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WOANDERSWELT: PRÄLUDIUM UND FUGE IN MOLL


Inhalt:

Endstand + Wachsende Verwirrung + Erklärungen + Verschwörer: Rottas Monolog + Korrekturen + Geschichte, alternativ + Verschwinden + Schweben, schwimmen + BruderSohn + Ankunft/Epilog



Korrekturen

Die nächsten Tage wurden für ihn zum Beginn einer Reise ins Unbekannte, Weglose - er entdeckte inmitten eines vertrauten (wie lange noch?) Stadtgrundrisses ständig neue Gebäude und ungewohnte Ausblicke. Und diese Entwicklung schien sich zu beschleunigen, ein unumkehrbarer Prozess der Veränderung, wie eine einmal in Gang gebrachte, sich potenzierende Kettenreaktion. Müde vom Anblick der Kulissenschieberei, die sich vor seinen Augen ereignete, sobald er diese schloss und wieder öffnete - wie konnte sein Gehirn nur diese verwirrenden und sich widersprechenden Informationen verarbeiten - wollte er sich am Ende nur noch in sein Zimmer verkriechen, sich im Klaren darüber, dass die Welt außerhalb eine andere wäre, wenn er wieder Notiz von ihr nehmen würde. Aber auf immer konnte er sich nicht abwenden. Er beschloss, sich den Veränderungen zu stellen, den endlos sich hinziehenden Traum, in den sich ihm die zersplitternde Realität verwandelt hatte, bewusst zu durchleben. Und dabei fiel ihm etwas auf: Es schien ihm, dass ihm auf seiner Wanderung durch die befremdliche Wechselwelt Personen folgten. die ihn beobachteten, jedenfalls glaubte er öfters, dieselben, ihm irgendwie bekannt vorkommenden Menschen im Hintergrund der doch sonst völlig neuen und ins Ungewohnte veränderten Szenerien zu sehen. Andere, nicht Rotta.
Ganz gegen sein übliches Verhalten entschloss er sich, aktiv zu werden: Die vermuteten Verfolger wollte er abpassen, sie stellen. Deswegen täuschte er auf seinem Gang durch die Stadt vor, in eine kleine Seitengasse abzubiegen, versteckte sich aber hinter einem abgestellten Fahrzeug, die Entwicklung der Dinge abwartend. Tatsächlich tauchte eine verdächtige Person, unsicher umherspähend, aus der Richtung auf, aus der er eben gekommen war. Er stellte sich der Frau (sie war ungefähr vierzigjährig, ein wenig korpulent und im Gegensatz zu Rotta keine markante oder gar beunruhigende Erscheinung) mitten in den Weg, sprach sie an:
"Was wollen Sie von mir? Warum spionieren sie mir nach?"
Erschrocken blieb sie stehen, ihre Miene zeigte alarmierte Aufgeregtheit, trotzdem sagte sie scheinbar harmlos:
"Nichts, ich folge ihnen nicht, kenne sie nicht, will nichts von ihnen, lassen sie mich weitergehen."
Ihre Finte half ihr wenig.
"Sie sind eine von denen, stimmt's? Den Veränderern?"
Statt jetzt die Stirn zu runzeln oder sonstwie in ihrer Reaktion zu zeigen, dass sie ihn nicht verstand, gab ihr Widerstand plötzlich nach, demaskierte sie sich.
"Wir beobachten Sie," sagte sie einfach. "Sie sind uns ein Rätsel. Wir wollen wissen, was sie tun."
Er bedrängte sie: "Auch ich möchte mehr von Ihnen und Ihren Motiven wissen. Können wir uns unterhalten, dürfen Sie?"
Sie nickte. Schlug vor, sich auf eine Bank in den nur in Details veränderten Park (alle Statuen waren ausgetauscht, sein Charakter als künstliche, gezähmte Wildnis hatte sich aber erhalten) zu setzen; dort stellte er seine Fragen, von denen sie ihm einige beantwortete, einigen auswich, bei einigen angab, nichts darüber zu wissen.

