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WOANDERSWELT: PRÄLUDIUM UND FUGE IN MOLL


Inhalt:

Endstand + Wachsende Verwirrung + Erklärungen + Verschwörer: Rottas Monolog + Korrekturen + Geschichte, alternativ + Verschwinden + Schweben, schwimmen + BruderSohn + Ankunft/Epilog



Verschwinden

Das Bild vom sich verzweigenden Baum alternativer Ereignisketten beschäftigte ihn wieder. Darüber grübelnd, kam ihm plötzlich der Einfall, ob nicht jeder dieser Zweige eine eigenständige Existenz beanspruchte, einmal geschaffen weiterexistierend. Nebeneinander bestehend. Ob nicht diese potenziellen Möglichkeiten aktuelle Möglichkeiten waren, jede in einem anderen Universum realisiert. Der Unendlichkeit des Universums entsprach die Unendlichkeit der Möglichkeiten, der Unendlichkeit der Alternativen die unendliche Anzahl der Universen. Ob nicht allem ein Meta-Universum zugrunde lag, ein Multiversum. Als Hypothese schien das akzeptabel. Dennoch für ihn bedeutungslos, da er in einem zwar sich ständig ändernden, aber einmalig-eindeutigen Universum saß. Oder etwa nicht?

Es ist etwas Tröstliches und Heimatstiftendes an gerufenen und ungerufenen Erinnerungen. Auch wenn sie uns ins Schwere führen: In den Schrecken einer Nacht, die Reue um eine Handlung, eine Unterlassung, ein herausgerutschtes Wort - sie bringen uns in das Gehege eines abgeschlossenen Bezirkes zurück, den wir lange schon verlassen haben - und nun, um uns selbst willen, um dessen willen, der wir damals waren, aufsuchen. Erinnerungen und erinnerte Orte geben dem Ich die Kontinuität, die es braucht, um sich beheimatet, gesichert zu fühlen. Ein Ort, den wir wiederbetreten -erfahren, -begehen, und der in uns Erinnerungen aufsteigen lässt, hilft uns, uns perspektivisch zu sehen, das Damals taucht auf und wir sehen uns als in der Zeit existierend. Verbundener, tiefer existierend als nur im eindimensionalen Jetzt.
Die Erinnerung, die uns die Orte geben können, erfüllt uns mit angereicherter Realität. Es gab uns. Schon vorher. Der Ort erinnert uns daran: Dieses Gebäude hatte ich damals betreten, diese Straße bin ich entlang gegangen, diesen Geruch (nach frisch gebackenem Brot) hatte ich damals in der Nase, die Bäckerei gibt es erstaunlicherweise noch... Und dann all die anderen Erinnerungsbilder, die sich einstellen, wenn wir durch den Gegenwartseindruck eines vormals aufgesuchten Ortes berührt werden: Momente eines ins Ferne gerückten Erlebens, unmittelbar einst, als nachklingendes Echo heute, Brücken bildend zwischen dem Ich jetzt und damals.
Das alles verschwand allmählich aus seinem Leben. Die Orte seiner Erinnerung, die Orte, die ihm Erinnerungen geben konnten, verschwanden ins Nichts. Und das bedeutete für ihn: Er selbst verschwand für sich ins gleiche Nichts. Bröckelte ab. Die Orte seines bisherigen Lebens waren nicht mehr da. Er hatte sie bis dahin nicht vermisst, hatte sich nicht bewusst mit ihnen beschäftigt (meistens jedenfalls), hatte sie für selbstverständlich gehalten. Und wenn ein Ort sich verändert hatte, war er eben erneut ins Inventar aufgenommen worden. Kontinuität war trotzdem gesichert.
Nun nicht mehr. Das war der wirkliche Verlust. Seine Erinnerungen waren da, ohne Zweifel, aber das, was sie anregen konnte aufzusteigen, war aus seinem Leben verschwunden. Verschwand in rasendem Fortschritt immer mehr. Mit den neuen Szenarien verband ihn nichts. Und seine Erinnerungen selbst waren dünn. Zu dünn für einen durchgehenden Erinnerungsfaden. Zu dünn, um nicht abzureißen. Er brauchte die Unterstützung durch die Gegenwart der Gebäude, Dinge, vertrauten Anblicke. Benötigte Erinnerungsstützen, die ihm nun genommen wurden.

