WOANDERSWELT: PRÄLUDIUM UND FUGE IN MOLL
Inhalt:
Endstand + Wachsende Verwirrung + Erklärungen + Verschwörer: Rottas Monolog + Korrekturen + Geschichte, alternativ + Verschwinden + Schweben, schwimmen + BruderSohn + Ankunft/Epilog
Ankunft
Er wachte auf, und hatte noch den Namen seines Bruders/Sohnes als Echo seiner Rufe im Ohr - seine eigene flehende, sehnsüchtige Stimme, die den anderen suchte und keine Antwort bekam. Die den Schläfer finden, aufwecken wollte, zur Heimkehr überreden wollte, und den Gesuchten nicht fand.
Im Traum irrte er durch eine verwinkelte, verschachtelte Folge von Fluren, Zimmern und größeren Räumen, durch die er immer tiefer in das verborgene Innere des fremden Hauses geführt wurde, auf der panisch werdenden Suche nach ihm, zwischen schlafenden oder wie toten Körpern, die sich durch sein Rufen nicht aus ihrem Zustand aufwecken ließen. Nur unbekannte Gesichter fremder Schläfer, halb verhüllt durch Decken oder Schlafsäcke, die sich unruhig wälzten, gestört durch seine Stimme. Seine erschrockene Stimme, verzerrt durch die Ahnung des Verlustes: Er würde ihn nicht mehr zwischen den anderen finden, er war ihm in den unzähligen Räumen, die sich ins Endlose erstreckten, verloren gegangen - verloren im Gewirr der schlafenden Körper, die diese Räume füllten.
Mit einem schmerzhaften Herzklopfen, welches diesem Traum-Schreckensende korrelierte, wachte er auf, hinein in einen anderen Alptraum: Was war beklemmender, der Traum im Schlaf, oder dieser Zustand, dem er nicht entkommen konnte?
Er beschloss, alles was er erlebte, was ihm widerfuhr, als Bewusstseinserlebnis zu nehmen, als Innenbild, für das er zuständig war und in dem er sich selbst ausdrückte. Es gab keine Außenwelt, alles war in ihm selbst. Richtete er seine Aufmerksamkeit auf irgendetwas, wurde es groß und bedeutsam, wurde es real. Wendete er den Blick von etwas ab, verschwand es in die Nichtexistenz und war ihm entglitten.
Aber andererseits konnte er auch nichts festlegen, nichts festhalten, die Veränderungen entzogen sich seiner Steuerung. Es war eine Art Ritt auf einer Veränderungswelle (er erinnerte sich an Koslowski, der ähnliches gesagt hatte), er konnte sich selbst leiten, aber nicht den Sturm lenken.
Er musste eine Handhabe finden, besser damit umzugehen. Deshalb stellte er sich vor, dass er im Zentrum des Universums säße (oder: sitzend schwebte), im Zentrum einer Sphäre aus Licht, Wärme, Klang, und dass alles um ihn herum sich aus dieser materialisierte, ihn umtanzend. Er war Mittelpunkt der Sphäre, gleichzeitig war aber jeder andere Punkt ebenso Mitte, denn sie dehnte sich ins Unendliche.
Nun konnte er von diesem Unendlichkeitslogenplatz aus jeden Ort betreten, den er ins Dasein wünschte, konnte die Szene sich erschaffen, die Kulisse aufstellen, die er sich vorstellte.
So kam er zur Existenz an einem Ort, an dem er seinen Bruder erwarten wollte, als Umgebung geschaffen für eine Begegnung mit diesem (oder einem der unendlichen möglichen Multiplikate seines Bruders); kam zur Existenz wie ein Geist, der sich aus dem Nichts im Raum materialisierte, und doch schon vorher für jeden Anwesenden selbstverständlich da gewesen war, da sich seine Vorexistenz im Raum mit seinem Erscheinen ebenfalls verwirklichte.
Sein Ziel- und Ankerpunkt war wieder die Bar, in der ihn zuerst die Veränderungswelle überrollt hatte - nun völlig anders, völlig verschieden von der ersten Fassung (für ihn immer noch die einzig gültige), aber doch im Kern, in der Essenz dieselbe.