So erhielt er mit der Zeit von ihr und anderen Mitgliedern der Gruppe, die sich ab jetzt nach und nach zu erkennen gaben, vor allem aber von Rotta, der sein Hauptinformant war und blieb, ein umfassenderes Bild von den Absichten und Beweggründen der Geheimbündler, die wohl zu der Ansicht gekommen waren, dass er keine große Gefahr für sie darstellte und seine Aufklärung ihren Erfolg nicht würde verhindern können.
Es war keine homogene Gruppe, zumindest zwei Fraktionen mit unterschiedlicher Motivation konnte er ausmachen: Die einen waren, gleich Rotta, fundamentalistische Gnosisanhänger, vertraten einen buchstäblichen, altertümlichen Gnostizismus, seltsam verbunden mit den Kenntnissen der modernsten Technologie, dem letzten Stand der physikalischen Grundlagenforschung, was ihr Bio-Computer, der Sheldrake-Analogisierer, wie Rotta ihn genannt hatte, bewies. Ihr Glaube an eine nicht nur symbolisch aufgefasste Überwelt, eine Sphäre jenseits der normalen, alltäglichen Realität, und die konkret genommene Ausmalung des Aufbaus einer geistigen Meta-Realität, die sich Schicht um Schicht, gleich den Schalen einer Zwiebel, um das physikalische Universum aufbaute, vertrug sich merkwürdigerweise mit den Errungenschaften einer Technologie, die auf ganz anderen mentalen Voraussetzungen beruhte.
Hier etwas als wahr und einzig wahr vorausgesetzt, nur als absolute Wahrheit erfahrbar und erlebbar (und wenn nicht, dann sich in etwas Relatives und damit in ihren Augen in Nichts auflösend), dort das voraussetzungslose Werkeln und Experimentieren - voraussetzungslos allerdings nur, wenn man mit dem Grund, auf dem das Ganze stand, einig war. Und dieser Grund war nicht mit der ewigen Wahrheit identisch, die für den fundamentalistischen Kern der Verschwörer galt...
Die zweite Gruppierung innerhalb der Gruppe hatte nicht das gleiche Anliegen. Dies fand er heraus, nachdem er sich mit Rotta in einem längeren Gespräch über den Wahrscheinlichkeitsknoten unterhalten hatte, den die Verschwörer untersucht und angefangen hatten zu verändern. Den anderen ging es um eine Umschichtung in den religiösen Überzeugungen, die sie durch die Maschine bewirken wollten. Sie waren Anhänger eines Nazoräerglaubens, begründet in der Antike, einer der überlebenden Kulte aus dieser Zeit, und ihre Intention war es, ihren speziellen Glauben mit Hilfe der Maschine zu stärken und die konkurrierenden Sekten und Splittergruppen zu schwächen. Geschichtskorrekturen konnten dabei helfen; die unterschiedlichen Motive ergänzten sich an diesem Punkt.
Soweit er sie verstanden hatte, waren sie dabei, einige Verschiebungen vorzunehmen, welche die Lehre eines der vielen charismatischen religiösen Predigers in der alt gewordenen und sich nach Erlösung sehnenden antiken Zivilisation auf römischen Boden betraf; sie wollten sie bedeutender, einprägsamer machen, um eine Veränderung im mentalen Klima jener Zeit herbeizuführen, deren Auswirkungen bis ins Heute reichen wird, so ihre Hoffnung, einen dramatischen Wechsel im geschichtlichen Verlauf bewirken wird. Und schon anfing zu bewirken...

**

Er verstand noch immer nicht ganz, wie die Aufwertung einer Lehre einen so großen Einfluss auf die Geschichte haben sollte. Mit dem Namen Jesus assoziierte er seine Tante Magda, eine kleinwüchsig- zierliche, fast zerbrechlich wirkende Frau, die sich aber durch ihren starken Willen Respekt verschaffte und sich fast überall durchsetzte - sein Vater hätte gesagt (hatte er das nicht auch einmal?) - durch ihre nervensägende Stimme, mit der sie unbarmherzig jede Lässlichkeit ankreidete und jede Ausrede bloßstellte. Sie war Mitglied einer der vielen Kleinkirchen, die sich auf die Antike zurückführten, sehr feministisch ausgerichtet, mit einigen Tabus, die das Essen von Fleisch, Eiern oder Milch und Käse betrafen und deren zentrale Verehrungsgestalt merkwürdigerweise keine Frau (merkwürdigerweise in Bezug auf seine Tante, ihr hätte er eher eine der großen chthonischen Göttinnen zugeordnet), sondern ein männliches (in anderen Lehren: androgynes) Wesen war, eben Jesus.
Ihm zur Seite gestellt war allerdings Magdalena, seine Seelengefährtin, wie sie genannt wurde, Lieblingsschülerin des Meisters, der sie als einzige voll in die Mysterien seiner Lehre eingeweiht hatte und dessen weiterhin und weithin tönendes Sprachrohr und Interpretin sie demzufolge auch nach seiner Rückkehr ins Pleroma wurde. Es war eine kompliziert- verschachtelte Beziehung, in der Jesus sowohl Seelengefährte der überirdischen Sophia war, wie Magdalena Seelengefährtin von ihm, indem sie gleichzeitig die irdische Verkörperung der Sophia darstellte - oder so ähnlich, er konnte es nicht ganz nachvollziehen, hatte sich zu wenig damit beschäftigt.
Magdalena benannte eine Nachfolgerin (wie überliefert nicht ohne bittere Anfeindung durch andere Schüler) und bis zur jetzigen obersten Bewahrerin beriefen sich alle nachfolgenden Bewahrerinnen (der Geheimnisse des offenbarten Mysteriums) darauf, in dieser Tradition zu stehen. Das bezog sich auch auf die Rolle als Seelengefährtin, soweit er es verstanden hatte; eines der Hauptrituale bei der Einsetzung der Bewahrerin war das Brautgemachsritual, was auch immer man sich darunter vorstellen konnte, der Ritus blieb natürlich geheim und war nur den unmittelbaren Akteuren bekannt. Es war eine Gemeinschaft mystisch erregter Frauen und Männer, hauptsächlich jedoch von Frauen, und ihm schien diese Gruppe weder gefährlich noch dazu geeignet, etwa durch Verstärkung ihrer Wirkungsmacht die Realität in dem Maße zu verändern, wie es durch die Verschwörer gewollt war.