In der Art und Weise, wie sich seine Umgebung veränderte, was wechselte, was blieb, was sich lange hielt, um später durch etwas ganz anderes ersetzt zu werden, schien es irgendwie eine Gesetzmäßigkeit zu geben. Menschen hielten sich nicht. Sie waren offensichtlich das schwächste Glied in der Kette, am leichtesten in Nichtexistenz zu versetzen, am schnellsten verschwunden. Generationen mussten ein völlig anderes Schicksal erlitten haben, da große Teile der Bevölkerung ausgetauscht waren.
Oder betraf dies nur seinen Bekanntenkreis? Er konnte ja nicht wirklich überprüfen, ob Freunde durch Fremde ersetzt worden waren, aber bis jetzt hatte er keinen seiner Freunde oder ein ihm bekanntes Gesicht wiedergetroffen, nur: war dieser Zustand nicht schon lange vorher da gewesen? Wann hatte er das letzte Mal einen Freund angerufen oder war von ihm angerufen worden? Einsamer als seit einem halben Jahr konnte er kaum werden - also legte er diese Frage als nicht zu beantworten beiseite.
Gebäude, die konnte er wiedererkennen, konnte sich erinnern, was gestern schon da war oder vor Jahren, auch wenn vielleicht die Details sich veränderten. An dem, wie ihm die bekannten Erinnerungsorte verschwanden, sich Fremdes an deren Stelle breit machte, maß er die Entfernung von seiner Ausgangswelt. Auch ins Fremde kann man sich eingewöhnen, nur gab ihm der ständige Wechsel keine Zeit dazu.
Andrerseits gab es erstaunliche Kontinuitäten in der Folge unterschiedlicher Szenarien. Er saß wie gewohnt an der Aussichts-Glasfront eines Cafés, die sich zu dem belebten Quartiersplatz öffnete, und Platz und Café schienen konstante Größen zu sein; variabel dagegen war der Stil der Ausstattung. Moden wechselten wie Launen, nicht nur im Laufe der Zeit, sondern auch durch unterschiedliche Parallelexistenzen hindurch.
Und noch jemand schien, gleich dem Café und ihm, eine Invariable zu sein, er hatte es mit Erstaunen registriert (war es den Verschwörern nicht auch aufgefallen? Und wie reagierten sie darauf?): Koslowski, der Kneipenphilosoph. Auf seinem Rundgang durch die sich ihm endgültig ins Fremde entziehende Stadtkulisse kam er, solange der Grundplan der Szenerie noch gültig war (irgendwann würde auch das sich ändern) regelmäßig an der Bar vorbei, in der er Koslowski zum erstenmal getroffen hatte und in der, für ihn, alles angefangen hatte, er zum erstenmal auf einen Bruch in seiner Erinnerung gestoßen war. Der Schock des Unfassbaren, Irrationalen hatte ihn dort erfasst - seitdem erlebte er sich im Ausnahmezustand.
Als er nun Koslowski unverändert am Bartresen auf seinem Hocker sitzen sah (hatte er ein Zuhause? Eine Eigenexistenz außerhalb der Bar?), vermerkte er es zuerst nicht als etwas Besonderes, im Nachhinein fiel es ihm ein: Im Unwahrscheinlichen des ständigen Wechsels war eine unveränderte Person eine noch größere Unwahrscheinlichkeit. Wie war es möglich, dass er ihn zweimal, dreimal, jedes Mal scheinbar als denselben antreffen konnte? Vielleicht gab es ihn ja nicht wirklich (Wirklich in dem Sinn, in dem er früher etwas als wirklich angesehen hätte), vielleicht hielt sein Unterbewusstsein Koslowski für den Schuldigen an allem, den Auslöser des Ganzen, und klammerte sich deshalb an ein Vorstellungsbild von ihm fest - vielleicht hatte er ihn sich selbst ausgedacht, um irgendeinen Fixpunkt zu haben - aber warum jemand wie ihn?
Er kam ihm eher als eine Metapher vor als ein lebendiger Mensch - wie aus einem anderen Drehbuch in dieses Skript hineingeschrieben, unverändert übernommen und nicht ganz an die neue Szene angepasst, nicht ganz der neuen Realität entsprechend. Was hieß aber Realität - sie war es ja, die sich ständig aufhob, sich verneinte, sich selbst als irreal, als schon wieder überholt auswies. Koslowski dagegen blieb immer derselbe, sich selbst treu in seiner Philosophie der Treulosigkeit und Verweigerung durch Anpassung.
Am Ende hielt er Koslowski für seinen Schatten, für sein Echo im Multiversum. Für sein Gegenstück. Die Dekoration in der kleinen Bar um die Ecke konnte oszillieren und sich verändern, von einem Tag, von einer Stunde auf die andere, von Neogotisch zu Plastikrevival zu Metalltrash - Koslowski saß auf seinem Barhocker, dem zweiten von links (gab es diesen Sitz wirklich durch alle Veränderungen hindurch?), scheinbar unverändert, und nippte an seinem Drink, dessen Farbe im wesentlichen gleich blieb, der Geschmack wahrscheinlich auch, auf jeden Fall dessen Wirkung. Er saß da, unberührt von allem Wechsel. Den Wechsel nicht beachtend. Seine Philosophie war, neben dem Trinken, dass seine Identität nicht sein Besitz war, sondern durch die Umstände geformt, gefangen in diese. Gefängnisse hasste er. Umstände ignorierte er. Identität misstraute er. Und er war der einzige (außer ihm selbst und den Verschwörern, immun gegen die Veränderungsmaschine durch die Maschine selbst), der durch allen Wechsel hindurch der gleiche schien. Auf seinem Barhocker sitzend, das Glas in Reichweite, den Blick ins Unbestimmte gerichtet.

