WOANDERSWELT: PRÄLUDIUM UND FUGE IN MOLL
Inhalt:
Endstand + Wachsende Verwirrung + Erklärungen + Verschwörer: Rottas Monolog + Korrekturen + Geschichte, alternativ + Verschwinden + Schweben, schwimmen + BruderSohn + Ankunft/Epilog
Wachsende Verwirrung
Koslowski traf er an dem Tag, als ihm zum ersten Mal eine Veränderung aufgefallen war. Noch vor dieser Veränderung. Also gehörte Koslowski in die alte Welt vor deren Auflösung, war sein Zeit- und Weltgenosse. Er war erst zwei- oder dreimal in dieser Bar gewesen, kannte niemanden der Anwesenden, auch nicht vom Sehen. Den Barkeeper, einen gutgelaunten Afrikaner, vielleicht ausgenommen, aber auch bei ihm war er sich nicht sicher, ob dieser ihn schon das letzte Mal bedient hatte. Koslowski suchte nicht wirklich das Gespräch, er auch nicht, obwohl er dankbar war, dass er mit jemanden reden konnte, nach einem Tag des schweigenden Umgangs nur mit sich selbst, einzig einen inneren Monolog führend.
Die Bar war in einer Art klassizistischem Stil eingerichtet, hatte eine kreisförmige, dunkelgebeizte Holztheke im Zentrum, gemalte mythologische Szenen unbestimmbarer Bild-Erfindung an der Decke, in schwebenden Blautönen gehalten, das Licht war gedämpft, ebenso die Musik, die unaufdringlich Stimmung machte, in leichten Anklängen an südhibernianische Rhythmen.
Er steuerte einen freien Thekenplatz an, der ihm ins Auge gefallen war, setzte sich, um sich erst dann richtig umzusehen. Einige Tische in den Nischen waren besetzt, dem Alter nach gemischtes Publikum, Gruppen oder Paare, zwei Frauen, die ihn offen musterten, schienen Geschäfte halber hier zu sein, so zeigte er sein Desinteresse an ihrem Angebot dadurch, dass sein Blick nur flüchtig über sie streifte.
"Zum erstenmal hier?", fragte ihn überraschend sein Nebenmann, der sein bemüht beiläufiges Registrieren der Örtlichkeit, der Einrichtung, der Menschen im Raum trotzdem bemerkt haben musste.
"Nein, ja, nicht wirklich, aber bisher nur tagsüber, für einen persischen Mokka, heute will ich etwas Richtiges trinken."
"Richtig ist in Ordnung, richtig muss sein."
Danach kam lange nichts mehr von der Seite des Nachbarn, der ihn angesprochen hatte. Nach seiner Bestellung und der raschen Bedienung (ein gälischer Whisky) prostete er höflichkeitshalber in dessen Richtung. Das blieb lange Zeit der einzige Worttausch, bis sein Nachbar sich vorstellte:
"Koslowski, bin hier als Gast fest angestellt, weiß aber, wann genug ist."
Genug schien ein sehr dehnbarer Begriff zu sein, umfasste offensichtlich sehr viel, nüchtern war er jedenfalls nicht mehr. Aber er war auch nicht unangenehm betrunken, obwohl sich seine Philosophie, die er im Laufe des Abends vortrug, ein wenig ungeordnet anhörte.
"Gefiel Ihnen nicht auch als Kind der Ritt auf dem Karussellelefanten? Die Fahrt mit der Feuerwehr, auf dem Lokführerstand, immer im Kreis, Runde um Runde, und das Ende der Fahrt kommt immer zu schnell... Warum das Vergnügen daran? Weil es eigentlich nicht wir sind, die sich drehen, die Welt dreht sich um uns, im Schwung zieht die Szenerie an uns vorüber, wir aber bleiben (ein wenig schwindelig) immer bei uns. So erlebe ich mich: Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Mondauftritt, Jahreszeiten, wechselnde Moden, vorüberhuschende Gesichter, vorbeiziehende Partner, eine neue Rolle, ein anderes Kostüm - alles geht vorüber, zieht an mir vorbei, endet und fängt an. Nichts von dem bin ich selbst. Nichts dabei, was mich ankettet. Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass vor einer halben Stunde hier alles ganz anders aussah? Wen interessiert's. Ist doch egal, läuft auf dasselbe hinaus."