Wieder war er in einem Raum, der noch fast leer war, nur einzelne, weiträumig verteilte Personen markierten, wie auf einer Stellungsprobe, den Barbetrieb, der aber im Laufe des Abends in den dichtgedrängten Normalzustand übergehen würde. Inzwischen war er gewohnt, dass ihn niemand beachtete, nur wenn er sich aufdrängte, bewusst wahrgenommen werden wollte, kam es zu einem Kontakt. Der aber sofort wieder abbrach (nie stattgefunden hatte), wenn er sich aus ihm zurückzog. War er den anderen ein Geist, ein Gespenst geworden? Halb- oder gar nicht existent?
Als sein Bruder (oder dessen Ander-Ich in dieser Version des Universums) sich auf einen freien Barhocker neben ihn setzte, war es daher ein kleiner Schock für ihn - so schnell gewöhnt man sich an seltsame Umstände - dass ihn dieser offensichtlich registrierte, allerdings wie einen Fremden, den man an einem öffentlichen Ort trifft und an dem man nicht besonders interessiert ist, um den man sich nicht besonders kümmern muss.
Er übernahm die Initiative:
"Noch ziemlich leer heute, wird sich das ändern?"
"Weiß nicht, bin selten hier, ist nicht meine Gegend", war die eher karge Antwort.
Sein unreales Gespensterdasein war in die Normalität eines Wortwechsels übergegangen. Die Überzeugung, sein Bruder sitze neben ihm verstärkte sich, statt abzunehmen oder sich in Zweifel aufzulösen, und so versuchte er noch einmal, den zurückhaltenden Fremden (der doch sein Bruder war) aus der Reserve zu locken. Doch sein offensiver Einsatz bewirkte das Gegenteil - nicht unhöflich, aber mit merklicher Distanz zeigte der andere sein Desinteresse an Themen wie dem Wetter oder der Qualität des Drinks. Nun musste er direkter werden, wollte er den Panzer der Gleichgültigkeit und Abwehr durchstoßen um ins Zentrum zu treffen, diesen verzweifelten Versuch durchzudringen musste er einfach unternehmen.
"Bin ich für Sie real", fragte er, "bin ich für Sie wirklich?"
Seine Aufmerksamkeit hatte er jedenfalls damit gewonnen, aber noch immer nicht eine sympathisierende Zuwendung, ein wiedererkennendes Leuchten in dessen Augen. Eher noch distanzierter, alarmiert auf Signale der Verwirrung oder Trunkenheit achtend, sagte der andere, zögerlich abwägend:
"Natürlich, genauso real wie ich selbst, aber warum diese Frage…"
"Weil ich mich selbst für real halte, aber alles andere um mich herum nicht… Weil, wenn ich die Welt um mich für real halten würde, ich selbst nicht real wäre, weil ich für mich kein Gespenst, wohl aber für alle anderen eines bin. Weil ich durch Wände gehen kann, wenn ich sie mir wegdenke. Weil ich Orte austauschen kann, wie ich will. Weil alles irreal ist, wenn alles möglich wird. Weil Realität der Widerstand ist, den mir etwas entgegensetzt. Weil ich kein Entgegengesetztes mehr habe. Nur vor mir Fliehendes. Nur Ausweichendes. Nur nicht Festzuhaltendes…"
"Und was ist damit, dass wir uns unterhalten", unterbrach der andere die Eruption, die so plötzlich aus ihm ausfuhr, ihn selbst überraschend.
"Ein Sonderfall", nahm er seinen Vorstoß halb zurück, "ein Glücksfall… Nicht jeder will mich wahrnehmen, übersieht dann, was er nicht sehen will."
Sagte es achselzuckend und verschwieg seinen Verdacht, seine Überzeugung, der andere sei das Ziel seiner Reise quer durch diese Zeiten, Räume, Möglichkeiten - der Anziehungs-Pol, der ihn hierher gezogen hatte. Du bist mein Bruder, sollte er sagen, und du lebst, bist nicht verloren (im Gegensatz zu mir), sondern verankert in einer für dich realen Welt. Wollte es sagen und konnte nicht.
