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WOANDERSWELT: PRÄLUDIUM UND FUGE IN MOLL


Inhalt:

Endstand + Wachsende Verwirrung + Erklärungen + Verschwörer: Rottas Monolog + Korrekturen + Geschichte, alternativ + Verschwinden + Schweben, schwimmen + BruderSohn + Ankunft/Epilog



Verschwörer: Rottas Monolog

"Eine Überlieferung der Qabbalah sagt, dass Gott am Uranfang das Allganze als eine Schrift (schwarze Flamme auf weißem Feuer) ins Sein gerufen hat, und dass in dieser Schrift der Text geschrieben ist, der unsere Welt bedeutet - geschrieben und festgelegt auch durch den ersten (Fehl-) Schritt Adams, der dadurch der erste Autor unserer tragischen Erzählung wurde, fortgeschrieben von da an unter dem Verhängnis des Anfangs bis zum apokalyptischen Ende - dass aber nach dem endgültigen Abschluss der Erzählung (durch die Ankunft des Messias und der Aufhebung des anfänglichen Fehlverhaltens) ein völlig neuer Text verfasst werden wird.
Die Urschrift, das göttliche Alphabet, lässt sich dann in ganz anderen Kombinationen zusammensetzen, zu völlig neuen Welten und Wirklichkeiten, der fehlerbehaftete Text wird seine Wirksamkeit verlieren, das Sein wird aufs neue geschrieben, so wie es ursprünglich gedacht war. Daher auch das intensive Bemühen der Qabbalisten um die Buchstaben des Alphabets, ihre Versuche, in den unzähligen Kombinationsmöglichkeiten der Einzelelemente einem wahren, tieferen Text auf die Spur zu kommen, das Sein zu dechiffrieren und sogar zu transmutieren.
Was wir hier machen, ist die Übersetzung dieses mystischen Gedankenganges in ein praktisches Vorgehen: Wir haben eine Maschine gebaut, die den Text der Geschichte umschreibt, den alten Text durch einen neuen ersetzt und so den Sinn des Ganzen verändert, der Geschichte eine neue Fassung, einen anderen Verlauf gibt."

"Es war ein jüdischer Philosoph, Maimonides, in einem der Überbleibsel Neu-Karthagos auf der Iberischen Halbinsel lebend, der als einer der ersten einen Gedanken ins Spiel gebracht hatte, den wir dann aufgenommen und in seinen philosophischen Konsequenzen und seiner direkten technischen Umsetzung weiterentwickelt haben. Seine These war, dass die jüdischen Riten und Vorschriften in der Thora, unsystematisch und willkürlich wie sie scheinen (und doch: wie könnte Gott etwas Unvollkommenes und Widersprüchliches als Grundlage setzen?), nicht unmittelbar gegeben, sondern erst durch einen überschreibenden Eingriff Gottes in das religiöse System der Harraner, im Ursprungsgebiet Abrahams, entstanden sind.
Deren heidnische Riten, sie verehrten vor allem den Mondgott Sin und die anderen Planetengötter, wurden nach ihm von Gott durch dessen Wirkungsmacht in ihr Gegenteil verändert, in den Kult des einzigen, des wahren Gottes, aber der Ursprung prägte das daraus Entstandene, der heidnische Hintergrund vererbte der neuen Religion sein Kultsystem. Negativ wird zu Positiv, aber die zugrundeliegende Ordnung (oder Unordnung) setzt sich als Einprägung fort. Als Beweis für diesen Vorgang führte er an, dass sich fast nichts von den alten Kulten der Charraner erhalten hat, diese wurden ja umgeschrieben, sind in ihr Gegenteil umgemünzt worden.
Auch der Stoff, mit dem wir arbeiten, ist uns gegeben, wir erschaffen keine Welt aus dem Nichts, wir haben ein Ausgangsmaterial: die Geschichte. Die Historie, wie wir sie kennen. Sie wird von uns umgeschrieben, in etwas anderes gewandelt, in einen anderen Verlauf gebracht. Wie der jüdische Gott, nach Maimonides, den charranischen Ritus nimmt, um aus dessen Substanz durch Umprägung seinen eigenen Ritus einzusetzen und dabei den alten auszulöschen, zu überschreiben, so überschreiben und löschen wir den Verlauf der bisherigen Geschichte."