(Wovon spricht er überhaupt?).
"Warum auch nur die geringste Aufmerksamkeit in eine Auseinandersetzung mit diesem flüchtigen Umkreis investieren, der mich schneller und schneller umläuft (ein Blinzeln von mir, und ich bin schon wieder in einem anderen Leben gelandet), lass es auf sich beruhen, es wird sich eh' gleich alles ändern, auch dich sollte das nicht berühren: Mich berührt' s nicht. Ich habe keinen Ehrgeiz, mich dort irgendwo festzukrallen und im Zufälligen Wurzeln zu schlagen um zu wirken. Um was zu wirken? Im Egal-was-ist ? Ich bin nicht verbunden. Realisiere mich dadurch nicht. Weiß nicht einmal, ob ich immer derselbe bin, der sich verweigert. Vielleicht wechsle ich ja selbst immerzu, und die Welt bleibt stehen, wie bei der Karussellfahrt, von außen betrachtet. Kommt wahrscheinlich auf den Standpunkt an, was man sich drehen, sich verändern, was man stillstehen sieht."
"Ein Ich in einer veränderlichen Welt zu sein, ist Arbeit. Ist Mühe. Alles will dich zu sich ziehen. Hinein in den Mahlschlund. Will dich schlucken. Du strampelst dich ab, um dich zu erhalten. Um dich aufzubauen. Glaubst, es ist deine dir zugewiesene Aufgabe, ein respektables Ich in einer respektablen Welt zu sein. Den Ansprüchen genügen zu können. Fuck it. Kettet dich nur an die respektable Außenseite, an die Fassade. Lass los. Bindet dich nur an Vorstellungen, wie du eigentlich sein sollst. Lächerlich. Dich als eigentlich gibt es nicht. Dich gibt es, das ist schon alles."
(Gibt es mich?)
"Und wenn es dich gibt, dann nicht durch deinen eigenen Verdienst, sondern durch das, was man in der Theologie Gnade nannte. Wenn es sein soll, wirst du dich erfüllen. Auch ohne das flüchtige Gekreise um dich. Ohne dass du dich verlierst und gewinnst und verlässt und ankommst. Betrink' dich mit mir. Ist eh' der beste Zustand, den man erreichen kann. Abgesehen von Satori. Aber wie könnte man Satori durch Arbeit erreichen? Arbeit am Ich - was für'n Schwachsinn. Du wirst geboren, dein Fleisch zerfällt und zum Trost willst du ein Ich aufbauen. Ein starkes Zentrum, das auch dann noch existiert, wenn alles zerfällt. Wie eben deine Zähne ausfallen, deine Haare abfallen, du selbst mitsamt deinem Ding schrumpelig wirst. Dagegen kämpfst du an, mit deinem verstärkten Ich. Und nimmst alles, was du in diesem Kampf einsetzt, aus dem, was zerfällt, sich ändert, wechselt. Schwachsinn. Du bist. Das ist das ganze Geheimnis. Du bist, und musst es nur wissen. Dir bewusst sein, dass du es weißt."
"Ich bin nicht ich, Mann. Bin es nur von außen. Weil man mich so sieht. Sehen will. Bin dann Koslowski. Für dich. Für den da. Und für mich? Bin ich eine Außenstation meines eigentlichen Zwillings. Sitze auch dort an der Bar, aber besser. Nur das, was uns verbindet, ist echt. Sonst bin ich eine Fälschung, gemacht von den Andern für die Andern. Ist doch Piepegal, als was die mich verkaufen. Ich jedenfalls bin damit nicht gemeint. Tut, was ihr mit Koslowski tun müsst, ich bin es nicht, den ihr damit trefft. Mich gibt es nicht als den, den ihr zu eurem Spiegelbild gemacht habt. Euer Blick streift den Spiegel und ihr seht euch, nicht mich. Mit dem, was ihr seht, könnt ihr machen was ihr wollt. Es gehört euch. Ich bin es nicht.