Der andere würde ihm nicht glauben, verschlossen wie er war, würde ihn für einen Wirrkopf halten, für einen angetrunkenen Bar-Schwätzer, einen aufdringlichen Kneipenhocker.
"Tut mir leid", vollzog er den Rückzug, "ich rede dummes Zeug, weiß auch nicht, was über mich gekommen ist..."
"Ist schon ok... Wäre aber ganz interessant, wenn es so wäre", überraschte ihn der andere.
"Völlig frei im All zu schwimmen, ohne Grenzen, ohne eingebunden zu sein, ohne durch Zwänge bedrängt zu werden... Eigentlich ideal... Bis vielleicht auf die Einsamkeit... Aber es wäre die Einsamkeit eines Gottes... Und warum dann nicht dieselbe Entscheidung treffen, wie der ursprüngliche Gott, und sich eine Welt als Gegenpart schaffen, in der man ganz bei sich und doch in einem Gegenüber realisiert ist?"
Jetzt war er überwältigt. Indem er sich auf das Gespräch eingelassen hatte, war ihm sein Bruder (er war es! war es!) ganz nahe gekommen, ohne es zu wissen.
"Es ist eher der Alptraum eines Autisten als die Erfüllung einer Allmachtsphantasie", sagte er, nachdenklich auf diese Äußerungen eingehend.
"Eher ein Sturz ohne Schwerkraftzentrum, ein Schweben in einem auswegslosen Labyrinth ohne Anfang und Ende. Jetzt weiß ich, wie beschränkt und gebunden ich bin, angewiesen darauf, ergänzt zu werden, ausgerichtet zu werden, Ziele zu haben, ein Oben, Unten, Links und Rechts, ein Gegenüber, welches mich wahrnimmt und erkennt. Ich bin nicht selbstgenügsame Fülle, weiß auch nicht, ab welcher Existenzform ich es wäre. Noch das vorstellbar höchstentwickelte Bewusstsein, scheint mir, sieht sich in Relation zu etwas anderem außerhalb seiner selbst, und wenn es auch die eigenen, ins Fremde gewechselten Gedankenfunken wären...
Ein- und Ausatmung, Rhythmus, und dadurch Zeit, mathematische Struktur und Zahl, und dadurch Ordnung und Raum wären notwendig - aus deren Keimkraft explodiert dann plötzlich eine Neuschöpfung in einer Emanation von aufeinander bezogenen Möglichkeiten, in deren Ordnung ein Bewusstsein sich stellen muss und kann - das wäre für mich mein Kosmos, das wäre für mich die Geburt einer Welt, in der ich Zuhause bin - aber so irre ich weit unterhalb dieser Schau in unendlichen Korridoren, gefluchtet in seltsam verwinkelten Perspektiven, die mir keinen Zielpunkt geben, nur Türen zu immer neuen Räume, ohne die Möglichkeit, sich dort aufzuhalten, heimisch zu werden. Mein Zentrum zu finden."
Der andere hatte schweigend seinem Räsonieren zugehört, vielleicht beeindruckt, vielleicht ungeduldig oder gleichgültig auf die Pointe wartend, sagte dann in einer Atempause:
"So beschrieben scheint Ihr Zustand eher einer Depression zu ähneln als einer Erleuchtung... Wie schade... Könnte man nicht mehr daraus machen? Entschuldigung, wenn ich etwas unsensibel reagiere, aber kann es sein, dass sich in ihrer Weltsicht eine dunkle Stimmung verfestigt hat?"
Schockartig zog er sich aus der Unterhaltung zurück, verschwand damit aus den Augen und dem Bewusstsein des neben ihm Sitzenden: Hier erkannte er das Spiegelbild, das Echo eines vergangenen, anderen Gesprächs, vor langer Zeit geführt mit seinem Bruder, der ihm, auf vielleicht unbeholfene oder undeutliche Weise, zu verstehen geben wollte, dass er sich verirrt hatte und Hilfe brauchte, um von dort, wo er war, herauszufinden.
