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WOANDERSWELT: PRÄLUDIUM UND FUGE IN MOLL


Inhalt:

Endstand + Wachsende Verwirrung + Erklärungen + Verschwörer: Rottas Monolog + Korrekturen + Geschichte, alternativ + Verschwinden + Schweben, schwimmen + BruderSohn + Ankunft/Epilog



BruderSohn

Als er akzeptierte, dass er von seinem ursprünglichen Leben weiter entfernt war, als wenn er auf einen anderen Kontinent geflogen wäre, auf einen anderen Planeten (gab es irgendwo eine Wirklichkeit, in der das möglich war?), konnte er den psychischen Zusammenbruch nur dadurch vermeiden, dass er ihn simulierte: Sich blind und taub und regungslos gab und nur noch nach innen fühlte, sich in sich selbst bewegte.
Er verdrängte alles, was um ihn war, in welcher Gestalt auch immer, ließ sich hinuntersinken (oder stieg dabei auf), umgab sich mit einem Mantel aus Wärme, erschuf ein Feld aus Glanz. Grüßte das Licht, das in ihm aufkam, bewegte sich in die Richtung seiner ausgestreckten Hände, die er imaginierte.
Ein Gedanke kam ihm, nach zeitlosem Dahinströmen: Du kannst von hier aus alle Menschen berühren, die dir etwas bedeuten und die dir fehlen. Sie sind da, sind nicht verschwunden, in dir liegt der Ort, der die Realitätsvarianten zusammenbindet. Nacheinander umfühlte er die Erinnerungsbilder, die er von dem ihm Nächsten hatte, den Lebenden und den Toten.
Seine frühere Frau schien weit entfernt zu sein, nicht der Abstand der Alternativwelten trennte sie beide, das, was zwischen ihnen vorgefallen war und noch immer seiner Erinnerung an sie prägte, stellte sich als Hindernis zwischen ihn und der klaren Empfindung für sie.
Sein kleiner Sohn schwebte wie eine Sonne vor ihm, war aber an seine Mutter gebunden und entfernte sich mit ihr, ohne dass er ihnen folgen konnte. Blieben die Toten, die deutlicher wurden, je mehr er sich ihnen zuwandte und sie sich vorstellte: Ihr Wesen, ihre Bedeutung für ihn, ihr Wirken und Fortwirken in ihm. Er war umgeben von einer Sphäre tröstenden sich Mitteilens, von friedenbringenden Boten anderer Welten.
In dieser Runde des Trost-Leuchtens, der wärmenden Lichter, fiel ihm überraschend auf, dass eine Präsenz fehlte: sein abhanden gekommener Bruder. Sich selbst abhanden gekommen, und dadurch auch ihm. Dessen Gegenwart vermisste er zwischen den anderen Toten, obwohl er doch zu diesen gehören sollte. Er konnte sich ihn nicht vorstellen. Hatte der Schmerz um ihn sein Bild gelöscht?
Er erinnerte sich an ihn - doch diese Erinnerung war etwas anderes als das stille Leuchten der Vergegenwärtigung, dass er so unmittelbar, so real als Anwesenheit spürte. Es kam ihm vor, als ob er dessen Echo in seinem hinter dem Horizont verschwundenen Sohn wahrnehmen konnte, als Spur einer Verbindung, die ihm ein Rätsel war. Schon vorher ein Rätsel und eine Ahnung gewesen war.