An einen (für ihn als stillen Zuhörer) amüsanten Dialog von Magda mit einer weiteren Tante erinnerte er sich bis heute. Es ging in diesem hin und her wechselten Wortgeplänkel, von der einen Seite mit Sticheleien und spitzer Zunge geführt, von der anderen unter Einsatz ihrer schrillen Stimme und mit genügend Wucht und Energie, um allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, darum, welche Stelle wohl Magdalena im Leben dieses Jesus eingenommen hatte.
Warum man auf ein so abseitiges Thema kam, wusste er nicht mehr, er vermutete, die Schwester seiner Mutter, ein freier Geist, wie sie sich selber nannte, wollte die andere ärgern, da sie diese für bigott und verschroben hielt. Für die eine war das keine Frage, Magdalena war die Bestimmte, das Seelendoppel ihres mystischen Bräutigams, die andere provozierte sie damit, dass sie ihr eine Legende ihres eigenen Glaubens vorhielt (allerdings war das nicht fair, da diese Auffassung durch eine abgespaltene Linie der Magdalenen-Gemeinschaft vertreten wurde), in der über Jesus als mit Magdalena verheiratet gewesen berichtet wurde, ihre drei gemeinsame Kinder - Tamar, Justus, Josef - zählte sie genüsslich auf, aber weiter erinnerte er sich nicht an das Gespräch, in dem noch irgendwelche verstiegene theologische Spekulation über die wahre Natur dieses Ehepaares von anderer Seite vorgebracht wurde, bevor der Kaffee serviert und das Interesse sich auf anderes richtete.

Er kannte durch seine Tante mindestens zwei der heiligen Texte, auf die sich die Magdalenenkirche berief, beide schienen ihm dunkel und verworren, wie viele der Schriften aus dieser Zeit, das "Evangelium der Magdalena" und die "Pistis Sophia", tradiert und interpretiert durch die Jahrhunderte in frommer Ehrfurcht; er dachte sowieso, je dunkler der Ursprungstext, desto mehr Verständnisbemühung und Sinnsuche zieht dieser auf sich, bis er im strahlenden Licht seiner Kommentierungen als Leuchtturm religiöser Wahrheitsstiftung dasteht.
Das war nicht abwertend von ihm gedacht, es war die Evolution einer religiösen Idee, die sich auf diese Weise vollzog, und wie bei der Entwicklung eines jeden Lebewesens (oder Wasserwirbels, oder Sternenhaufens) gab es einen unscheinbaren Beginn und eine spätere reiche Entfaltung, und wie jede Erscheinungsform konnte sich das Wesen durchsetzen und überleben und dadurch weiterentwickeln oder aber untergehen und aus der Existenz verschwinden; verdrängt, unterdrückt, abgewürgt (oder aufgegessen) durch andere Lebewesen ähnlicher Art.
Die Magdalenentradition hatte sich festgesetzt und zäh gehalten, war aber nie im Übermaß gewachsen, dazu war die Organisationsstruktur zu locker und zu sehr auf das persönliche Erleben der Mitglieder ausgerichtet; zwar gab es die Gemeinde (ein Kreis von überwiegend Frauen, die sich im eher privaten Rahmen trafen, in einem Raum, der sich, obgleich Tempel genannt, in einer Wohnung befand), gab es Vorsteherinnen der Gemeinde, dann Lenkerinnen, die einer Vielzahl von Gemeinden vorstanden und, wie erwähnt, die Oberste Bewahrerin, doch alle hatten mehr die Aufgabe, sich um praktisch- organisatorische Dinge zu kümmern; in der Hauptsache, dem religiösen Leben, kam es ganz auf den Einzelnen an, der sich selbst dazu befähigte, den Sinn der Lehre zu erfassen und zu durchdringen.
Alles in allem eine eher harmlose Gemeinschaft. Und deren Gründer sollte die zentrale Figur einer so dramatischen Veränderung sein? Dunkel erinnerte er sich daran, dass fast jeder der zwölf (oder waren es dreizehn?) ersten Schüler eine eigene Auslegungstradition begründet hatte, teilweise in heftigen Auseinandersetzungen untereinander; nicht alle hatten die Zeiten überstanden, nicht alle waren so still und unscheinbar geblieben wie die Magdalenenjünger, aber sie alle waren Teil der in der Antike wurzelnden Magiertradition, der Eingeweihtenüberlieferung, wie sie sich aus tradierten oder längst vergessenen und irgendwann wieder aufgetauchten Texten rekonstruieren lässt.