Ich halte mich nicht an euch. Ich halte mich an meinen Zwilling. Mit ihm als Rettungsachse kann ich schwimmen. Angeleint an ihn. Die Identität, die ihr mir zubilligt, brauche ich nicht. Kann ich fahren lassen. Aufgeben. Brauche mich nicht an sie zu klammern, mich an sie zu halten, damit ich weiß, wer ich bin. Damit ich nicht verloren bin - bin sowieso verloren. An das, was ihr mir zubilligt. Alles zerrt an dieser billigen Masken-Identität. Will sie mir vom Gesicht reißen. Gesicht gibt es nur nicht. Der Mahlstrom will mich mit sich fortreißen, will mich verschlingen. Nimmt nur die Maske mit sich fort. Und ich? Sitze hier. Habe keine Identität mehr.
Und warum sie nicht in den Wind schreiben? Warum nicht den Sturm, die Tsunami-Woge reiten? Ich weiß dann zwar nicht, wer reitet, aber als Surfer balanciere ich auf der Welle, als Fisch schwimme ich in der Welle, als Vogel schwebe ich über der Welle.... Frei von ihr, verbunden mit ihr. Fühle mich merkwürdigerweise nicht in alle Winde verstreut, wenn ich mich auf die Winde einlasse, fühle mich nicht dezentriert, wenn ich zulasse, dass sich mein Festkrallen an ein Zentrum lockert. Will nicht mehr allem, was mich durchzieht, meinen Namen geben, um ein Selbst mit Namen zu sein. Ein Ich.
Will mich lieber ausdehnen, über alle Grenzen hinaus, mich mit allem ausfüllen, was mir begegnet. Aber diese Filter, Sperren und Ausgrenzungen, die ich brauche, um mich dabei nicht zu verlieren, hindern mich, in Kontakt mit dem Anderen zu kommen. Und diese Filter, Sperren und Einschränkungen hab' ich nicht selbst aufgebaut, sie sind mir eingepflanzt worden, ohne mein Wissen, ohne mein Wollen, ohne mein Einverständnis. Nur weil sie schon immer da waren, weil ich mich an sie gewöhnt habe, mein' ich, dass sie mir meine Identität garantieren. Und verstärke sie ängstlich, statt sie niederzureißen. Forget it. Diese angstdurchsetzte Identitätsaufrechthaltung ist zu anstrengend, um sie auf Dauer durchzustehen. Warum nicht gleich loslassen. Warum nicht gleich dort heimisch sein, wo wir sowieso stehen, schweben, landen: Im Chaos.
Ein Prost auf das Chaos. Ordnung ist der Tränenweg. Ist der Schmerz. Die Mühsal. Verschwendete Anstrengung in Aufrechterhaltung der Fassade. Ich-Arbeit ist der Irrweg. Merkst du nicht, wie du trotzdem getragen wirst? Lass dich fallen, Mann..."
So ging es weiter, er verstand nur die Hälfte davon, was Koslowski ihm erzählte; bei aller Bereitschaft sich auf ihn einzulassen, wurde er das Ganze allmählich überdrüssig. Die nächste Unterbrechung im Redestrom nutzte er deshalb, um sich auszuklinken.
"Ich muss jetzt gehen, tut mir leid, bis demnächst." Fragte nach der Rechnung, bezahlte und stand auf, um sich zum Ausgang durchzuschlängeln (die Leute standen inzwischen dichtgedrängt um den Tresen).
Als er beim Weggehen nochmals zurückschaute, schon an der Tür stehend, um den Ort mit einem letzten Rundum-Blick zu umfassen, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er hatte diesen Raum, den er gerade verließ, nie betreten.
