WOANDERSWELT: PRÄLUDIUM UND FUGE IN MOLL
Inhalt:
Endstand + Wachsende Verwirrung + Erklärungen + Verschwörer: Rottas Monolog + Korrekturen + Geschichte, alternativ + Verschwinden + Schweben, schwimmen + BruderSohn + Ankunft/Epilog
Schweben, schwimmen
Ihm wurde plötzlich klar, dass die Verschwörer einen zu selbstbezogenen Standpunkt eingenommen hatten und dadurch in eine Falle geraten waren: Sie wollten die Welt in ihrem Sinn verändern, bewirkten auch Veränderung - um sie herum entstanden und verschwanden die großen und kleinen Zeugnisse ihres Tuns, ein Trend wurde angelegt, eine Richtung vorgegeben, in der sich die Dinge entwickeln sollten - aber in Wirklichkeit verschwand ihnen nur die gewohnte Realität aus den Augen und eine andere tauchte dafür auf.
In Wirklichkeit schwammen sie in einer Art Realitätseinkapselung (ihre Maschine hatte sich einen eigenen Realitätsraum geschaffen) durch die Möglichkeitswelten, die an ihnen vorbeizogen. Keine Welt löste sich in Nichts auf, keine Realität nahm aus dem Nichts Gestalt an, stattdessen wurden die Möglichkeitswelten für eine Durchquerung durchlässig. Ihre Maschine war nur scheinbar stationär: War in Wahrheit ein Navigator - kein Instrument der Veränderung.
Es gab sie also immer noch, die Ausgangswirklichkeit (er hielt daran fest: die eigentliche Wirklichkeit), sie blieb weiterhin bestehen, ging ihren ungestörten Gang - nur die Gruppe selbst manövrierte sich in eine Ecke des vielschichtigen Universums, in denen ihnen ihr angepeiltes Ziel verwirklicht schien. Sie hatten sich aus ihrer ursprünglichen Existenz gelöscht, waren dort spurlos verschwunden, genauso wie unglücklicherweise er. An deren Ziel wollte er allerdings nicht mit ankommen, er wollte zurück: Wollte sich aus deren Realitätskapsel befreien, sein eigenes Fahrzeug sein, sein eigener Biocomputer, Realitätsveränderer, magischer Weltenschöpfer.
Als er das begriff, beschloss er, eine Methode zu suchen, mit der er seine eigene Stasis erzeugen konnte - nicht gegen den Computer und dessen Wirkungsfeld anzuarbeiten, eine vergebliche Anstrengung - sondern sich aus dessen Wirkungsbereich zu lösen und gleichzeitig einen eigenen aufzubauen, damit er nicht in irgendeiner zufälligen Realität stranden würde.
Er dachte, während er das Paar am Nebentisch beobachtete, dass er ihre Gesten - das Zögern der Frau, ihre verschränkten Arme und seinen verlangenden Blick - in einer Geschichte beschreiben könnte, die, obwohl sie seine eigene Interpretation der Situation war, dennoch die Szene erklärte und sie weiter ausführte. Diese Beschreibung der Szene ließe sich dann auch umändern, je nach Ausdeutung der Konstellation gab es diesen oder jenen Verlauf. Und, festgehalten im Stasisfeld der Maschine, konnte er nicht selbst, durch seine Beschreibung, durch den Text den er dem ganzen unterlegte, die Szenerie und den Verlauf der Realität bestimmen?
Wenigstens glaubte er es in diesem Moment, fand es einen Versuch wert. War hier ein Weg, zurückzukommen? In seine Gegenwart, seine Vergangenheit? Oder war er gerade dabei, den letzten Halt in der Realität aufzugeben, loszulassen, um sich in haltlosen Phantasien zu verlieren?
Konnte er überhaupt gegen einen Computer antreten, der Zig- Millionen Mal einen realitätsverändernden Impuls aussandte, mit seinem dagegen kümmerlichen, langsamen Denken, sich eher von Trittstein zu Trittstein vortastend, als im energischen Sprung eine andere Wirklichkeit erreichend? Aber er wollte ja nicht gegen die Maschine ankämpfen, ihre Wirkung aufheben, er wollte sich vielmehr in den Turbulenzen der sich auflösenden und neu verfestigenden Realitätsebenen quer zu diesen bewegen, ihre chaotischen Energien ausnutzen, um sich dorthin tragen zu lassen, wohin er selbst wollte - nur er, nicht die ganze Welt, sollte gerettet werden.
Er hatte bestätigt gefunden (diese Theorie hatte er einmal gehört), dass er als Bewusstsein eigentlich nur diskontinuierlich existierte, immer wieder unterbrochen durch den Abgrund eines Sekundenbruchteilschlafes, dass er sich als Bewusstsein in Bruchteilen von Sekunden immer wieder neu konstituierte (die Gegenwart dauert ungefähr 2 Sekunden) und dass die Kontinuität seines Weltbezuges daher kam, dass er in immer derselben Welt erwachte, aus seiner Nichtexistenz auftauchte - nur dass diese Kontinuität nun manchmal nicht mehr gegeben war, weil sich Dinge veränderten, während er als Bewusstsein nicht existierte.
