HELENADREIECK
(novel under construction)
Inhalt:
Prolog + Johannes + Ellen + Magnus + Der Engel der gescheiterten Hoffnung
Magnus
Es ist merkwürdig, wie viele Leerstellen es in meiner Erinnerung gibt - Schwundzeiten, die in meinem Leben anscheinend keine große Rolle gespielt haben, wie im Zeitraffer vergangen sind. Fast wie spurlos vorübergegangen: nicht Erinnerns wert. Andere Augenblicke dagegen haben sich mir tief eingeprägt, ich lebe weiterhin davon.
So höre ich meine Großmutter (die Ahnung einer Stimme) aus einem Kinderbuch vorlesen, ich schaue auf die Bilder, und das kleine Kind versteht nicht und begreift doch. "Warte noch ein Weilchen, es ist noch viel zu früh..."
Was arbeitet da noch in mir, mit was bin ich noch immer verbunden?
Was für mich war, seit ich denken kann - und die vorlesende Stimme meiner Großmutter steht damit wohl im Zusammenhang - ist die drängende Sehnsucht nach dem Großen Anderen. Etwas tritt ein und alles ist anders. Ist wirklich. Wirklicher. Tiefer als die Flachheit des Jetzt. Gleich hinter der nächsten Biegung, hinter der geschlossenen Tür vor mir muss es liegen: das gelobte Land. Das verlorene Land. Das versprochene.
Dieses Gefühl, manchmal versunken, manchmal an die Oberfläche tretend, begleitet mich, treibt mich um, macht mich jedoch oft unwillig gegenüber dem Tag. Es lässt mich von dem abwenden, was ich stattdessen haben kann. Als dürftigen Ersatz: Zeitvertreib, Besitzstand, Konsumrausch. Ich hake alles, was derart an mich herangetragen wird, als nicht Eigentlich unter "Vorläufig" ab.
Es gibt nur weniges, was nicht vorläufig wäre - leichthändig aufzugeben für den großen Durchbruch.
Zunehmend trübt sich allerdings diese lichte Erwartungshoffnung ein: in der sich langsam durchsetzenden Enttäuschung darüber, dass dieser Durchbruch noch immer nicht stattgefunden hat. In einer allmählich aufkommenden Verzweiflung darüber, dass er wahrscheinlich nie stattfinden wird - realistisch gesehen. Wenn man sich an Realitäten hält.
Doch gerade das will ich nicht. Ich bin nicht bereit, mich an sogenannte Realitäten zu halten. An DIE Realität, wie ihre Gläubigen sagen. Wobei diese ebenso wenig wie ich wissen, worin die nun genau besteht. Wer weiß das schon.
Leben wir in einer Welt, die von Bewusstsein durchdrungen und bestimmt ist? In einer Welt, die rein physikalisch erklärbar ist, doch wundersamer weise nach noch unerforschten Gesetzmäßigkeiten uns selbst enthält? Leben wir in einer Welt, die Sinn macht? Eine Welt, die sinnlos ist? Oder eine, in der Sinn von uns selbst geschaffen werden muss?
Große Fragen und keine Antworten, besser gesagt: jede Menge Antworten, doch welche stimmt? Ich jedenfalls habe mich dazu entschlossen, mir meinen Sinn selbst zu geben.
Sinnlos zu leben kann ich nicht ertragen, einen vorgegebenen Sinn kann ich nicht unangezweifelt lassen. Die Kindermärchen, wie mir die an mich herangetragenen populären Welterklärungen vorkommen, einschließlich oder besonders die hardcore-naturwissenschaftlichen, befriedigen mich nicht mehr, Naivität oder Geschwafel öden mich an. Experimentelles Gedankenknüpfen entspricht mir schon eher. Ich schließe daher nichts von vorneherein aus, kommt es auch für das durchschnittliche Mainstreamdenken eher abstrus daher. Ausprobieren! Etwas daraus machen!
So bin ich auf die Magie gekommen. Nicht auf die alte, betuliche Zeremonialmagie, abgekupfert noch immer bei den Renaissancemagiern, die ihrerseits eine uralte antike Überlieferung fabulierten, gebunden an die tief eingefahrenen Gleise der Tradition, sondern auf eine neue, moderne: Chaosmagie.
Im Grunde wollte ich wissen, ob es so etwas wie eine magische Wirkung überhaupt gibt. Verblöde ich mich selbst, wenn ich mich auf etwas einlasse, was zwar seit jeher geglaubt und praktiziert wurde, jedoch auf der Basis eines unzureichenden Wissens um die wirklichen Kräfte, welche die Welt wirken - Veränderungen in der Psyche einmal beiseite gesetzt - vermindere ich mich also selbst, indem ich eine überholte Bewusstseinshaltung wieder aufpoliere?
Oder gibt es hier, im Gegenteil, einen Zugang zu den Kräften hinter den Kulissen, den Abschirmungen, welche durch das Normalbewusstsein üblicherweise um sich aufgerichtet werden - abgeschnitten von dem, dem es sich verdankt, verzwergt gegenüber dem, was es sein könnte?