Auf sein erstauntes Nachfragen, ob es wirklich der Jesus der Magdalenenkirche sei um den es dabei gehe, erklärte Rotta ihm, dass dieser eine unter mehreren Optionen gewesen war, die sie untersucht hätten, Wandermagier, wie sie in diesem Zeitrahmen und dieser Weltgegend vermehrt aufgetaucht seien, aber es hätte sich herausgestellt, das nicht er, sondern in Wirklichkeit ein möglicher Unterstützer seiner Sache der Fokus sei, der das zentrale Veränderungspotential in sich bündle.
Das Prinzip, das beachtet werden müsste, wäre klar und einfach: Nicht das ursprüngliche Ereignis oder die originale Botschaft ist wichtig, sondern die werbende Eindringlichkeit, mit der diese gepuscht wird, und deren erfolgsgerechte Aufbereitung. Dieser mögliche Propagandist müsse im Namen des eigentlichen Gründers auftreten, um dem Ganzen dann eine neue Richtung zu geben, eine intensivere Entwicklung auszulösen; aus einer lokalen jüdischen Tradition, eingebunden im hin und her messianischer Verkündigungen der Zeit wird dann eine Bewegung, die das ganze Reich betrifft, in einer Sprache, die jeder damalige Zeitgenosse verstehen wird, mit einer Organisation, die effektiv und handlungsfähig ist und welche die anderen Traditionsstränge, wie etwa die Überlieferungen der Magdalenenanhänger, an den Rand drängen wird.
"Wenn wir Erfolg haben, wird es diese Gruppen nicht mehr geben. Wir haben herausgefunden, dass wir einen Ereignisbrennpunkt schaffen müssen, durch den diese eher unbeachtet gebliebene Episode der Religionsgeschichte aufgewertet wird, dynamisiert wird, so dass sie zu einer kontinentweiten Bewegung führt, zu einer straff organisierten Kirche, die sich in die Geschichte einprägen wird und durch ihren Machtanspruch und ihre Ignoranz alle übrigen gnostischen Überlieferungen und Einweihungstraditionen in den Untergrund zwingt. Dann haben wir das Resultat, auf das wir zielen. Und wir sind nahe daran, diesen Knotenpunkt einzukreisen und zu fixieren, das Initialereignis geschehen zu lassen."

