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HELENADREIECK
(novel under construction)


Inhalt:

Prolog + Johannes + Ellen + Magnus + Der Engel der gescheiterten Hoffnung



Der Engel der gescheiterten Hoffnung

(Epilog: Der Engel der gescheiterten Hoffnungen spricht. Was verfehlt wurde, was nicht mehr in Ordnung gebracht werden kann, was als Hoffnung begraben werden muss wird von ihm bewahrt und zum Neubeginn zurückgegeben. Wiederum Unendlichkeit der Möglichkeiten.)

Die Alltagsebene zeigt drei Menschen, die emotional aneinander gebunden sind, deren Lebensläufe miteinander verstrickt sind. Auf dieser Ebene gibt es keine Auflösung des Knotens. Es gibt jedoch eine surreale Ebene, die des "Engels der gescheiterten Hoffnungen, der nichtrealisierten Möglichkeiten" (des Nachbarn von Ellen), auf welcher deren Leben wie ein Ausschnitt aus einer viel weiter gefassten Erzählung erscheint. Sie steht im Zusammenhang mit dem Simon-Magus-Mythos, als dessen Reflexion in der Gegenwart. Aus dem Ozean der Erzählungen schöpft der Engel die Geschichte der Drei, verändert sie auch, gibt dem Ganzen einen anderen Schluss, verwirft und ändert wieder. Ellen stirbt - Ellen wird geopfert - Ellen befreit sich von Magnus; Magnus wird verrückt - Magnus begeht Selbstmord - Magnus verschwindet spurlos; Johannes zieht mit Ellen zusammen - Johannes findet sich selbst im Alleinsein - Johannes kehrt zu seiner Frau zurück. Unendliche Variationen in einem unendlichen Möglichkeitsraum (oder in Parallelwelten).

**

"Manchmal glaube ich, ich bin ein Engel. So wie man sich einen Engel denkt. Ein unkörperliches Wesen mit einer Aufgabe. Bote zu sein, oder Erfüller, oder Tröster. Das alles bin ich irgendwie auch. Allerdings bin ich nicht unkörperlich. Denn bei Gelegenheit erinnere ich mich an meinen Körper - oder, anders gesehen, der Körper erinnert mich an sich. Oder sich an mich? Dann finde ich mich an irgendeinem Ort, finde mich gehend, meine Beine bewegend, umherblickend, finde mich sprechend, tue etwas, reagiere auf irgendetwas. Und beobachte mich dabei, oder wenigstens meinen Körper. Den ich also doch habe. Aber mein eigentliches Leben ist ganz woanders.
Wo dieses Woanders ist, weiß ich nicht. Wo in Bezug zu dem Ort, an dem mein Körper sich bewegt. Vielleicht sollte ich mich eher fragen, was dieses Woanders ist. Ebenso wie, was dieser Ort ist, an den ich immer wieder zurückkehre, da ich an ihn irgendwie gebunden bin. Durch meinen Körper an ihn gebunden.
Dann bin ich in einem Zimmer (meinem Zimmer) in einem großen Gebäude (meinem Zuhause), stehe an der Tür zu diesem Zimmer oder schaue durch ein Fenster in diesem Zimmer auf eine weite Landschaft. Im Sonnenschein oder im Regengrau oder in der Dämmerung. Ich schaue in den Himmel über dieser Landschaft und fühle meine Verwandtschaft mit den Wolken über ihr und dem Lichtspiel in den Wolken. Fühle mich dort oben (von meinem Körper im Zimmer aus gesehen scheint es oben) von einer Weite und Leichtigkeit angezogen, die im Gegensatz steht zu der Enge des Zimmers und erst recht zu der Enge des Körpers im Zimmer, in dem ich stecke.
Verwundert bin ich schon, wie ich an ein solches Gehäuse gebunden sein kann, aber das geschieht selten. Kommt seltener vor als der freie Flug durch den eigentlichen Ort, an dem ich mich richtig anfühle. Nur: wo bin ich dann? Und als wer oder was bin ich dort unterwegs? Öfters denke ich: bin ich vielleicht ein Engel? Ich glaube nämlich, dass ich eine Aufgabe habe. Von wem an mich delegiert weiß ich nicht. Aber ich weiß, um was es dabei geht. Und ich handele danach."