Jetzt nahm er sich vor, diesen Prozess zu steuern, indem er in sich ein beständiges, unterschwelliges Drängen in Richtung Ursprungswelt (wie er sein Zuhause jetzt nannte) aufbaute, fortlaufend ein Mantram, eine Litanei innerlich rezitierte, halbautomatisch, eine unaufhörliche Beschwörung.
Und er begann damit, Situationen und Ereignisse alternativ zu denken, sich Abweichungen auszumalen, sich das Gegenteil von dem vorzustellen, was tatsächlich geschehen war - ein Mann rannte, um ein Fahrzeug zu erreichen, schaffte es gerade noch rechtzeitig, durch die Tür zu verschwinden; er stellte sich vor, wie der Zug ohne diesen davonfuhr, ihn frustriert stehen ließ - ständig experimentierte er mit Alternativversionen der Ereignisse und Dinge um sich: An der Stelle eines unscheinbaren Gebäudes dachte er sich ein Hochhaus, an den Ort eines Brachlandes einen Park - oder umgekehrt.
Er veränderte in Gedanken die Szene, in der er sich befand, stellte andere Kulissen auf, probte eine andere Inszenierung. Versuchte, im Kleinen dasselbe zu bewirken, wie die Maschine im Grossen. Hatte er Erfolg?
Er wusste es nicht. Wie ein Schwimmer, der sich quer zu einem reißenden Strom fortstößt, spürte er seine Schwimmbewegungen, spürte aber auch sein Abdriften, welches er nicht vermeiden konnte. Waren die Veränderungen nur Wirkung des Manipulationscomputers oder auch seine eigene? Verlor er sich vielleicht in Alternativen, dem Sog der Zielwelt der Manipulatoren zwar entkommen, seine Ursprungswelt trotzdem nicht wiederfindend?
Er hatte den Eindruck und auch wieder nicht den Eindruck, dass seine Bemühungen Wirkung zeigte - er fand sich wie immer umhüllt von einer realen und anwesenden Welt, unabhängig von ihm - und gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass es von ihm abhing welche Formen diese Welt annahm, was in ihr (in ihm) erschien. Er konnte nichts kontrollieren und bewirkte alles.
Dieser Eindruck zerrte an ihm, brachte ihn auf die Frage, ob er verrückt geworden war - ein letzter klarer Gedanke vor dem endgültigen Abdriften in den Wahn - ob er sich alles nur vormachte, gefangen in sich selbst (so wie er am Anfang der Irrfahrt schon einmal darüber gedacht hatte). Wenn er Dinge verändern konnte, indem er ihre Alternativen dachte, in welcher Welt lebte er dann - in einer unwirklichen? Und wenn er so darüber dachte, waren dann nicht seine Gedanken unreal, irre, da er in Wirklichkeit nichts bewirken oder verändern konnte (wie es seinem mentalen Konzept von der Realität nach auch war)? Warum sagte er dann nicht einfach: Erscheine Sonne - und die Sonne ging auf - wäre das nicht der Beweis gewesen, der ihm gefehlt, der ihn überzeugt hätte? Warum hatte er das noch nicht versucht? Doch wohl aus Unglauben an die Realität einer solchen Möglichkeit.
War diese Welt, in der er die Sonne aufgehen lassen konnte (irgendwie war er nun davon überzeugt, es tun zu können), vielleicht nicht die reale Welt? War er in seine eigene Phantasie übergetreten, ihm unbemerkt, nun dort gefangen? Ihm sprang plötzlich das Bild des Fast-Unfalls in den Sinn, der Moment, in dem der Lastzug ihn beinahe gestreift hätte, lärmend, hupend, ein nachhallendes Dröhnen und Sirren im Ohr hinterlassend - was wäre, wenn der Unfall tatsächlich stattgefunden hätte, er nun verletzt und im Koma im Krankenhaus liegen würde? Alles Folgende nur die allmähliche Verbiegung seiner Erinnerung ins Irreale gewesen wäre? Ins Befremdende?
Konnte er sich zu einem Bewusstseinszustand durchkämpfen, in dem er Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte? Wissen konnte, ob er träumte oder wach war? Aufwachte dafür, dass er träumte? Er stellte sich lebhaft das Bild eines in einem Krankenbett liegenden Körpers vor, angeschlossen an pulsierende Maschinen, daneben Monitore zur Überwachung, blinkende Lichter, Medizinische Apparaturen - fast gelang es ihm, ein solches Bild deutlich werden zu lassen, bis ihm auffiel: Aus dieser Perspektive konnte er sich unmöglich selbst sehen, so von außen, von oben betrachtet. Auch das Bild, um das er sich jetzt bemühte, verdankte sich nur seiner Einbildungskraft.