**

Die folgende Zeit zersplitterte ihm in einzelne Augenblicke - zu Inseln relativer Durchgängigkeit - die sich aber zu keinem Gesamtbild mehr zusammensetzen wollten. Er befand sich im Irgendwo, ohne zu wissen, ob das, woher er kam, noch da war (in einer Umkehr wieder erreichbar), ob der nächste zukünftige Ort und Augenblick noch irgendwie mit dem Jetzt zu tun haben wird. Er sammelte Augenblicke. Bewahrte sie dort, wo sie allein noch existierten: in seiner Erinnerung. Und verlor doch die meisten Erinnerungen, da sich zu viele in ihn drängten, zu vieles erinnert werden wollte.

Szenen tauchten auf, verschwanden wieder; eine hellerleuchtete Bühne für verfremdete Augenblicke und schlaglichtartige Einsichten:
Die kleine Tänzerin hinter der Bar, selbstversunken zum Getränkeschrank steppend, schien ihm außerhalb dieser Realität, ähnlich ihm, aber aus anderen Gründen. Sie passte mit ihren fließenden Bewegungen, ihrer Hingabe an die Musik, ihrer sexuellen Ausstrahlung, naiv und unbekümmert, einfach nicht in diese Runde gehirnverklemmter Touristen und einsamer Gaffer, die sie beobachteten. Sie schien aus einem anderen Bild ausgeschnitten und hierher versetzt. Ohne Echo, ohne Erwiderung, sich selbst überlassen.
So wie er hier gestrandet war, im Widerstrebenden, schien sie ihm auch in der Fremde zu sein, herausgelöst aus der eigenen Umgebung. Jetzt fiel ihm ein, dass sie nicht der einzige Alien war, den er heute gesehen hatte, viele dieser Passanten und Herumsteher, auf seinem Gang durch die Stadt beiläufig wahrgenommen, waren in Wirklichkeit nicht in dieser Realität verankert. Sie bewegten sich anders. Sie blickten anders. Sie lächelten auf andere Weise. Ihm viel vertrauter, als die Dutzendmenschen, der in umgaben, wenn er im Gedränge einer Menge ging, ein Einkaufszentrum, ein Lokal betrat.
Hier war ein Rätsel. Niemand wusste, so wie er, von den Verwandlungen der Realität, von den Alternativen zum Hier, aber diese verletzlichen Geschöpfe (das waren sie) passten viel mehr in seine eigene Ausgangsrealität als in ihre - und er ging davon aus, dass dies hier ihre Wirklichkeit war. Oder doch nicht? Konnte jemand durchlässig für etwas sein, von dem er nicht bewusst wusste, es aber lebte? Offensichtlich. Er sehnte sich nach seiner Ausgangsebene, in diesen Menschen sah er Ähnlichkeiten, Affinitäten, die kein Zufall sein konnten. Gab es die Möglichkeit eines Rückschwungs, einer Rückverwandlung, vielleicht ein Gesetz der Aktio und Reaktio auch hier, im parallelen Hyper-Universum?