"Wir haben einen Mann identifiziert, der die geforderten Charaktereigenschaften besitzt, um den Lauf der Dinge in die gewünschte Bahn zu lenken und die esoterisch-individualistische Lehre mehrheitsfähig zu machen. Der genügend Kraft, Energie, Durchsetzungsvermögen, auch Fanatismus aufbringt, um sie aus dem kleinen, exklusiven und bald wieder verschwundenen Zirkel der eingeweihten Anhänger herauszuführen und sie einer breiten Menge zu predigen. Der vor allem auch die engen Schranken der ethnischen Zugehörigkeit überwinden will, so dass sich jeder, der von ihr hört und sich angezogen fühlt, der Lehre auch anschließen kann. Sein ehrgeiziges Ziel sollte sein, sie jedem jemals lebenden Menschen als einzigen Weg der Erlösung anzubieten. Eine absurde Vorstellung, gewiss, aber von durchschlagender Effektivität in Bezug auf die rasche Verbreitung der Botschaft.
Unter den ersten Anhängern gab es kein solches Talent, das hat der tatsächliche Verlauf der Geschichte bewiesen, aber unsere Analyse der Wahrscheinlichkeitspotenziale, der Möglichkeitsvariablen in dieser Zeit und in dieser Gegend hat uns auf diesen Mann aufmerksam gemacht, der als einer der eifrigsten Verfolger jeder unorthodoxer jüdischen Glaubensrichtung bekannt wurde, der großen Anteil daran hatte, dass sich nur wenige dieser Glaubensabweichungen, in Alexandria oder in Antiochia etwa, weiterentwickeln konnten, während die übrigen jüdischen Gemeinden sich von den von ihm als häretisch gebrandmarkten Lehren wieder abwandten - gerade dieser Mann hat das Potenzial, das wir brauchen, um unser Ergebnis zu erreichen. Wir arbeiten daran, wie wir seine Fähigkeiten in unserem Sinne nutzen können - wie wir ihn dazu bringen können, sich genauso entschlossen für die Sache einzusetzen, gegen die er bisher gewütet hat, ihn sozusagen umzudrehen.
Unser Skript ist schon in Arbeit, die Maschine wird es dann umsetzen, bald wird sich die Wirkung zeigen - eine allmähliche, aber im Endeffekt völlige Veränderung der ganzen darauf folgenden Geschichte. Was bisher an Abweichung davon eingetreten ist, war nichts im Vergleich zu dem, was wir durch diesen Schachzug erreichen können. Andere Korrekturen werden trotzdem noch notwendig sein, aber der Ursprungspunkt der Veränderung wird erschaffen, wenn uns diese Konversion gelingt."

Diese fast prahlerische Rede wäre ihm absurd und völlig irrsinnig vorgekommen, hätte er nicht den Sog der Veränderung gespürt, der seine gewohnte Welt wegspülte, sie auflöste und durch eine andere Realität ersetzte - was ihn an dem Konzept von Realität, wie er es bisher als selbstverständlich angenommen hatte, zweifeln ließ.

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Rotta hatte sich in seine Ausführungen verloren, achtete nicht mehr auf die Zeit und die Umstände (sie standen vor dem fremden Gebäude, in das sich die ihm bekannte Bibliothek verwandelt hatte: unwiderlegbarer Beweis der Realität des Vorganges, von dem Rotta sprach), er fuhr jetzt mit dem ungezügeltem Pathos des von seiner Sache vollständig Überzeugten fort:
"Es geht nicht um eine achtenswerte religiös-ethische Lehre, es geht um die folgenreiche Einsetzung einer Institution, einer Kirche, die auf diesen oder ähnlichen Lehren ihre Dogmen aufbaut. Einer mächtigen, allumfassenden Organisation. Die allgemeine Kirche wird eine Religion predigen, die von ihr als Institution abhängig ist, sie wird das Monopol auf alle Glaubensfragen erreichen wollen und auch erhalten. Sie wird vom Einzelnen ein Glaubensbekenntnis abfordern, einen Schwur auf die offizielle Lehre. So dass auch individuelle Bemühungen um das rechte Leben und ein persönliches Verständnis von Überlieferung, Eingebung und Offenbarung unter ihre Diktat fällt: Nur sie allein wird gültig beurteilen, was zu glauben und was als Glaube oder religiöse Praxis abzulehnen ist.
Wir denken als Vorbild dafür an die Zoroastrische Staatskirche in ihrer ersten Epoche unter Kartir - das wird wie dort dazu führen, dass der verwaltete Glaube mit Gewalt gegen ältere oder alternative Glaubensüberlieferungen durchgesetzt wird, diese ins Abseits verdrängend, wo sie als ketzerisch, dämonisch, als Teufelsanbetung verurteilt verkümmern, ständig bekämpft und bedroht. Vor allem die Richtungen, die das Fest des Lebens im Leben feiern, Tod und Wiedergeburt eingeschlossen, werden bekämpft und verteufelt werden. Die Angst vor dem Lebensende wird die Gemüter beherrschen, die Furcht vor dem Gericht, der letztgültigen Beurteilung; und wenn diese Angst nicht mehr greift, wird Verdrängung an deren Stelle treten, vordergründige Gleichgültigkeit diesen Dingen gegenüber. Das Bewusstsein wird sich anderen Gegenständen zuwenden, fasziniert von den Realien der alltäglichen Welt.
Die Kirche wird durch ihren missionarischen Eifer zuerst eine Welt schaffen, deren Glauben ganz von ihr beherrscht wird, dann, als Folge davon, eine Welt, die den Glaubensdingen gleichgültig gegenübersteht, da jeder individuelle, persönliche Zugang verfemt und ins Abseits gedrängt worden ist. Vor allem der persönliche Zugang zu den Erfahrungen, die durch den Weg der inneren Entwicklung möglich sind, wird verdächtig werden und unter der Anklage des Irrglaubens, der Zauberei, des Teufelsbündnisses stehen. Menschen werden verfolgt werden, die anfangen, sich Fragen zu stellen. Sich ihre eigenen Gedanken zu den offiziellen Glaubensantworten machen zu wollen.
Verschwindet der Gedanke an einen individuellen Zugang zu den nichtsinnlichen Erkenntnissen inmitten des eigenen Lebens, ungeschieden von diesem, wird das alltägliche Leben, entfernt man daraus die blasse, verwaltete Religion (die niemand richtig brauchen wird), ganz von den nur fassbaren, nur tastbaren Dingen beherrscht werden - allein im Traum wird sich noch eine Ahnung von einer Öffnung ins Andere erhalten, aber auch er wird seine ihn auflösende Erklärung finden. Diesen Zustand wollen wir erreichen."