Die Garderobe war ein dünnes Bambusrohr, an dem stumpf gemachte Fleischerhaken hingen, die Theke selbst eine fragile Konstruktion aus Bambus, blanken Metallflächen und Neonschriftzügen, die über ihr und an der Rückwand angebracht waren, irgendwelche Zen-Zitate, in Ornament verwandelt. Ein ernster, großgewachsener Asiat stand hinter der Bar und schüttelte feierlich-rhythmisch den Shaker, wie einer Tempelzeremonie vorstehend. Die Musik sirrte verhalten durch den Raum, elektronischen Zikaden ähnlich. Dann setzte ein wummerndes Bassgewitter ein, allerdings gesprächstauglich heruntergeregelt. Der Wechsel des Musikstiles konnte noch normal sein, aber nicht die Veränderung des Raumes. Dafür hatte er keine Erklärung. Außer der, dass sein Gedächtnis, was die letzten Stunden betraf, völlig ausgesetzt hatte.
Selbstverständlich gibt es keine reale Vergangenheit, es gibt als Realität nur eine andauernde Gegenwart, jeder Augenblick des Lebens ist ein gegenwärtiges Moment, aber dass sich seine Erinnerung an die eben entschwundene Gegenwart so sehr von der jetzigen Gegenwart unterschied, er nichts von dem Erinnerten im Jetzt finden konnte, bestürzte ihn zutiefst. Was war mit ihm passiert? Hatte er einen Blackout? Nein, er erinnerte sich fast lückenlos an sein Hereinkommen: An seinen etwas verunsicherten Gang zur Theke (nicht wirklich heimisch hier), daran, wie er sich auf den hohen, schmalen Barhocker gesetzt, verstohlen die Nachbarn links und rechts gemustert, die Flaschen im Regal hinter der Theke geprüft hatte; er erinnerte sich an die Frage des Barkeepers und an seine Bestellung; danach kam der Kontakt mit Koslowski und das merkwürdige Gespräch mit ihm. Nirgends eine Lücke, nirgendwann ein Aussetzer. Woher, wann also der Wechsel? - Wenn es einen gab. Ab wann war in seinem Gedächtnis eine andere Szenerie präsent, ein anderer Stuhl, auf dem er saß, ein anderer Musikstil, ein anderes Publikum (denn das war doch auch ausgewechselt worden, oder?). Nein Koslowski saß wie vorher an seinem Platz, ein Zeuge dafür, dass es sie beide vor einer Stunde schon gab, er nicht erst in dieser Sekunde angefangen hatte zu existieren - obwohl: war das nicht genauso gut ein mögliches Konzept wie das, dass er schon mehr als dreißig Jahren unter einer realen Sonne lebendig gewesen war?
Ihm kam es vor, als ob er in einem Bewusstseinskino säße, einen Film vor sich (um sich), und dieser Film einen Schnittfehler hätte: Versehentlich waren alternativ gedachte Szenen, in anderen Kulissen gedreht, aneinandergeschnitten worden. Aber er hatte es bemerkt. Warum? War er versetzt worden, verrückt? War die jetzige Gegenwart real, die im Gedächtnis bewahrte Gegenwart irreal? Die jetzige Realität konnte er nicht leugnen, ohne sich selbst in Frage zu stellen, ein absurder Gedanke, aber er weigerte sich, seine so deutliche Erinnerung aufzugeben, ins Vergessen zu flüchten. Er wusste doch, was gewesen war. Aber wenn das Jetzt wirklich war, konnte das Vorher nicht wahr gewesen sein. Und trotzdem: es war gewesen. Was gewesen war, gab es allerdings nur noch als Erinnerung: Konnte diese gefälscht sein? Sie musste es - das war die einzige logische Erklärung. Wenn das aber der Fall war, er mit einer gefälschten Erinnerung herumlief, wer war er dann? Sein Bild von sich selbst beruhte auf Erinnerungen. Wie weit ging die Fälschung, die Täuschung über sich selbst, betraf sie nur die Bar, betraf sie seine Erinnerung insgesamt, sein ganzes Leben, wie er es als einst gewesen voraussetzte?