An einen anderen Verlorenen erinnerte er sich, dem er auf einer seiner Streifzüge begegnet war, oder eben nicht begegnet, es gab keine Brücke zwischen ihm und diesem. Er war nur der faszinierte Beobachters des anderen gewesen, eines Jongleurs, der, scheinbar ohne müde zu werden, stundenlang einen längeren silbernen Stab in Bewegung hielt.
Niemand sonst beachtete den seine Übung Praktizierenden: Passanten gingen vorüber, Kinder spielten miteinander, riefen sich, rannten sich im Fangspiel hinterher, Paare saßen eng beieinander auf Parkbänken, nur mit sich selbst beschäftigt. Die Sonne strahlte von einem blauglänzenden Himmel, der von einzelnen wenigen Federwolken weiß betupft schien, die wie von einem weichen, übergroßen Pinsel an den lichtblauen Hintergrund aufgetragen worden waren. Nur die starke Hitze des Sommertages gab es nicht mehr, eine kalte Feuchte lag in der Luft, die den kommenden Herbst vorausnahm.
Und mitten in dieser Stadtparkszenerie der unbeachtete Artist, mit immer kunstvolleren Schwüngen und Würfen. Der Stab wirbelte, silbern das Licht reflektierend, um den Körper des Tanzenden, wechselte wie von selbst von einer Hand in die andere, stieg hoch in die Luft, landete mit einer perfekt aufgenommenen Drehung wieder in der Hand des Werfers, umkreiste die Körpermitte, die Schultern, drehte und wirbelte scheinbar selbständig in ruhig-ruheloser Bewegung. Und niemand schenkte dem ästhetisch vollkommenen Schauspiel Beachtung - außer ihm.
Jetzt, in der Erinnerung, kam ihm dies nicht mehr so seltsam vor, wie er es damals empfunden hatte. Jetzt sah er es als einen Teil des Puzzles an, das er allmählich zusammenfügte. Es gab nicht nur Varianten möglicher Welten, auch Individuen lebten in eigenen Sphären, jeder in seiner Welt. Den Jongleur kümmerten die Menschen um ihn nicht, die Menschen um ihn kümmerten sich nicht um den Jongleur. Aber sie bedrängten sich auch nicht gegenseitig. Sie co-existierten, tolerierten sich. Und er? Hatte das Gefühl, langsam für die anderen verschwunden zu sein, nur noch Beobachter, nicht mehr zu Beobachtender.

"Ich möchte nach Hause" - Der kleine Junge vor ihm brach unvermittelt in Tränen aus; irgendein unersichtlicher Anlass, vielleicht auch nur das Gefühl des Weggegangenseins, der leisen Trauer eines Verlustes. Schnell wurde er getröstet, die Mutter, die große Schwester kümmerten sich mit kleinen Ablenkungen um ihn. Er hätte ihm sagen können, dass es keinen Weg zurück nach Hause gibt, dass Zuhause immer das gerade Vergangene ist, das schon immer Vergangene, und dadurch unerreichbar. Kein zurück ins Zuhause. Keine Heimkehr. Aber der kleine Junge hätte ihn nicht verstanden, für ihn war sein Zuhause real und dort wollte er hin. Der kleine Junge hätte ihn nicht verstanden, weil dieses Gefühl der Heimatlosigkeit sein eigenes war.

Inzwischen bezog er alles, was ihm begegnete, auf sich: Alles sollte ihm etwas sagen, wollte ihm etwas sagen. Er suchte daher nach einem durchgehenden roten Faden, einem übergreifenden Muster, an dem er sich orientieren konnte: Wenn schon keine Durchgängigkeit im Raum-Zeit-Kontinuum, dann wenigstens, auf ihn bezogen, Durchläufigkeit im Sinn. Und er fand diesen Sinn, sah plötzlich überall Beziehungen und Verweise. Die Einzelszenen wurden ihm zu symbolhaften Inszenierungen, auch wenn deren Gehalt nicht unbedingt tiefgründig (oder ihm einsichtig) war. Muster wurden sichtbar.
Auf diese Weise wurde er zum Experten in Hinsicht auf Muster (oder wurde er nur immer psychotischer?). So bemerkte er einmal eine Gruppe von Männern, deren Weg sich scheinbar (?) zufällig kreuzten: Drei Männer von rechts, einer von links nach rechts, zwei aus dem Hintergrund nach vorne. In dem Augenblick, in dem sie sich für einen kurzen Moment als Gruppierung zusammenfanden, um sich rasch wieder auseinander zu fädeln (sie stockten, zögerten, und tänzelten dann umeinander, wie es ein solcher komplizierter Bewegungsablauf, fast in der Art eines Balletts, notwendig machte), in diesem Augenblick sah er in ihrer Gestalt und in ihren Gesichtern etwas wie Zusammengehörendes: Keine oberflächliche Ähnlichkeit, keine Gemeinsamkeit in der Kleidung oder in der Bewegung, aber doch etwas, was über den Gruppenfotoeffekt ihres kurzen Zusammentreffens hinausging, vielleicht etwas sich Ergänzendes, fast Komplementäres, wie wenn, nur für einen Moment, ein wandelbares Puzzle komplett wäre, um sich im nächsten Augenblick schon wieder aufzulösen.
Alle waren irgendwie exzentrisch (wenigstens für seinen Geschmack), vielleicht war ja das ihre Gemeinsamkeit, sie waren etwas neben der Normalität - aber konnte er denn beurteilen, was in diesem Hier und Jetzt das Normale und Selbstverständliche war - war er nicht vielleicht der nicht Angepasste und Fremdartige, seine Sicht die exzentrische?



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