Da gab er auf. Rang nicht mehr um eine Wirklichkeit, die für ihn Handfest war - Solide - Unveränderbar. Er musste sich auf das einstellen, musste sich in dem einrichten, was an ihn heranflutete, es als das ihm zur Verfügung stehende annehmen und damit zurecht kommen.
Die Maschine wob einen Teppich von Zauberworten über die Erinnerung an die Vergangenheit, beschwatzte, wie Rotta sich ausgedrückt hatte, die Gegenwart (die sich allerdings dadurch ständig änderte: Was wurde da beschwatzt, wenn sofort wieder in die Nichtexistenz verschwunden? - ein weiteres Paradoxon). Er selbst fabrizierte in seinen Beschwörungsreden ein endloses Band von Zaubersprüchen, die Realität zu zwingen, ihm eine andere Version anzupassen, wie ein Kleidungsstück, auf ihn zugeschnitten, nur für ihn entworfen. Er redete sich selbst diese gewollte Wirklichkeit herbei.
Worte erschaffen die Welt. Das sah er jetzt. Worte halten den Traum fest und machen ihn wirklich. Was nicht in Worte gefasst wird, verflüchtigt sich. Was in Worte gefasst wird, verdrängt das nicht erfasste, noch nicht gefasste. Seine Rede verwandelte eine Möglichkeit unter vielen in die einzig wahre. Wechselte er die Rede (es lag an ihm), beschrieb er anderes, wechselte auch das Beschriebene. Er entwarf und definierte Alternativen durch seine Beschreibung. Machte sie zur einzigen, alternativlosen Wirklichkeit. Kostete sie und verwarf oder nahm an.
Er war unterwegs, folgte dem Geschmack der rechten Worte, produzierte die falschen und manchmal auch die richtigen Worte - die ihn in die Irre oder auf richtige Fährte führten.
Aber seltsam war: indem er feststellte, dass er auf diese Weise etwas bewirken konnte, wurde ihm das, was er bewirkte, immer imaginärer. Unwirklicher. Er folgte den Worten in die Räume, die durch die Worte (das Wort) geschaffen wurden, doch der Raum, der dadurch für ihn entstand, war imaginär.
Oder war er es selbst, der sich in ein unwirkliches Wort aufgelöst hatte? Imaginär wie die Zahlengröße: wirklich - unwirklich.
Hatte sich denn viel geändert - außer dem Grundsätzlichen?. Er lebte, nicht anders als von Beginn seines bewussten Lebens an, in einer durch seine Worte, seine Beschreibung der Dinge geschaffenen Welt - ob ihm übermittelt oder nicht - der Raum der Worte, in den er sich eingewohnt hatte, war sein eigener. Schon immer gewesen. Nur hatte sich das nicht so deutlich gezeigt, da er Bilder, Worte, Begriffe (innere Gestalten) verändern konnte, aber die äußeren damit gemeinten Gegenstände und Sachverhalte sichtlich nicht - welche allen anderen Mitlebewesen auch, so wie ihm, zu Verfügung standen, seine Subjektivität ins Objektive korrigierend.
Nun schwankte das Objektive, verschwand ihm und erschien ihm wieder, dem sanften Zwang und ständigem Drängen der Einflüstermaschine gehorchend, die überwältigende Worte hatte, überzeugende Worte, geschichtsverändernde Worte. Worte der Macht.
In dieses durch die Wortmaschine geschaffene Bild der Welt konnte er jetzt sein eigenes Bild einfügen - konnte vielleicht sogar dagegenhalten, es korrigieren, seinerseits umschreiben. Und wenn es nur für ihn selbst gälte - was der Fall war.
Also war er ein Schwimmer im Meer der Möglichkeiten geworden. Er musste nur lernen, zu schwimmen (die Tsunami-Woge reiten, hatte es Koslowski genannt).
In seinem ihm genommenen, vorigen normalen Leben hatte er einmal, angeregt durch ein Buch, in dem dieser Vorschlag gemacht worden war, das halb spielerische, halb ernsthafte Experiment durchgeführt, sich durch gedankliche Willenskraft eine Münze vor die Füße zu wünschen - früher oder später, hatte der Autor angedeutet, würde er eine finden, innerhalb eines akzeptablen Zeitraums natürlich, zum Beweis dafür, dass die Welt voller anzapfbarer Magie wäre - er hatte Münzen gefunden, aber nicht innerhalb der von ihm gesetzten Zeit, so dass es für ihn wieder unentschieden blieb, ob das Experiment gelungen war oder nicht.
Jetzt gab es für ihn keinen Zweifel: Wenn er wollte, könnte er auch Münzen regnen lassen, er konnte mit den Umständen spielen, die Zufälle erfinden. Die Dinge fügen, wie er sie gefügt haben wollte. Wenn er es lernen konnte, damit umzugehen. Die Welt war jetzt danach. War das magische Universum, welches in diesem Buch versprochen worden war.
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