Durch den Schock dieses Erlebnisses (welches? Schon verschwand ihm die Möglichkeit, an das Vorher als ebenso real wie an das Jetzt zu denken) wurde er auf Unstimmigkeiten aufmerksam, die sich unbemerkt überall eingeschlichen hatten. Ein Gebäude, an dessen leuchtend blaue Farbanstrich er sich zu erinnern glaubte, war in Wirklichkeit, wie er sah, grün, eine Statue, von der er die ganze Zeit geglaubt hatte, sie stellte einen löwenmähnigen Zervan aus der Mythologie der Mithrasmysterien dar, war, wie er jetzt, vor ihr stehend, feststellte, Perseus mit dem abgeschlagenen Kopf der Hydra in der Hand - sein Gedächtnis schien ihm Streiche zu spielen, oder etwas noch grundlegend Merkwürdigeres ging mit ihm vor.
Manchmal sah er, wie aufeinandergehalten, ineinandergeschoben, das Erinnerungsbild eines Gebäudes, verschmolzen mit dem realen Gebäude, mit dem es seltsamerweise nicht oder wenig übereinstimmte. Dann war wieder der Eindruck von Fälschung (seiner Erinnerung oder der Gegenwart) wie weggewischt, alles war selbstverständlich und normal, bis ihm der unerklärliche Verdacht kam, dass dieser oder jener Anblick gestern noch ganz anders gewesen war, ohne das er dieses dumpfe Gefühl konkret an etwas festmachen konnte. Als er vor dem Haus stand, in das er vor einem halben Jahr eingezogen war, fragte er sich einen Augenblick, ob ihn seine automatisch gelenkten Schritte nicht vor das falsche Gebäude geführt hatten, er irgendwann vom schon gewohnten Weg abgekommen war, er sich verträumt und die Richtung verloren hatte (aber wo? Es gab keine verwirrende Abzweigung auf seiner Route) - einen Augenblick lang schien ihm das Haus sehr fremd, bis sich alles normalisierte und er akzeptierte, dass das, was er sah, einzige Realität und schon immer so gewesen war.
Im Zimmer angekommen, war er erleichtert, nichts Befremdliches vorzufinden, keine Veränderung, die er sich nicht erklären konnte, keine aufflackernde Ahnung von einem gestern noch vorhanden gewesenen Tapetenmuster, das es heute nicht mehr gab - sein neues Zuhause empfing ihn wie ein wirkliches Zuhause: Zum erstenmal hatte er dieses tröstliche Gefühl der Umarmung durch das Gewohnte.
Nachts schreckte er auf, verwirrt, weit jenseits der Tröstung, im unendlich Fremden, eben aus einem ganz Anderen angekommen. Seine Träume bedrängten ihn wieder, er wollte aufwachen, wollte gleichzeitig in ihnen bleiben, da die Wirklichkeit außerhalb des Traumes ebenso befremdlich war wie innerhalb. Ein unterschwelliges, kaum wahrnehmbares Brummen erfüllte den Raum, der davon zu zittern schien; die wie lebendigen, bedrohlichen Furchtschatten seiner Kindheit (wie lange hatte er solche Gefühle nicht mehr gehabt?) waren plötzlich wieder da, so merkwürdig verzerrt kam ihm alles vor. Doch der Schlaf, den er noch nicht richtig hinter sich gelassen hatte, holte ihn wieder zu sich, er versank in ihn, um erst am Morgen ganz und endgültig für den Tag zu erwachen.
In den nächsten Wochen überfielen ihn diese verwirrende Augenblicke öfters, noch intensiver und aufdringlicher als vorher; am Ende streckte er die Waffen: Er akzeptierte, dass etwas Unerklärliches vor sich ging. Die Welt veränderte sich. Ständig. Nicht im üblichen Sinn, dass etwas gebaut wurde oder zu Bruch ging, ein neuer Laden eröffnet, eine Lieblingskneipe geschlossen wurde: In einem tiefergreifenden, die Existenz angreifenden Sinn.
Die Welt, die er am Abend verlassen hatte, um sich schlafen zu legen, gab es am nächsten Morgen nicht mehr. Die Welt, wie sie am Morgen war, hatte sich am Mittag in etwas anderes verwandelt. Abzulesen an Kleinigkeiten, an Details, die aber in ihrer Summe umfassend waren; abzulesen an Unübersehbarem: Wenn Wahrzeichen verschwanden, in Nicht- Existenz aufgelöst, als ob es sie nie gegeben hätte, an ihrer Stelle andere, ebenso imposante historische Bauten standen - oder, im Gegenteil, Slums, Brachland, vernachlässigte Areale denselben Ort prägten..
