in Ligurien oder in der Toskana zu kaufen, es herzurichten, die dazugehörigen Olivenbäume zu pflegen, die Oliven zu ernten und Öl daraus zu pressen, sich um Direktmarketing über das Internet zu kümmern, einen kleinen aber feinen Betrieb für Premiumprodukte aufzubauen - und sie selbst würde sich im Haus einen Praxisraum einrichten, ein Tischchen, zwei über Eck gestellte bequeme Sessel, eine noch bequemere Sesselliege für die Hypnosetherapie, alles bereit für ihre Kunden, die nach Italien kämen um sich zu erholen und sich von ihr coachen zu lassen, um eine neue Lebensaufgabe zu finden oder mit sich selbst ins Reine zu kommen - wann immer ich laut vor mich hin geträumt habe, war ihr einziger Kommentar dazu:
"Ja, das wäre schön."
Nie ist sie in ein solches Szenario selbst lebhaft eingestiegen, enthusiastisch wie ich, mein Schwärmen noch überbietend… Sieht so Zustimmung, Einverständnis aus? Aber ich werde etwas tun. Ich werde ihr beweisen, dass ich es ernst meine und sie auf mich setzen kann.
Weiter nächstes Kapitel: Ellen