Wie zum Beispiel ist das zu erklären, was ich als gelenkten Zufall bezeichne: Auf ungeplante Weise stößt mir das zu, was ich für ein vorgenommenes Ziel benötige - ohne dies vorher zu wissen und daher bewusst anzugehen? Gelenkt, weil es meinen Wünschen entspricht, Zufall, weil nicht eingeplant?
Ich fing an, darauf zu achten, was zu mir kommt - wem ich begegne, was ich finde ohne zu suchen und ob etwas zu mir spricht: als Zeichen.
Ich fing an auf Zeichen zu achten und fand sie überall. Fand in allem Muster, die sich als Zusammenhänge offenbarten. Und so wie man ein Gewebe auflösen kann, indem man am richtigen Faden zupft oder ein Gewebe wirken kann, wenn man das Wissen und das Handwerkszeug dazu hat, zupfte und wirkte ich mit meiner Chaosmagie an den Ereignismustern und war gespannt auf das Ergebnis.
Am Anfang meines Experimentierens sprach ich noch mit Ellen darüber, über meine Entdeckungen und Bestätigungen und meine Verwunderung und auch Begeisterung über manche Resultate, sie blieb jedoch eher skeptisch und meinte, ich solle mich hüten, aus Ereignissen herauszulesen, was ich vorher hineingelesen hätte - so wurden meine Mitteilungen darüber karger und schließlich verschloss ich mich. Ich experimentierte aber weiter.
Chaosmagie ist eine "Magie der leeren Hand": ich brauche kein vorgeschriebenes Ritual dazu, obwohl man sich auch daran halten könnte, ich brauche keine Gebete oder Zauberformeln. Ich muss mich nicht auf eine bestimmte Verfahrensweise festlegen, einem bestimmten Glauben anhängen. Alles, was wirkt, kann verwendet werden.
Doch was zu oft verwendet wird, bindet. Plötzlich ist die Kabbala (oder die Astrologie oder der Voodoo) einzige Realität, andere Möglichkeiten schwinden. Das wollte ich nicht. Warum sollte ich, um dem üblichen Wahnsystem zu entgehen, in ein magisches Wahnsystem investieren? Ich wollte mich von der Normalansicht über die Welt befreien, doch nicht, um in eine andere Falle zu tappen, verquer zu ihr.
Was mich an der Magie reizt, ist gerade die Freiheit, die sie mir gibt, anders über die Welt zu denken. Zu denken, dass wir nicht ausschließlich in ein Netz von Kausalitäten verstrickt sind, so wie die Naturwissenschaft es nahelegt: Dass wir in Wahrheit nur mechanische Puppen sind, von uns fremden Kräften gesteuert, wir nur das ausführen, was ohne uns schon längst - und das vielleicht von Anfang der Zeiten an - ins Laufen gekommen ist.
Dagegen wollte ich denken dürfen, dass mir alle Möglichkeiten jederzeit offen stehen, ich mich frei in einem Möglichkeitsraum bewegen kann, vorausgesetzt, ich eigne mir Techniken an, mit denen dies zu bewerkstelligen ist. Und Magie schien mir ein Weg zu sein, solche Techniken einzuüben. Mentaltechniken.
Um Muster zu erkennen und Einblick in den Zusammenhang hinter den Zufällen zu bekommen, trainierte ich also einen "Sinn" für solches, ein Gespür für Relevantes. Durch Meditation, durch Achtsam sein, durch Aussenden von Willensimpulsen und der Beobachtung von Ereignissen, die sich darauf beziehen könnten
Ich begann, reale Geschehnisse so anzusehen, als ob sie in meinen Träumen vorkommen würden - Rätsel, die Bedeutung hatten, wenn auch nicht eine restlos aufklärbare. Einmal packte ich die Frage nach dem Erfolg einer Sache, verbunden mit der Bitte um eine Antwort, in einen konzentrierten innerlichen Willensimpuls und schickte diesen mit einem Stoß in die Weite, weg von mir. Danach vermied ich jedes Denken daran. Wartete ab, ob sich mir irgendetwas Ungewöhnliches oder Seltsames aufdrängen würde. Als ein Zeichen eben.
Am selben Tag begegnete mir eine Gruppe von drei hintereinander radelnden weiblichen Rikscha-Fahrerinnen, die, weitab von irgendeiner Touristenroute, in einem öden Industriegebiet zu irgendeinem unbekanntem Zweck und Ziel unterwegs waren. Hatten also nichts mit mir zu tun - und dennoch waren sie für mich das Zeichen, auf das ich eingestellt war.