Nur in seinem Gedächtnis gab es diese Wahrzeichen noch, und was war sein Gedächtnis? Ein Speicher erlebter Tatsachen oder ein Produzent gefälschter Erinnerungen? Diese erschreckende Alternative kam ihm wieder in den Sinn, als er voller Verwunderung einer Veränderung nachgrübelte, die ihm ins Auge sprang: Dort, wo gestern der Haupttempel einer ihm vage bekannt vorkommenden Sol-Invictus-Staatsreligion (ähnlich der, an die er sich zu erinnern glaubte, nur trat sie eigentlich bescheiden als Privatsache auf) den Brennpunkt eines übergroßen Platzovals dominiert hatte, befand sich heute ein anderes, aber offenbar ebenso altes Gebäude, vermutlich der repräsentative Teil der städtischen Verwaltung.
Konnte es sein, dass sich alle diese Verwandlungen nur in seiner Phantasie abspielten, er in seine eigenen Hirngespinste verfangen war, ohne Ausgang ins Freie, ohne Zugang zu einer wie auch immer gearteten Realität? Irrte er nur im Spiegelkabinett seiner Psyche umher, die, durch irgendeine krankhafte oder unfallbedingte Störung verursacht, aufgehört hatte, eine verlässliche Umgebung zu simulieren, die unzureichend arbeitete, diskontinuierlich, nur noch eine brüchige Realität zu produzieren imstande war? Setzte sein Gehirn Realitätsabbildungen frei zusammen, entweder irgendwelchen Assoziations- und Metamorphosegesetze folgend oder in unzusammenhängenden, willkürlichen Sprüngen?
Und wenn es so wäre: Welche Möglichkeiten hätte er, das herauszufinden?
Er beschloss, über den Augenschein hinaus zu prüfen, ob er in einer anderen als der gewohnten Welt lebte. Er musste nur eine Methode finden, mit der dies möglich war. Er hatte einzig seine Erinnerungen zur Verfügung, seine Erinnerung an Tatsachen, Geschehnisse, Menschen, die wirklich waren, die Bestandteil seines Lebens waren - wenn er seinem Gedächtnis vertrauen konnte. Aber das war die Prämisse. Ohne das Festhalten daran, dass er seine Wirklichkeit im Kopf trug, wäre er rettungslos verloren, denn an was konnte er sich dann noch halten? Das einfachste schien ihm, zu vergleichen. An was er sich erinnerte und was davon abwich. Dazu wollte er auflisten, was für ihn Tatsache war und das Stichwort anschließend in einer Bibliothek nachschlagen.
Er besorgte sich ein gebundenes Buch mit leeren Seiten (nahm es einfach an sich, da er nicht sicher war, ob das Geld, das er in seiner Tasche hatte, auch akzeptiert werden würde) und fing an, zurückgekehrt in sein Zimmer, alles aufzuschreiben was er als Faktisch wusste. Legte endlose Listen an mit Namen und Begriffen aus den unterschiedlichsten Bereichen, zuerst ungeordnet, wild durcheinander, wie sie ihm eben in den Sinn kamen.
Allmählich formten sich Zusammenhänge in seinem assoziativen Vorgehen. Z.B. ein geographischer: er schrieb die Namen aller Flüsse Europas auf, die ihm einfielen, dann die der Gebirge, Waldzüge, dann die Landschaften, Seen, Meere, Buchten und Meerengen, die Stadtnamen, die Namen der Hauptstädte und Metropolen. Das führte ihn zur politischen Geographie, zu den Ländern, Staaten, Staatenbünde, Kolonien, zu den großen Reichen - er entwarf eine Weltkarte aus der Kenntnis seines Gedächtnisses. Europa, die anderen Kontinente, die ganze Weltkugel als einen (in seinem Vorstellungsbild, das er von einem Globus übernahm, den er einmal als Kind besessen hatte) bunten Flickenteppich, mit weißen Flecken allerdings - so merkte er, wie sein Bild von Afrika doch lückenhaft und unsicher war.