"Ich bin ein Traumfänger. Ich fange Träume. Fange Geschichten. Nicht nur meine eigenen, das kann wohl jeder, jeder der sich auf seine Träume einlässt, sie erlebt und sich erinnert, bevor sie ins Nichts zerrinnen. Nein, Träume überhaupt, Träume auch von anderen. Wie auch verlorene Wünsche. Aufgegebene Hoffnungen. Nicht realisierte Möglichkeiten. Wieso ich aber diese Fähigkeit habe, weiß ich nicht. Ich kenne niemand sonst, der so ist wie ich. Oder annähernd so.
Vielleicht liegt es ja daran, dass ich nicht sehr viele Menschen kenne, ein zurückgezogenes Leben führe. Im Abseits. Doch auch dort, wo ich wirklicher unterwegs bin als zwischen meinen Mitmenschen, bin ich einsam. Auch dort finde ich niemanden, finde ich nichts. Keine Welt voller Wesen gleich mir.
Doch die Träume finde ich, die Träume finden mich, ich kann sie überall entdecken. Bilder, Erzählungen, Gedankenwebereien. So sammle ich sie ein. Fange sie. Keineswegs nur nächtliche Schlafträume oder auch Tagträume, ich sammle alles, was wie ein Traum verfliegt, sich im blauen Himmel der (für die meisten einzigen) Realität auflöst, unter der Sonne ihrer hartleibigen Wirklichkeit verdunstet und nur wie eine gewesene Möglichkeit umhergeistert. Immer noch umhergeistert, ohne Landeplatz auf dem Boden der sogenannten Tatsachenwelt.
Für mich jedoch sind diese sich verflüchtigenden Träume etwas Reales: Ich sehe sie überall, erkenne sie in Gesichtern, die schon lange ihren Traum verloren haben, lese sie in Schlagzeilen von Zeitungen, die in Großlettern von Katastrophen und Niederlagen berichten, finde sie in den Fernsehnachrichten, in Websitenews, beobachte sie in der Atmosphäre, in den Farben des Sonnenuntergangs. Und vor allem natürlich in meinen eigenen Traumwanderungen.
Als Traumfänger habe ich mich auf verloren gegangene Träume spezialisiert. Ich sammle sie ein und verwahre sie. Für wen? Für was? Das wird sich zeigen. Noch ist es mir ein Rätsel. Bis jetzt bin ich niemandem begegnet, dem ich das Traumgespinst hätte übergeben können. Einem göttlichen Wesen oder einem anderem Engel (wie ich vielleicht auch einer bin) oder so. Ich weiß nicht wirklich, ob mein Sammeln eine Bedeutung hat. Einem Zweck dient. Weiß deshalb nicht, warum ich es tue. Ich glaube jedoch, dass es dafür einen mir jetzt noch verborgenen Sinn gibt. Den ich irgendwann erfahren werde. Hoffe ich."

"Träume sind flüchtig. Sie können nicht für länger aufbewahrt werden, in keinem Medium. Selbstverständlich in keinem materiellen, doch auch sonst nicht. Sie vergehen mit dem Augenblick, in dem sie geboren werden. Möglichkeiten verblassen aus der Existenz, werden sie nicht aufgegriffen und realisiert. Aber ich sehe sie trotzdem. Sie schweben als Wolken vor mir, lösen sich als Blasen von ihrem Realitätsgrund, ich ergreife sie, bringe sie in mein Archiv. Dazu müssen sie umgewandelt werden. In Erzählungen. Durch Nacherzählen. Geschichten halten sich. Manche jahrhundertelang. Mein Archiv ist aus demselben Stoff, wie auch die Träume sind. Nur dauerhafter. Immer wieder erneuert. Wie jede sich selbst organisierende Form, durch die der ständige Strom der werdenden und vergehenden Einzelelemente hindurchgeht und sie so aufrecht erhält.
Ich bewahre die verlorenen Träume und Möglichkeiten nicht nur, weil ich die Fähigkeit habe, sie aufzugreifen, sondern vor allem, weil ich glaube, dass sie aufgehoben gehören. Ich sehe mich als ein Kämpfer gegen das Nichts, die Vernichtung, das Vergessen. Nichts soll verloren gehen. Alles ist es wert, bewahrt zu werden. Alles, was je in Existenz getreten ist, alles, was je als Möglichkeit existiert hat. Es gehört zum Ganzen. Es wird sich zum Ganzen fügen, wenn abgerechnet wird. Dann wird meine Sammlung Sinn machen. Weil sie dort ergänzt, wo aus den unendlichen Möglichkeiten eine einzige, dimensionsverarmte Realitätsspur ausgefällt wurde. Das Ganze ist mehr als das Gewordene. Das nicht Gewordene gehört dazu. Und das Gescheiterte gehört dazu. Das vergeblich Erstrebte. Auch die aufgegebene Hoffnung. Die abgebrochene Entwicklung. Das nicht in Erfüllung gegangene.
Andere (falls es andere gibt) mögen dafür sorgen, dass die Ernte eines erfüllten Lebens nicht verloren geht und verweht, dass eine reiche Entwicklung nicht verblüht und spurlos vergeht, auch das wäre tragisch, auch das wäre etwas, was aufgefangen, aufgehoben werden müsste, in imaginären Schatzkammern der Erfahrung, in überweltlichen Archiven des Lebens - ich kümmere mich um die nicht realisierten Möglichkeiten. Das ist mein Spezialgebiet. Ich kümmere mich darum, weil es mich bekümmert."