"Wir sind dabei, die mentalen Koordinaten für eine absolut sinnentleerte, den entropischen Zerfallsabläufen völlig unterworfene Welt festzulegen und diese sich entwickeln zu lassen. Sehr nahe daran.
Alles, was in sich selber ruht, in sich selbst gründet, sich durch das Gesetz von Wachstum, Opferung als Selbstbeschränkung und daraus folgende Erneuerung in Existenz erhält, ist in dieser alternativen Welt durch Vernachlässigung aus Gleichgültigkeit und Anzweiflung, durch entgrenzende Gier und uferlose Begehrlichkeiten in Auflösung. Tritt erst einmal das völlig Austauschbare an die Stelle sich selbst stabilisierender Ordnungen, sind wir im stochastischen Chaos angekommen.
Dem Ort, an dem es, bildlich gesprochen, zwar Felsen gibt, aber nur wurzellose, umherwirbelnde, an dem es zwar Landschaften gibt, aber sich ständig verändernde, an dem es zwar Wachstum gibt, aber nur ungebremst krebsartig wucherndes, an dem es zwar Gestaltung gibt, aber keine dauerhafte, sondern nur wie die von Sandfiguren, die durch den Wind aufgehäuft und sofort wieder verweht werden.
Hier, jetzt, sind wir nahe daran. Kommen wir zu diesem Punkt der Eklipse, sind wir am entferntesten von allem Wirklichem entfernt und unser Wiederaufstieg kann beginnen. Der Umkehrschwung wird einsetzen.
Wir arbeiten am Umkehrschwung - beschleunigen das Abwärts, damit das Aufwärts umso früher und sicherer kommt. Nur im absoluten Dunkel kann der entfernte Zielstern wahrgenommen werden. Nur vom Grund des Brunnenschachtes sieht man ihn. Nur in völliger Einsamkeit und in einer verstummten Welt hört man die Stimme. Den Ruf. Der Ruf wird die Umkehr bewirken. Der Ruf wird die Macht sein, die uns heimbringt. Nur im abgelegensten Exil bricht durch den Fokus unserer Sehnsucht der Strahl der wahren Welt in unser erbärmliches Existieren und erleuchtet uns und unseren Weg nach Hause, in unsere wirkliche Heimat."

Rotta sprach so überzeugt und leidenschaftlich von dieser wahren Heimat, dass er ihm für einen Augenblick in seine Wahnvorstellung folgen konnte, bereit auch, alle Konsequenzen, die sich daraus ergaben, zu akzeptieren - freilich nur für einen Moment, bis er sich erinnerte, dass diese Konsequenzen vor allem von anderen erlitten werden würden. Und wenn die Folgen unserer Ansichten schädlich sind, können die Ansichten selbst nicht wahr und positiv sein. Aber schon war er im Strudel gegen- und auseinanderstrebender Kräfte gefangen, hin - und hergeworfen zwischen unvereinbaren Konzepten, jedes von ihnen beanspruchte logische Schlüssigkeit und versprach Antworten auf grundlegende Fragen.


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