Und dann ein anderer Bezug: Er listete die Namen aller Personen auf von denen er jemals gehört hatte, gerade wie sie ihm durch den Kopf zogen, er hangelte sich von Name zu Name, dem Netzwerk der Beziehungen folgend, in dem diese Personen in seinem Gedächtnis miteinander verbunden waren. Auch hier fand er wieder Gruppierungen: Politiker, Künstler, Schriftsteller, Komponisten, Wissenschaftler, Forscher, Erfinder, Menschen, die aus irgendeinem Grund bekannt und berühmt geworden waren. Und bald führte ihn dieser assoziative Weg aus der Gegenwart in die Vergangenheit und er war in einer neuen Kategorie angekommen: die historische Persönlichkeit. Was ihn nach einiger Zeit des scheinbar unendlich langen Namensauflistens dazu brachte, diese auch nach Epochen und Gegenden zu ordnen, womit er ganz in die Historie übergewechselt war.
Zu Namen fielen ihm Ereignisse ein, politische Konstellationen, berühmte Augenblicke der Geschichte, Jahreszahlen (freilich nicht so viele, sein Verhältnis zu Zahlen war nie ein Besonderes gewesen) und wieder Überschriften, unter denen sich die geschichtlichen Momente einordnen ließen: Kriege, Schlachten, Friedensschlüsse, Ereignisse von symbolischem oder epochalem Charakter, zivilisatorische Errungenschaften, gesellschaftliche Umschwünge, mentale Paradigmenwechsel. Revolutionen. Katastrophen. Triumphe. Schicksale.
Sein Buch füllte sich mit Namen und Begriffe, wobei er nun anfing, dazu Kommentare zu schreiben, Querverweise beizufügen, kurze Charakteristiken anzuhängen. Jetzt war er dabei, seine gesamte Welt, im räumlichen und zeitlichen Bezug, wie er sie in seiner Erinnerung fand, aufzuzeichnen - noch immer nicht systematisch, eher eruptiv- zufällig, aber weit ausgreifend, fast alle Wissensgebiete streifend. Die Erkenntnisse der Wissenschaft, den Aufbau der Erde und des Weltalls, Astronomie, Astrologie, die Namen der Dekanatsgötter, die Systeme der Religionen, ihre Stifter, die Namen der Philosophen und was sie vertreten hatten, Techniken und Geräte, die aufgekommen und wieder verschwunden waren (oder aktuell geblieben), berühmte Bauwerke (und ihre Erbauer), die Orte geprägt hatten, ihnen ein Gesicht gaben oder noch geben (wenn es nach seiner Erinnerung ging), die Zeiten, in denen sie errichtet worden waren, ihr Baustil, Stile allgemein, Kunstepochen, Künstlergemeinschaften, Musikstücke, Theaterstücke, die Entwicklung von utopischen Ideen über das wahre Leben, Romane, in denen diese dargestellt worden waren: Und schließlich war er dabei, die Titel aller Bücher aufzuschreiben, an die er sich erinnerte, den Autor dazu, soweit in seinem Gedächtnis, und Thema und Gebiet, womit es sich beschäftigte.
Von einfachen Namenslisten war er in eine Art Enzyklopädie geraten, eine Enzyklopädie der erinnerten Dinge, Geschehnisse und Sachverhalte, mit allerdings großen Lücken und vielen Fragezeichen, mit Namen, die herumirrten und sich noch nicht zuordnen ließen, mit Begriffen, die ihn angesprungen hatten und die er doch nicht recht mit Inhalt auffüllen konnte, mit Verweisen, die sich in einem Gestrüpp von nicht mehr entwirrbaren Bezügen verliefen - und während er die Bibliothek seiner Erinnerung zusammenstellte, im Gegenvergleich mit den Büchern, die ihn real im Zimmer umgaben, tauchte plötzlich eine Szene aus seiner verlorenen Vergangenheit in ihm auf - ein ähnliches Erlebnis unter anderen Umständen und Vorzeichen.