In dem Augenblick, als er seinen neugeborenen Sohn vorsichtig linkisch mit seinen Händen umfasste und voller Furcht, er könnte ihm herunter fallen, fast krampfhaft vor sich hielt, in diesem ersten Augenblick der Begegnung mit dem ihm von nun an Anvertrauten, hatte er etwas bemerkt, was ihn bestürzte und stark beeindruckte. Den Säugling markierte, rings um seinen Hals verlaufend, ein dunkelroter Streifen, eine Falte nur, aber ausgeprägt, sich deutlich abzeichnend.
Der winzige Säugling, wunderschön und auf eine anrührende Weise fremd, brachte ihm ein Bild in Erinnerung, unwillkürlich sich aufdrängend, das sich ihm in der verstörendsten Erfahrung seines Lebens eingeprägt hatte. Er stand vor dem aufgebahrten Leichnam seines Bruders, dieser war zwar geschminkt und zurechtgemacht, aber das tiefe, hässliche Mal konnte dadurch nicht kaschiert werden, das sich von einem Ohr zum anderen um den Hals zog: Der zerfranste Abdruck des Seils, dessen Schlinge, sorgfältig verknotet, sich sein Bruder umgelegt und in die er sich geworfen hatte, am höchsten Baum seines Gartens.
Warum hast du das getan? Noch immer war diese Frage unbeantwortet und quälend.
Und nun sah er dieses Mal wieder vor sich. An seinem Neugeborenen. An dem ihm Zugeborenen. In diesem ersten emotional-bewegten Augenblick kam ihm ein seltsamer Gedanke: Sein Bruder hatte sich ihm anvertraut... So wie er es ihm in dem stillen, inneren Gespräch an der Totenbahre angeboten hatte: Wenn du es bereust, ich will dir helfen, es wieder gut zu machen - komm zu mir. Ich bin für dich da. Und nun war er gekommen. So schien es ihm.

Seit sich dieser Gedanke festgesetzt hatte, tauchte er immer wieder in ihm auf, als ob er auf eine Gelegenheit warten würde, sich zu manifestieren. Wurde dadurch, da er ihn weder zurückwies noch sich mit ihm weiter auseinander setzte, zu etwas Selbstverständlichem, ihn Begleitenden, zu einer Wahrheit in seinem Leben, ohne dass er dies wollte oder ablehnte. Er dachte wenig darüber nach.
Aber als er sich von allen getrennt fand, die ihm jemals etwas bedeutet hatten, verwandelte sich diese Idee in einen Selbstvorwurf, der ihn zusätzlich quälte: Er hatte seinem Bruder nicht helfen können, hatte nicht bemerkt, was vor sich ging, ihn durch Unaufmerksamkeit, Gleichgültigkeit, Selbstbezogenheit verraten, ihn seiner Einsamkeit und seinem verzweifelten Entschluss überlassen... Kein Bruder dem Bruder, ein Fremder dem fremd gewordenen.
Und nun war er ihm wieder verlorengegangen. Ins Nichts zerflossen, aufgelöst in den unendlichen Varianten der möglichen Welten. Er hatte nichts für seinen Bruder tun können, konnte nichts für seinen kleinen Sohn mehr tun. War abgeschnitten von jeder Eingriffs- und Zugriffsmöglichkeit, jedem Handeln. War eine Insel in sich selbst, isoliert, von allem und jedem losgelöst.

Während er sich darauf konzentrierte, den ursprünglichen Zustand wieder zu erreichen, wieder herzustellen, beschäftigte ihn keine Alternative hierzu, erst später, als er merkte, wie verloren er in Wirklichkeit war, wie abseits von der Welt, die er suchte, dachte er darüber nach, was ihm blieb, wenn seine Suche keinen Erfolg hatte. Und ihm kam ein neuer Gedanke: War es vielleicht möglich, eine Alternative aufzusuchen (hieß es nicht besser: aufzubauen?), in der er seinem Bruder direkt helfen konnte? Verhindern konnte, was geschehen war, es ungeschehen machen?
Eine Welt finden - erfinden - in dem sein Bruder lebte und er ihm beistehen konnte - in welcher Form auch immer. In welcher Gestalt auch immer. So hatte er seine Mission gefunden: Er wollte der Engel sein, der seinem Bruder in den Arm fiel, wenn dieser das Verbrechen an sich selbst begehen wollte, die verzweifelte Tat.



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