"Gesetze sind verfestigte Gewohnheiten, Gestalt ist manifest gewordenes Entwicklungsgesetz, die Gegenwart fügt sich aus Erinnerungssträngen zusammen, die aus einer versunkenen Vergangenheit ins Jetzt reichen, als geronnenes Gedächtnis: Gewohnheiten kann man ändern, Gestalten transformieren, Erinnerungen ersetzen. Unser Computer tauscht in einem hochtaktigen Pulsieren Erinnerungen aus, ersetzt das als Faktum Erinnerte durch andere Erinnerungsspuren, die in ihrer millionenfachen Wiederholung eine hohe Verdrängungsenergie erreichen.
Das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft kann verändert werden; das, an was man sich erinnert - weil man darüber unterrichtet wurde, man davon gehört hat, es für schon immer wahr gehalten hat - wird einfach durch anderes, ebenso für wahr zu nehmendes ersetzt. Der eine Ausgang einer Schlacht, die auf Jahrhunderte Geschichte prägt, ist ebenso wahrscheinlich wie ein anderer, gegenteiliger. Es liegt keine zwingende Logik im Geschehen. Zufall regiert. Und wir ändern dort das Erinnerte, wo es Auswirkungen aufs Heute hat. Wäre es so oder so gekommen, sähe unsere Welt ganz anders aus: Diesen Satz nehmen wir ernst. Wir ändern die Erinnerung an ein Schlüsselgeschehen, und die Realität folgt uns, biegt sich zurecht, war nie anders gewesen. Und ändern heißt: wir verdrängen Erinnerungen, Geschichten, Geschichte. Millionenfach wird Realität immer neu vergegenwärtigt, immer neu gefunden, immer aufs Neue bewusst. In Millionen Gehirnen, in einer jedes Einzelbewusstsein zusammenfassenden, gemeinsamen Sphäre wird Realität definiert und geschaffen.
Hier wirken wir mit unserer Maschine ein. Jedem Gedanken an das Gestern wird ein Gegengedanke, eine doppelte, vielfache Alternative konkurrierend gesetzt. Wir überstimmen den die Realität tragenden Chor der Einzelstimmen. Wir überwältigen die Tradition, begründet in millionen festgefügter Ansichten über die Vergangenheit. Es ist nur Gewohnheit, welche die Realität verbürgt. Und unsere Maschine erzeugt ein stärkeres Gewohnheitsmuster, da ihr Impuls hundertfach, tausendfach stärker und schneller ist, als der normale Gang der Dinge.
Wir bestimmen im Fokus hier, was wahr ist, unsere Wahrheit breitet sich allmählich aus, andere Wahrheiten überlagernd. Außerhalb des Fokus' wandelt sich so die Welt, Welle um Welle, Schub um Schub, werden andere Überzeugungen wirksam und faktisch. Nur unsere Maschine selbst muss von dieser Welle der Veränderungen ausgenommen sein, damit das Paradox des sich seine eigene Grundlage zerstörenden Computers nicht eintritt, die Wirkung nicht die Ursache der Wirkung aufhebt. Dieser Raum hier, im Zentrum der Veränderung, ist der Veränderung nicht unterworfen, entsprechend dem Gesetz der Widerspruchsfreiheit. Die Maschine erzeugt um sich eine begrenzte Sphäre der Abschirmung gegen die Transformation.
Es scheint aber der Scheitelpunkt dieser Sphäre über dieses Stockwerk hinaus zu reichen, und ihre Wohnung, oder sogar nur ihr Schlafplatz, ist davon betroffen. Sie sind gegen die Veränderung immun. Ist das nicht so?"