Verblüfft schaute ich ihnen nach, irgendwie durch das Bizarre dieses Anblicks in eine irreale Sphäre versetzt. Ich nahm sie als Traumfiguren an: was bedeuten weibliche Rikscha-Fahrerinnen in einem Traum? Was ihre dreifache Anzahl? Alles sehr merkwürdig. Ich dachte an die drei Nornen, Schicksalsfäden-Spinnerinnen, an eine dreifache Möglichkeit, die sich eröffnen würde, an eine dreifach potenzierte Gelegenheit, durch günstige Umstände mitgenommen zu werden. Weiteres ergab sich allerdings daraus nicht.
Andermal führte mein Experimentieren zu einigen Erfolgen, die jedoch zwiespältig waren: Bestätigung und gleichzeitig Beweis der Belanglosigkeit von dieser Art von Magie. So habe ich einmal versucht, ein Weinglas mit Gedankenkraft zu zerbrechen. Das Glas rührte sich nicht, zerbrach nicht, blieb unbeeindruckt von meinen Bemühungen. Ich gab auf. Beim Aufräumen zersprang es mir in der Hand.
Dann wollte ich einen Geldzauber ausprobieren. Diesmal hielt ich mich an ein Rezept von russischen Hexern für das Herbeiziehen von Geld mit Hilfe von Salz (das Angebot einer Magierin, ihr Öl abzukaufen, mit dessen Hilfe ich an Geld gelangen würde, habe ich nicht in Anspruch genommen: es erinnerte mich zu sehr an die Praktiken afrikanischer Geldjongleure, die zuerst einen im Verhältnis zu den erwarteten Millionen bescheidenen Einsatz fordern, bevor man an das große Geld kommt). Das Einzige, was ich als eine Art Ergebnis interpretieren konnte, war, dass mir ein Angebot über einen Kredit im Briefkasten lag (die übliche Reklamepost), welches ich aber achselzuckend in den Papierkorb warf.
Es gab also etwas, was sich als Wirkung aufdrängte, oft jedoch nebensächlich oder sogar schädlich war. Dummerweise das Gegenteil von dem Beabsichtigten. Wie wenn ein koboldhafter Wunschempfänger die Bitte (den Befehl) zwar aufgenommen, jedoch eigenwillig, gleichzeitig buchstabengetreu ausgeführt hätte.
Nach einem Ritual zur Erlangung eines neuen Fernsehapparates (ich gab mir Mühe, ihn genau zu beschreiben, damit die Bestellung nicht versiebt werden würde), reagierte am nächsten Tag der alte Apparat nicht mehr. Kaputt. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mir einen neuen zu besorgen. Allerdings nicht das gewünschte Modell, das war mir dann doch zu teuer.
So gab ich nach einigem Herumprobieren diese Art der Beschäftigung mit Zauberei auf. Zeitverschwendung. Es ging mir um etwas Grundsätzlicheres.
Ich bin auf den Gedanken gestoßen, dass wir in Wirklichkeit schon immer magisch Wirkende sind, allein dadurch zum Beispiel, dass wir denken. Wie sonst könnte man sich Bewusstsein erklären, wenn nicht als Interaktion zwischen einer Denksphäre und einer biologischen Raumstruktur? Zwischen einem körperlichen Organ und einer Dimension der immateriellen Information?
Wobei wir selbst Anteil an beidem haben, Wesen in beiden und noch weiteren Bereichen sind, Möglichkeitswesen, virtuelle Organismen ebenso wie biologische. Wir übergreifen in unserer Existenz alle Wirklichkeitsbereiche, und diese sind nicht auf das vierdimensionale Raumzeitkontinuum beschränkt, reichen weit darüber hinaus. Die Mathematik der Quantenwelt legt dies nahe.
Und warum sollen wir nicht in allen Dimensionen Wirkende sein, Handelnde, Organisierende? Nur unser biologisches Gehirn begrenzt uns dabei, versperrt uns mit seinen Einschränkungen den bewussten Zugang zu uns selbst als Agierende, unser Licht reicht nicht aus, uns selbst im Dunkeln zu erkennen. Dunkel für unser Bewusstseinslicht, jedoch wirklich und wirksam als Übergreifendes.
Deshalb funktioniert Magie: wir sind in allen Dimensionen präsent. Deshalb funktioniert Magie nicht: wir sind nicht allmächtig, weder als biologische Wesen unter biologischen Wesen, noch als x-dimensionale Wesen unter x-dimensionalen Wesen.
Fertigkeiten müssen erworben werden, Fähigkeiten, in welcher Welt auch immer. Eine Wirksamkeitsstruktur muss geschaffen werden. In mir selbst, als Bewusstsein, oder auch im Außen, als gewissermaßen verkörperte Informationsstruktur. Als Apparat des magischen Geschehens.
Als ich soweit mit meinen Überlegungen gekommen war, hatte ich plötzlich mein Projekt: einen solchen Apparat zu bauen. Und zwar als Rauminstallation. Als ein Kunstwerk. Einen magischen Ort. Als beides. Und Ellen sollte mir dabei behilflich sein. Durch ihr Geld. Und durch sie selbst.
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