Architexxt



WOANDERSWELT: PRÄLUDIUM UND FUGE IN MOLL


Inhalt:

Endstand + Wachsende Verwirrung + Erklärungen + Verschwörer: Rottas Monolog + Korrekturen + Geschichte, alternativ + Verschwinden + Schweben, schwimmen + BruderSohn + Ankunft/Epilog



Erklärungen

Auf seinen Streifzügen durch die sich verändernde Stadt hatte er öfters das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Nur ein unbestimmtes Gefühl, wie den Hauch einer Empfindung zwischen den Schulterblättern; und als er sich einmal unwillkürlich umdrehte (Was ist mit dir? Niemand verfolgt dich...), war ihm selbstverständlich nichts Besonderes aufgefallen. Nun aber, als er nach Hause kam, stand jemand im Flur und wartete offensichtlich auf ihn. Er erkannte in ihm jemanden, dem er in letzter Zeit öfters begegnet sein musste, im Nachhinein wurde es ihm klar, als Passant auf der Strasse, Spaziergänger im Park, Bibliotheksbenutzer am Nebentisch - nur zufällig? Der Mann - schon älter, großgewachsen, hager, strenge, verschlossen wirkende Gesichtszüge - sprach ihn an.
"Wir wollen uns mit dir unterhalten, es ist wichtig."
Wir? Wichtig? Er dachte nicht im mindesten daran, sich auf irgendeine Verquertheit eines Unbekannten einzulassen, sagte irgendetwas wie: "nein, danke," und wollte eilig die Treppe zu seinen Räumen hochsteigen.
"Bleibe!"
Ohne zu wollen stoppte er.
"Es ist wichtig! Wichtig für dich."
"Und warum?" (sich auf eine Frage einzulassen heißt schon, sich in ein Gespräch zu verwickeln...).
"Ist dir in letzter Zeit nicht etwas aufgefallen? Kam dir nichts merkwürdig vor? Veränderungen, Wechsel, Austausch von Wirklichkeiten?"
Nun war er verblüfft - wieso konnte der Fremde davon wissen, was in ihm, um ihn vorging?
"Ja", sagte er zögerlich, "es ist so..."
"Wir können es dir erklären - wenn du willst."
Er wollte. War neugierig darauf, welche Erklärung es für dies alles gab. Falls es eine wirkliche Erklärung war.
"Ich muss Ihnen etwas zeigen, dann werden Sie vielleicht besser verstehen, wovon ich spreche."
Der Fremde hatte von dem etwas barschen Tonfall zu einem höflicheren gewechselt. Er folgte ihm und sie gingen, wie ihm klar wurde, in die eine Etage unter den seinen liegenden Räume des kürzlich eröffneten Compuservice, was auch immer das war. Rotta, wie der Hagere sich nun vorstellte, öffnete die Tür, die vom Eingangsflur in den Hauptraum führte (ähnlich wie in seiner eigenen Wohnung, die genau darüber lag, aber dieses Zimmer schien ihm viel größer, möglicherweise waren noch andere Räume hinzu gefügt worden), und da er einen mehr oder weniger üblichen Büroraum erwartet hatte, war er überrascht: Der Raum sah für ihn einem Science-Fiction Raumschiff ähnlicher als einer Bürolandschaft.
Aufbauten, die Schlafkojen sein mussten, standen, je drei Betten übereinander, in einem fast geschlossenem Kreis um einen goldglänzenden Metallschrank (Goldfolien?), von dem ein leises Surren, Summen oder Pfeifen ausging - irgendeine Maschine. Dicke schwarze Kabel liefen von dem Schrank zu einem anderen Gerät (oder umgekehrt), welches in einer Zimmerecke stand, verschwanden dort. Ein kleines Lämpchen flackerte von grün nach rot und zurück. Bis auf das entnervende Sirren - es konnte auch der Motor eines Lüftungsaggregats sein - war der Raum still, da leer.
"Das ist unsere Realitätsveränderungsmaschine", sagte Rotta (hörte er einen Anklang von Stolz in seiner Stimme?), "ein Sheldrake-Analogisierer."
Dieser Begriff war ihm neu.
"Hier erzeugen wir die Veränderungen der Realität, die sie wahrgenommen haben. Verändern die Vergangenheit der Realität, um deren Gegenwart zu ändern."
"Aber die Vergangenheit kann man nicht verändern!" wiedersprach er protestierend (Oder doch?) - etwas in seiner Stimme löste die Festigkeit des Widerspruchs in ein fragendes Räuspern auf - "oder doch?"
"Haben sie niemals eine Sache mit anderen Augen angeschaut, nachdem ihnen monatelang ihre anfängliche Sicht der Dinge für falsch erklärt worden ist?"
"Natürlich, ich bin lernfähig!"
"Nicht lernfähig, manipulierbar! Ihnen wird die eigene persönliche Meinung genommen und durch einen allgemeinen Konsens ersetzt. Genauso kann es mit Erinnerungen geschehen. Sie passen ihre individuelle Erinnerung dem allgemeinen Gedächtnis an, und wo ist dann dieses Erinnerte geblieben? Es hat nie existiert!"
"Aber das ist doch nur die Erinnerung - das wirklich Gewesene bleibt bestehen."
"Bleibt bestehen? Wo bleibt es bestehen? In ihrer Erinnerung? Dort ist es aber nicht mehr!"
"Aber als Fakt bleibt es, als Wirkung! Das Vergangene bleibt in seinen Wirkungen gegenwärtig, kann doch nicht rückwirkend ausgelöscht werden - es war wie es war, wer könnte das noch nachträglich ändern! Sie können mir die Erinnerung daran nehmen, dass ich gestern in einem Laden war und ein Buch gekauft habe, aber dieses Buch zuhause und die leere Stelle im Ladenregal, die können sie nicht verschwinden lassen, können sie nicht wegleugnen."
"Ich brauche es nicht zu leugnen; Von welchem Buch sprechen sie? Gibt es bei ihnen Zuhause dieses Buch von gestern?"
Ohne Vorwarnung erfasste ihn plötzlich ein Schwindel, sein Gesichtsfeld verengte sich, er hatte das Gefühl, nur noch sehr vage an die Realität angebunden zu sein. Die weiteren Worte schwirrten unbestimmt an ihm vorüber, nur der eine Satz hakte sich in ihm fest: Haben sie zuhause dieses Buch? Er hatte ein Buch - aber es war nicht das seiner ursprünglichen Erinnerung, wie ihm jetzt plötzlich in den Sinn sprang. Es hatte sich verändert. Es war ein anderes. Oder war seine Erinnerung falsch? Aber welche? Die an das ursprüngliche Buch, an das er sich jetzt deutlich zu erinnern vermeinte, oder die an das Buch aus dem Stapel, wie er es, seiner Erinnerung nach, heute Morgen in der Hand gehalten hatte? Wieder diese alles eintrübende Verwirrung, der Wirbel, der ihn erfasste, schwerfällig dachte er über alle die Widersprüche nach, die ihm in letzter Zeit aufgestoßen waren.
Rotta musterte ihn schweigend, sagte dann: "Sie können nicht ehrlich widersprechen. Sie wissen bereits, dass es geschehen ist, noch geschieht, eben jetzt. Hier, an diesem Ort, sind wir an der Quelle aller Veränderungen um uns."
"Aber warum? Warum!" Nun schrie er fast, die lang unterdrückte Panik wollte durchbrechen.
"Weil es notwendig ist."
"Und notwendig warum?"
"Wir sind in der falschen Welt gefangen, und suchen nun den Ausgang. Alle sind wir gefangen. Was sollen wir tun? Uns damit abfinden? Wir - jetzt meine ich unsere Gruppe - haben eine Möglichkeit gefunden, den Ausbruch vorzubereiten. Den Durchbruch ins Richtige."