Was erwartete er von ihm als Antwort? Was sollte er zu einem Monolog sagen, von dem er nur die Hälfte verstanden hatte oder akzeptieren konnte? Er schwieg. Einen Einwand aber, um die Vernunft zu retten oder seinen Glauben daran, was real war, musste er aber doch vorbringen: Wie könnte eine ausgetauschte, verdrängte Erinnerung einen Wechsel der Realität erzeugen? Niemand braucht sich an eine einmal gewesene Schlacht noch zu erinnern, an den Sieger, die Besiegten, das Leiden der Geschlagenen, den Übermut der Triumphierenden, um dennoch ein Denkmal dieses längst vergangenen und ins Dunkel abgesunkenen Ereignisses vor sich haben zu können - Zeugnisse undurchschaubarer, unerklärlich gewordener Vorgänge gibt es doch überall, Ruinengeheimnisse, seltsame Artefakte, missgedeutete Traditionsreste... Alle diese ausgemusterten Überbleibsel sind trotzdem noch da, obwohl sie nicht mehr verstanden werden, ihre einstige Bedeutung aus dem Bewusstsein verschwunden ist...
Rotta lächelte, hatte diesen Einwand wahrscheinlich oft genug gehört, naheliegend bei unserem Verständnis der Realität: Fakten sind Dinge, Dinge verändern sich nicht, auch wenn wir sie nicht im Auge behalten, nicht an sie denken, die Welt existiert außerhalb unseres Bewusstseins und auch ohne uns. Die Realität eines Vorganges liegt nicht in der Erzählung über diesen Vorgang, die Erzählung hat eine eigene, andere Realität: So wissen wir es, seitdem wir nicht mehr Traumphantasie und Wirklichkeit vermischen und durcheinander bringen.
Ein wenig spöttisch, aber doch ernsthaft auf das Argument eingehend, sagte Rotta:
"Ihre Sprache hält sie gefangen, sie durchschauen es nur nicht; diese macht alles, was sie benennt, zu einem Objekt, daher ihre scheinbare Objektivität - auch die Vergangenheit ist in ihr etwas Objekthaftes, obwohl sie nicht mehr existiert, mehr noch, nie existiert hat: Es gab immer nur die Gegenwart, die Vergangenheit als Objekt gab es nie. Wir brauchen kein Objekt Vergangenheit zu verändern. Wir reden der Gegenwart ein, sie hätte eine andere Vergangenheit gehabt, überzeugen sie durch Rhetorik, man könne auch sagen, beschwatzen sie, bis sie unsere Sicht der Dinge annimmt und dadurch eine andere ist. Dieser Teil ist Magie, das gebe ich zu: Es geschieht einfach. Einer unserer Wissenschaftler hat eine Formel dafür gefunden - ich verstehe sie nicht. Ich weiß nur: es funktioniert."
Was konnte er gegen diese Behauptung setzen? Seinen gesunden Menschenverstand? - dieser schien ihm weit entfernt von allem, was ihm in der letzten Zeit zugestoßen war. Aber die Motive der Verschwörer interessierten ihn mehr noch als ihre Technik, die er sowieso nicht begreifen konnte.
"Warum, wenn ihr glaubt, mit dieser Maschine die Realität verändern zu können (mit dieser Formulierung schwankte er zwischen noch Unglauben und schon Akzeptanz unschlüssig hin und her) setzt ihr sie nicht dazu ein, diese zu verbessern? Meinetwegen in eurem Sinn, von eurem Standpunkt aus, obwohl es nicht richtig wäre, die, die es betrifft, nicht mitentscheiden zu lassen, aber ihr habt ja das angebliche Mittel dazu, also setzt es euren eigenen Überzeugungen nach ein - warum dann nicht positiv, zur Verbesserung der Situation?"
Mitleidig sah Rotta ihn an:
"Verbesserung von was? Es gibt am Falschen nichts zu verbessern. Die ganze Konstruktion ist verpfuscht. Das Material selbst ist korrupt. Es ist nichts schief gelaufen, kein Fehler ist aufgetreten, der irgendwie korrigiert, durch uns aufgehoben werden könnte. Die Schöpfung ist nicht fehlerbehaftet, sie ist der Fehler. Was wir tun, ist daraus Konsequenzen zu ziehen: Wir richten uns auf das Ende aus.
Worauf wir hoffen, ist: Aus dem Ende kommt die Rettung. Nichts aus dem Beginn wird uns retten können, nur im Zugrundegehen des Angefangenen wird es möglich, dass alles wieder aufgehoben wird. Durch Auftritt des Unbekannten, nie hier anwesend Gewesenen, nicht in die gewordene Welt Verstrickten. Wir sind in der Fremde, also ist uns das Zuhause, der eigentliche Zustand, fremd - der uns fremde, der unbekannte Gott erst wird uns als uns selbst rufen: Auf etwas anderes können wir nicht setzen. Wir können nicht aus uns selbst einen erstrebenswerten, vollkommenen Zustand erreichen, da wir alle unsere Mittel aus dem Gewordenen nehmen müssen. Anderes haben wir nicht. Verbesserung wäre möglich, aber für wie lange, und um welchen Preis?"

"Das eigentliche Sein ist uns durch unser Verwickelt sein ins Uneigentliche verschlossen. Wir können uns nicht daraus entwickeln, darüber hinaus entwickeln. Durch eigene Kraft, durch eigene Anstrengung. Durch Verbesserung des jetzigen Zustands. Das ist ein naiver Gedanke, nicht radikal genug, um die fortgesetzte Herrschaft des Falschen zu überwinden.
Der Ruf muss, wird kommen, alles andere ist zu wenig. Wenn wir das Absolute als Ziel aufgeben würden, könnten wir am Endlichen herumdoktern und kleine Verbesserungen als großen Fortschritt ausgeben. Aber dann wären wir Gefangene des Endlichen. Aus dem Endlichen gibt es nur den Ausgang über das Ende. Der Ruf kommt, wenn alles ausgeschöpft, alles an sein Ende angekommen, alles ruiniert ist. Verbesserung heißt nur, das Ende verzögern, heißt weiter im Endlichen festsitzen."