Und war so überstark gegenwärtig, dass er sich auf sein Bett zurückzog, den Kopf in beiden Händen geborgen, halb auf der Brust liegend, halb kniend, den Rücken gekrümmt, zuerst heftig angespannt, um dann zu erschlaffen. Der Schmerz, die Trauer würgte ihn, das Verlorene drückte ihn, presste seinen Brustkorb zusammen. Gleichzeitig füllte er sich mit einem Gefühl, das er nur als süß bezeichnen konnte - Wehmutssüße, Sehnsuchtszerren. Er erinnerte sich.
Es war eine Szene aus der ersten Zeit mit seiner Frau, damals noch Freundin, einer Zeit, in der sie sich noch nicht so gut kannten, aber sich umeinander bemühten. Eine kleine melancholische Geschichte um einen Misston in Liebe und Zärtlichkeit, entstanden aus Vorurteil und Kleinherzigkeit (wie er es jetzt sah): Eine der scheinbar geringfügigen Enttäuschungen in der Liebe, die sich mit der Zeit summieren und zu großen Enttäuschungen auswachsen. Beide waren sie jung, er voller Prinzipien und unangezweifelten Selbstverständlichkeiten, sie ein leeres Blatt in Bezug auf Bücher und Bildung, aber eifrig, ihm Gutes zu tun und ihre Zuneigung zu zeigen. So fing sie eines Tages an, seiner umfangreichen Bibliothek, die in ihren Augen vernachlässigt und unordentlich war, eine harmonische Ordnung zu geben. Sie stellte alle Bücher um, ordnete sie nach Größe und Farbe, verbrachte den ganzen Tag damit, verschmutzte Bücher zu entstauben und ihren Sinn für Harmonie und Proportionen einzusetzen. In dieser völlig sinnfreien Zusammenstellung verwirklichte sich ihre Liebe und Zärtlichkeit für ihn, ausgedrückt durch beharrliches, ermüdendes Arbeiten. Sie wurde nicht dafür belohnt.
Seine erste Reaktion bei seiner Heimkehr war: Nun muss ich alles wieder in Ordnung bringen. In seine Ordnung. War es für dich ein Schlag ins Herz gewesen, schmerzhaft, als ich so reagiert habe? War dir der Geliebte plötzlich ein Fremder, der dich nicht verstand, den du nicht verstehen konntest? Sah er denn nicht deine Zuneigung in dem, was du für ihn getan hattest? Heute fragte er sich, wie sie sich gefühlt haben musste, als er so blind, so taktlos reagierte - überzeugt von seiner Art, der einzig richtigen, die Welt (die Bücher) zu betrachten und einzurichten.
Heute dachte er anders: Jede Ordnung war durch sich selbst gerechtfertigt, ob alphabetisch, sachlich-inhaltlich oder sinngelöst-ästhetisch. Lag der Sinn einer Ordnung im möglichst raschen Zugriff auf das eingeordnete Einzelding, dann war dieser Sinn zweifellos verfehlt, aber andrerseits war die Gefahr jeder Ordnung auch das Festgeschrieben sein der Dinge auf einen bestimmten Sinn, ihr Festgebannt sein in den Einzelkäfig eines Ordnungszoos, als Exempel für diese Ordnung. Und hing nicht in Wirklichkeit alles mit allem zusammen? Wenn der Roman neben dem Mathematikbuch stand, das Gedicht Nachbar der philosophischen Spekulation war, wo war da der Widersinn? Jedes verwies auf das andere und alle zusammen auf das Ganze, welches sie doch nie vollständig ausmachten, in Bruchteile zersplittert, wie es nun einmal war. Vom Ganzen aus war jede Ordnung gleich möglich, gleich gerecht, denn jede Ordnung war nur eine unter unzählig vielen. Und Liebe und Sinn für Harmonie war kein schlechterer Ausgangspunkt für ein Bemühen um das Ganze als etwa Intellekt und Wissen. Heute schmerzte ihn seine Gedankenlosigkeit von damals, sein Unverständnis. Nicht zu sehen, was der andere für einen getan hatte, war schlimmer, als Regeln nicht zu beachten, die einem unbekannt waren.
Weiter nächstes Kapitel: Erklärungen