"Die Menschen arrangieren sich für gewöhnlich, sie finden immer eine Möglichkeit, sich ihr eigenes kurzlebiges, trauriges Dasein schönzureden, nicht weiter darüber nachzudenken, wie ihr Leben eigentlich auszusehen hätte. Sie richten sich ein. Im eigentlich nicht Bewohnbaren, in der Fremde. Und vergessen ihren Ursprung. Sie machen sich die Fremde, das Exil heimelig und wollen nicht mehr in die wirkliche Heimat zurück.
Ein Großteil der Menschen ist sowieso verloren, die Hyliker, ohne Lichtfunken mehr, der sie zurückführen könnte, den sie zurückbringen sollten. Aber auch diejenigen, die als Psychiker sich allmählich dem Licht nähern könnten, verdrängen unter für sie als Individuen günstigen Lebensumständen den Gedanken an Heimkehr. Es ist wie in jedem Exil: Nach einiger Zeit ist man dran gewöhnt, vermisst nichts mehr, denkt nicht mehr zurück. Nur nachts im Traum kehrt das Vergessene als unerfüllte, unerfüllbare Sehnsucht zurück. Und ist am Morgen schon wieder abgetaucht und abgetan."
Rottta hatte sich in Eifer geredet. Nun setzte er zu einem langen Monolog an, weitschweifig und scheinbar ziellos, als Erklärung der Erklärung bedürftig.