"Die Erde ist ein grimmiger Ort, gefährlich, sich dort aufzuhalten. Nichts Liebenswürdiges im Grunde. Keine Behaglichkeit. Man will sich nur darüber hinwegtäuschen, schließt lieber die Augen und schläft. Weigert sich, aufzuwachen. Träumt liebliche Wunschträume stattdessen.
Zuerst hatten wir auf übliche Weise versucht, wachzurütteln, aufzuklären. Vergeblicher Kampf gegen das Idiotentum, gegen die Selbstverdummung. Dann beschlossen wir (wieder sprach er von wir - wer waren die anderen?), den Gang der Dinge zu verschärfen, die Grimmigkeit des Ortes deutlicher zu machen, seine Harmlosigkeit als verdecktes Übel zu demaskieren: Wir mischten uns ein, schürten das Feuer, statt es zu löschen zu versuchen. Bald legten wir selbst Feuerherde. Terror, Explosionen, und Hunderte von Toten. Im Namen von irgendeiner Sache: welche war egal. Alles dient der Entropie. Dem Niedergang. Untergang."
(Er sah wieder diesen bildschirmfüllenden Anblick vor sich: Brennende Fahrzeugteile, Menschenteile, wie Funken in die Nacht stiebend, herabstürzende Gebäudeteile, Menschen zerquetschend und erschlagend - Erinnerung an die Fernsehbilder eines alltäglich-harmlos begonnenen Tages im letzten Sommer.)
"Aber all das reichte nicht aus. War noch zu weit von wirklicher Verzweiflung entfernt, vom auswegslosen Stehen vor der Wand und Umkehr nach Innen - ins wirkliche Draußen. Deshalb beschlossen wir das Projekt Realitätsveränderung. Beschlossen, radikal die Bedingungen zu ändern, unter denen wir leben. Die Voraussetzungen unseres jetzigen Lebens selbst zu ändern. Seine Geschichte. Seine Vergangenheit. Alles ist durch den Wandel gerechtfertigt, der dann möglich wird."

Abrupt schwieg Rotta. Dachte er jetzt an die Opfer, die individuellen Menschen, jeder mit eigener Geschichte, jeder mit eigenen Hoffnungen, Wünsche, eigenem Streben - abgebrochen durch ihre Aktionen? Hatte er Mitleid? Nein, wahrscheinlich nicht. Die Welt ist ein grimmiger Ort hatte er gesagt, und bestimmt dabei auch gedacht: kein Ort für Mitleid. Die große, die allgemeine Rettung rechtfertigt das Opfer des untergeordneten Einzelnen.
"Es geht um viel. Es geht um alles. Wir sind in einer verzweifelten Lage. Und die Meisten verweigern sich der Pflicht, welche die Situation ihnen aufzwingt. Verstellen sich: Ich bin nicht da. Ich kann nicht gemeint sein. Mich betrifft es nicht. Verstecken sich vor dem Aufruf, der ihnen gilt. Tue etwas. Entwickle dich. Nimm teil an dem Ganzen und kümmere dich. Du wirst benötigt.
Die Meisten verschieben ihren Aufbruch ins Rechte auf morgen: Jetzt lass' mich noch ein wenig schlafen, später wache ich auf. Doch später gibt es nicht. Später wird nie sein. Bis es zu spät ist. Für sie, für die anderen. Ich habe kein Mitleid mit diesen Schläfern (er hatte die Antwort auf seine Frage), die den behaglichen Schlaf dem unbequemen Aufwachen vorziehen. Ihr Leben ist gleichgültig: Weil sie dem Leben gegenüber gleichgültig sind. Dem eigentlichen Dasein gegenüber. Das Leben schreit nach Erlösung, aber sie verweigern sich der Mühe, die diese Aufgabe mit sich bringt. Dem Schmerz, der damit verbunden ist. Dem Opfer. Sie entstehen und vergehen in der Ursuppe des reflexartigen, automatischen Lebens, ohne die Einsicht zu ergreifen, die ihre Existenz herausheben und ins Licht stellen könnte. Die Ursuppe verschlingt sie, so wie diese sie auch hervorgebracht hat, eine Amöbe unter Milliarden. Futter für höhere Lebewesen. Denn diese Ursuppe ist eine Kampfarena, kein behaglicher Aufenthalt."
So also sah Rotta das Leben.


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