"Es mag ja sein, dass Einsamkeit und eine leicht depressive Grundstimmung mir nahe legen, mich eher damit zu beschäftigen, als mit den glücklich erfüllten Möglichkeiten. Dem Erfolg. Dem Triumph. Trotzdem finde ich, dass es ein grundlegenderes Motiv gibt, was mich umtreibt: mein Gefühl für Gerechtigkeit, für erlittenes Unrecht. Ich möchte den gescheiterten Träumen auf irgendeine Weise Gerechtigkeit verschaffen. Möchte auf irgendeine Weise wiedergutmachen. Hilft das, was ich tue, dazu? Ich weiß es nicht. Aber es könnte doch.
Dem Bergsteiger, der schon fast erfroren in der Steilwand hängt, während sich sein Traum von der Erstbezwingung einer vorher noch nie durchkletterten Route allmählich in Nichts auflöst, aus der Realisationssphäre fällt, wie kann mein Aufsammeln seiner verlorenen Bemühungen ihm noch helfen? Weiß es wirklich nicht, ich weiß nur, dass ich seinen Traum, seine Intention, seinen Impuls, sein Wagnis und sein Scheitern aufbewahren werde. Ihm ist sein Traum mit seinem Leben entglitten. Ich habe diesen aufgefangen. So ist es. Nicht mehr.
Auf diese Weise habe ich eine reiche Sammlung von nichtgebauten Gebäuden, verlorenen Siegen, ungeschriebenen oder nicht veröffentlichten Büchern, von wirklich tollen, aber (aus unerfindlichen Gründen) geplatzten Geschäften, erloschenem Glauben an die Wiederkehr einer geliebten Person, versäumten Möglichkeiten der Versöhnung und vielem, vielem weiterem angelegt. Von Projekten und Hoffnungen, deren Spuren sich in der Geschichte verloren haben. Was mir so über den Weg gelaufen ist, auf meinen Streifzügen im Klarlicht der imaginativen Welten. Den Unendlichkeitswelten.

Für mich sind diese wie ein Ozean aus Bildern und Erzählungen. Ich tauche in ihn ein, oder er taucht in mir auf, sobald ich meine Körperaugen schließe. Von seinem Grund stoße ich mich ab, gewinne Auftrieb, lasse mich in der Dünung der Geschichten hin und her bewegen, mal sanft von ihnen umflossen, mal heftig bedrängt, von der Gewalt einer Strömung mitgerissen, steige auf, bis ich an die Oberfläche des Ozeans komme und sie durchbreche - und mich irgendwo gestrandet finde, im, wie die anderen sagen würden, realen Leben. Wo ich mir wie fremd vorkomme. Ausgesetzt in eine Ödnis.
Obwohl, wenn ich den Schock der Fremdheit überwunden habe, kann ich Beziehungen und Analogien bemerken, die alles doch wiederum zusammenbinden, es gibt kein nur äußerliches Außen. Als ob die Geschichten auch von dem erzählen würden, was vor meinen geöffneten Augen liegt, als ob sie alles durchtränkten. Als ob in Wirklichkeit alles erst durch Erzählen real wird und Form annimmt und Sichtbarkeit. Auch die scheinbar äußerlichen Dinge setzen sich aus Erzähltem zusammen, bestehen daraus, berichten von sich und ihrer Geschichte in einer Erzählung. Auf diese Art erscheinen sie. Ich sehen Ströme von Geschichten durch und über sie ziehen, als leichtes, lichtes Wassergekräusel an einer Oberfläche oder als sturmgeschaffene Wellenkämme und -täler, je nachdem. Dadurch kommen mir die Dinge eher wieder wie Traumstoff vor, ähnlich dem, was ich im reinen Möglichkeitsraum erlebe, Tagtraum und Realität vermischt sich und sind eins. Zwei Zugänge zur gleichen Sache, ineinander geschoben und sich überlagernd."