"Wir sind zu sehr verwöhnt. Haben uns zu behaglich in unserem Schlaf eingerichtet. Zu wenig Alpträume. In unserer kultivierten Welt hat sich ein homostatisches Gleichgewicht eingestellt, ein Gleichklang von zivilisatorischen Bequemlichkeit, Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse, der intellektuellen Interessen und des schöpferischen Verlangens, das zu einer Art zufriedener Sättigung führt, die den Drang zum Ursprung wirkungsvoller unterbindet als jedes Verbot, diesem Drang nachzugehen.
Unsere ganze Kultur baut auf den Gedanken der antiken Gnosis, der druidischen Weisheit, der schamanischen Naturerfahrung auf - und was davon lebt noch in Praxis und Denken der meisten? Alles nur Lippenbekenntnisse, äußerliches Ritual, Verkleidung. Nur wenige, wie wir, sind wirklich davon überzeugt, dass diese Welt nicht die eigentliche ist, nur ein Zwischenaufenthalt, und wir uns auf das Wesentliche, die Heimkehr, konzentrieren müssten. Besser also, wenn alle Formen der Gnosis, der Naturmagie, des Denkens an die Anderwelt in den Untergrund verdrängt worden wären, dort aber umso mächtiger untergründig wirken würden. Wir wollen einen Zustand, in dem die Not die Menschen dazu bringt, an ihre wahre Existenz als Lichtwesen zu denken, wenn sie es schon von sich aus nicht mehr tun. Dazu müssen die grundlegenden Parameter unserer Kultur verändert werden."

"Unser Ausbalancieren von natürlichen Ressourcen und Produktionsfortschritt, wissenschaftlicher Neugier und Verantwortung für die Welt, schafft ein in sich stabiles System. Der Einzelne fühlt sich in ihm aufgehoben und setzt sich für dessen Erhaltung ein.
Das müssen wir in sein Gegenteil kehren: In ein instabiles, jederzeit gefährdetes System der zivilisatorischen Entwicklung, das nur solange funktioniert, wie sich jedes und jeder auf Kosten eines Anderen, Schwächeren weit über seine natürliche Begrenzung hinaus entwickeln kann, immer weiter ins Uferlose - andernfalls kollabiert das Ganze. Unsere Technik ist zu sanft, zu sehr in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Lebendigen, beruht vor allem auf dem Prinzip der Verstärkung von Naturvorgängen, dem alchemistischen Prinzip der beschleunigten Reifung natürlicher Verläufe.
Unsere Fahrzeuge zum Beispiel: Ihr Antrieb funktioniert durch das Prinzip der Implosion des Raumgefüges mit Hilfe akustischer Interferenzen und Schallübertragung; freie Energie wird konzentriert und rückstandsfrei in Bewegung verwandelt - was wir stattdessen brauchen, ist etwas, was schädliche Reste hinterlässt, Maschinen, die auf dem Prinzip der Explosion, der unvollständigen Verbrennung, der Zerstörung aufbauen.
Eine Gegentechnik soll an die Stelle der unseren treten, die mit übergroßem Energieaufwand alles gewaltsam in Gang setzt und durch schiere Kraft und Hochleistung jedes natürliche Wachstum übertrifft. Unsere Kultur setzt auf Verbindung, Teilhabe, Synthese, die Alternativkultur sollte aus Spaltung und Dissens ihre letztlich selbstzerstörerische Dynamik erhalten."

"Ressourcenverschwendung, Zerstörung der Lebenssphäre, Vergiftung der Nahrungsgrundlagen, Wassermangel, ständige Kriege um Einfluss und Zugang zu den Energiequellen, die nicht wie bei uns aus dem Überfluss des Erdfeldes frei zur Verfügung stehen: Es sollte eine Gesellschaft sein, die auf dem Krieg der Kulturen, der Mentalitäten beruht, dem Kampf aller gegen alle, dem Streit um die Verteilung des Reichtums. Weltweite Terrorakte sollen Normalzustand sein, wie Unterdrückung und Gegenwehr. Stammeskämpfe, Hungerkatastrophen, Epidemien sollen ganze Kontinente verheeren, Ordnungsmächte als Zwangsgewalten auftreten und so auch erlebt werden, ökonomische Gesetze als zerstörerischer Einfluss.
In dieser instabilen, explosiven Lage wird Grundgefühl aller Menschen Unsicherheit und Vergeblichkeit sein. Dann werden sich wieder diejenigen, die das Licht in sich spüren, diesem Licht zuwenden, es aufsuchen wollen, da einzig in ihm Sicherheit und Tröstung ist."