Er hatte nicht begriffen. Hatte ihn aufmuntern, ihn psychologisch zurüsten, ihm einen emotionalen Schubs geben wollen: Du kommst schon darüber hinweg, alles nicht so schlimm, alles nur eingebildet und Hirngespinst. Hatte ihn gehen lassen, ohne ihm etwas Reales mitzugeben. Hatte sich ihm verweigert. Er war gedankenlos gewesen, nicht wirklich mit der Gegenwart seines Bruders verbunden, irgendwo anders, in sich selbst befangen und so nicht bei ihm.
Sein Bruder war gegangen und hatte sich umgebracht. War ihm Geist geworden, so wie er jetzt für ihn nur ein Gespenst sein konnte, ein Flackern im Raum, ein unwirkliches Gespräch. Das nie stattgefunden hatte, nie gewesen war, wenn man versuchen wollte sich daran mühselig doch noch zu erinnern, wie an etwas undeutliche erahnbares, schon halb versunkenes.
Dieser Fremde vor ihm war vielleicht sein Bruder, wie er unter anderen Umständen hätte sein können, oder sein Bruder, wie er anderswo war - oder sein Bruder, wie er jetzt wäre, wenn er weitergelebt hätte. Aber er war in keiner Not, er musste ihm nicht helfen, ihm den Sinn für den noch immer gangbaren Weg wecken, wie er es sich vorgestellt hatte. Er konnte ihn in Ruhe lassen, es gab keine Notwendigkeit, sich aufzudrängen. Dieser Fremde kam auch ohne seine Hilfe zurecht, oder nicht, je nachdem, beschäftigt mit eigenen Angelegenheiten, die ihn nichts angingen. Er konnte sich von ihm verabschieden. Von ihm und seiner Suche nach ihm.
Epilog
Unbeachtet, unbeobachtet blieb er noch eine Zeit lang in der Bar, es war, als hätte das Gespräch mit dem anderen nie stattgefunden. Kein Nachsinnen darüber, was wohl eben gewesen war, kein unbestimmtes Gefühl, etwas vergessen zu haben, jemanden zu übersehen: Für den anderen hörte er nicht nur einfach auf, da zu sein, er hatte für ihn nie existiert - keine Leere im dichten Gewebe des Seins, die als Lücke erlebt und zur Frage wurde.
Es schien, als hätte er alle Verbindungen zu dem, was ihn noch immer umgab einseitig gekappt. Er konnte hören, er konnte sehen, er konnte berühren - nur die anderen konnten sich keinen Sinn mehr darauf machen, dass ihre Augen ihn sahen, ihre Ohren ihn hörten, ihre Finger ihn tasteten. So war er unwahrnehmbar geworden. Er selbst konnte seine Sinne, seinen Sinn nach allen Richtungen ausstrecken, ins Endlose, Weglose, er reichte überall hin. Konnte womöglich überall beeinflussen, beeindrucken, etwas bewirken. Nun war er wahrhaftig ein (kleiner) Gott geworden, dachte er. Unabhängig, da an nichts angebunden. Sich selbst genug.
Die Szene um ihn wirkte fremd-vertraut, die Menschen um ihn gleichzeitig nahe und fern. Die Bar begann sich zu füllen, der DJ nahm seine Arbeit auf. In diesem Moment, überflutet von fremden Rhythmen unbekannter Musiksequenzen, fühlte er sich plötzlich frei von allem, was bisher gewesen war.
Keine Vergangenheit. Kein Gebannt sein durch die Zukunft. Absichtsloses Bewegen durch die Gegenwart. Was ihn geprägt hatte, gab es nicht mehr, nur in seiner Erinnerung. Und er konnte sich davon verabschieden. Ein neuer, unbekannter Kontext. Er war versöhnt mit der Wandlung. Was er verloren hatte, war nur Last, Gewinn war der freie Flug.
Erst jetzt war er völlig Individuum, völlig unabhängig. Monade. Seine alte Welt gab es nicht mehr, die neue Welt kannte ihn nicht. Er hinterließ keine Spur. Das Computerprogramm hatte seine Links gelöscht. Unauffindbar nun, nur für sich selbst erkennbar.
Der Freiheitsgewinn überwältigte ihn, hob ihn aus sich selbst. Jenseits aller Religion (denn das war ja versunkene Vergangenheit) hatte er eine religiöse Erfahrung. Uranfang. Selbstschöpfung. Mittelpunkt.