"Dieses Umhertreiben und Umherstreifen im Ozean der Träume und Geschichten ist nicht immer nur harmlos, manchmal kommt in mir eine Stimmung der Bedrohung auf, ich spüre eine Gefahr, obwohl ich nicht sagen kann, wovor ich mich zu fürchten habe. Dann erscheint mir der Ozean wie ein Labyrinth, aus dem ich herausfinden muss, ich bin in Strudeln und Sogwirbeln gefangen, werde umher geschleudert, feindlichen Kräften ausgeliefert. Ich muss mich um eine sichere Einfachheit, um die Klarheit einer stillstehenden Ordnung mühen, um der endlosen, ausgangslosen Verlorenheit zu entkommen, in der sich mein Traumzuhause verwandelt hat. Rettung ist, wenn ich mich den Erzählungen verschließe, mich aus ihrem Bann gewaltsam losreiße und mich dadurch in einer stummen und erlösend oberflächlichen Welt wiederfinde. Jetzt bin ich auch kein Engel mehr, sondern nur der wie verwirrt im Flur vor seiner Tür stehende isolierte Einzelgänger.

Gottseidank ist dieser Zustand nur vorübergehend, die meiste Zeit kann ich mich im Ozean der Traumgeschichten bewegen, ohne von ihnen überwältigt zu werden oder mich in ihm aufzulösen. In ihm bin ich auch meiner Nachbarin begegnet und habe angefangen, die Geschichten zu beobachten, die sich um sie zusammenziehen, durch sie hindurch gehen und wie Wolken in unzählige Welten verschwinden. Ich werde einige davon für sie bewahren. Doch welche?
Eine uralte, verblasste Geschichte lege ich zusätzlich in ihr Fach, ihren Ablageort - wobei das Wort Ablage oder Ort und die Bilder, die damit verbunden sind, nur als Schlüssel zur Decodierung überall verstreuter und zu findenden Hinweise aufeinander zu verstehen sind - diese ausgedünnte, in Rudimente zerfallene Geschichte kann in Nachbarschaft zum Lebensbild meiner Nachbarin selbst wieder Farbe, Fülle und Lebendigkeit bekommen, eine Auffrischung erhalten.
Ich habe herausgefunden, dass es zwar sinnlos ist, in diesem unendlich bewegten und sich verändernden Ozean mit Gleichheitszeichen zu hantieren, Gleichungen gehen hier nie auf, existieren nicht, jedoch Ähnlichkeiten und Verwandtschaften. Und legt man zwei Geschichten nebeneinander, verähneln sie sich, gleichen sie sich aneinander an, ohne ihre Eigenheit zu verlieren. Manchmal wie transparente Bilder, die, übereinender gelegt, einen anderen Hintergrund und dadurch eine andere Aussage erhalten, manchmal wie sich ergänzende Geschichten, die sich gegenseitig erhellen oder deren Elemente sich durch ihre Ähnlichkeit verstärken, durch ihre Gegensätzlichkeit konturieren.
In den Geschichten meiner Nachbarin fand sich etwas wie ein Nachklang einer anderen Geschichte, ein Echo eines längst verklungenen Tones, einst präsent, dann vergangen, doch sich über den Zeithorizont ausbreitend und noch immer Wellen schlagend, wenn auch nur sachte und vielfach gebrochen. Ich selbst habe diese Geschichte in meine Sammlung der zerronnenen Großideen aufgenommen, die im Konkurrenzkampf mit anderen Großideen den Kürzeren gezogen haben, obwohl nicht weniger kühn, weitreichend und impulsgebend. In welch anderer Welt wohl die Kirche der Heiligen Hure Helena und des Großmagiers Simon florierte oder noch floriert? In der mir bekannten jedenfalls nicht, dort ist ein anderer Magier erfolgreicher gewesen, dessen Gefolgschaft sich durchsetzte, alle anderen Mitbewerber um die Gunst der Öffentlichkeit verdrängend.
Die Farbe einer Geschichte kann mit der Farbe einer anderen interagieren, diese transparent überlagern oder zur Mischfarbe verändern, der Prozess kann sich unabhängig von jedem zeitlichen Verlauf entwickeln (ein wahres Paradoxon), die ferne Vergangenheit wird ebenso beeinflusst wie die Gegenwart, einschließlich der Vergangenheit der Gegenwart.
Wenn ich also Magnus und Simon zusammenbringe, verändere ich beide, ich gebe der Geschichte von Magnus eine andere Tiefe und erzähle die Geschichte von Simon ein wenig anders, die Erzählung von Helena wird fortgesetzt und erweitert, so wie sie schon immer fortgeschrieben worden ist, als Sehnsuchtsfluchtpunkt der Schönheit."