"Der Einzelne darf keine Zuversicht entwickeln, ein Leben in Frieden und ohne Not führen zu können, im Großen und Ganzen, auch wenn es hie und da anders aussehen mag. Er muss seine Situation verstehen lernen: Auf dem Grund eines ausgetrockneten Brunnens schreit er nach Wasser, seine einzige Chance, diesem Zustand zu entkommen, besteht darin, ein ihm zugeworfenes Seil zu ergreifen und sich daran ins Licht hoch zu angeln, ins Draußen. Den dunklen Schacht zu verlassen, um das Tageslicht, das ihm weit oben als heller Lichtstern die Brunnenöffnung sichtbar macht, durch eigene Anstrengung kletternd zu erreichen. Bei uns, im Jetzt, hat er sich gemütlich auf dem Boden eingerichtet, das Licht von oben interessiert ihn nicht, er merkt nicht einmal, dass er in einem Brunnenschacht lebt, abgesondert von seiner eigentlichen Existenz im Freien, unter der Sonne. Sein Durst wird ihm gelöscht, aber durch kümmerliches Wassersurrogat, das wahre Wasser wird nicht gesucht, wird verschmäht. Hier ist Exil, und er merkt es nicht. Ist Babylon, nicht das Zuhause."

"Aber viele merken es doch," protestierte er, Rotta nun doch unterbrechend. "Es gibt diese Suche. Es gibt die Sehnsucht vieler. Und es gibt genug Ungerechtigkeit, Hunger, Durst nach Erfüllung, Mangel, Krieg, Zerstörung. Überall und ständig. Wir leben nicht in einer perfekten Welt, die niemand verändern wollte, niemand anzweifeln würde. Wir brauchen nicht noch mehr Unglück, um nach etwas besserem Ausschau zu halten. Alle die Suchenden sind unterwegs, um, jeder für sich, eine Antwort auf die eigenen Fragen zu finden, oder eine Möglichkeit, im Sinn, im Licht zu leben."
Sein Einwand interessierte nicht. Fundamentalist, der er war, gab es für Rotta neben seiner eigenen Wahrheit keine anderen Wahrheiten. Es gibt keine Vielfalt der Wahrheit, sie ist eine. Und er hatte den Zugang dazu. Den Schlüssel. Seine Interpretation war die gültige. Seine strenge Beurteilung der laxen Gesinnung der Mitmenschen war die einzig angemessene. Heil und Unheil war davon abhängig. Untergang oder Aufgang. Strenge war Güte, wenn Nachsichtigkeit das Gute schädigte. Wer in der Welt war und Lust daran hatte, war verloren. Lass ihn also mit der Welt verloren gehen, wenn diese ihr wahres Gesicht zeigt: eine Fratze.
Verschlungen zu werden in einem Malstrom fressender Kiefer und Zähne war das Schicksal der Bewohner dieser Welt. Wer darauf setzte, ein andres Ende zu nehmen, war Illusionist. Sich mit dieser Welt nicht zu identifizieren war die einzige Rettung, der einzige Ausgang aus der Situation. Den Weg zu finden und zu zeigen, der aus ihr hinausführte, war heilige Pflicht desjenigen, der es vermochte. Rottas Aufgabe also. Und wer sich nicht seiner Wahrheit anschloss, der strikten, eindeutigen Wahrheit, zeigte dadurch seinen Starrsinn, seine Gegnerschaft, sein Verlorensein.
Rotta schwieg nicht lange, setzte seine Erklärung (oder war es eine Triumphrede?) fort; und warum erzählte er das alles, in dieser Ausführlichkeit, doch sicher nicht, um ihn auf seine Seite zu ziehen, dafür interessierte er sich zuwenig für den anderen, mehr wohl, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen, sich selbst zu bestätigen. Sich selbst zu rechtfertigen wohl auch.



Weiter nächstes Kapitel: Verschwörer: Rottas Monolog