GNOSISROMAN: DER WEG DES ALCHEMISTEN
(Ein Fragment)
Inhalt:
Zu spät + Flucht + Wohin? + Nach Süden + Ketzerei + Gutmann + Cathérine + Beschwörung + Venedig/Postels Sophia + Am Ziel/Am Ende + Epilog
Am Ziel/Am Ende
Dem Narren begegnete ich auf der Landstrasse zwischen Antiochia und Aleppo. Ich sage Narr, aber das war er nur dem Augenschein nach: ein Weiser im zerschlissenen Hemd. Befasste man sich nicht weiter damit, allerdings auch seiner Rede nach: sie war verworren und dunkel, hatte aber ihren inneren Sinn.
Er sprach von der Unbedingtheit der Suche nach dem Einen, welcher alles durchzieht, der Grund von allem ist, für den alles durchlässig ist, der sich hinter allem verbirgt. Er sagte, die Vielfalt gibt es nicht, sie ist Illusion, Vorspiegelung, es gibt nur den Einen, auf vielfältige Weise. Er sagte, ihn selbst gäbe es auch nicht, auch er sei Illusion, Spiegelung in den Dingen, Spiegelung der Dinge in ihm, die es auch nicht gäbe. Er sagte, es gibt nur den Tanz, die Musik, den Wein. Und wohin ist die Musik gegangen, wenn sie verklungen ist? Wo der Tanz, wenn zu Ende?
Er sagte: "Jede Gegenwart ist neu. Ist frisch aus der Hand des Einen gegeben. Schaue diese gerade eben geborene Schöpfung an, wie neu sie ist, wie durchlässig für ihn. Jede Gegenwart ist seine Gegenwart. Du wirst getragen. Kümmere dich nicht um die Illusion Vergangenheit. Um die Illusion Zukunft. Es gibt keine ununterbrochene Kette der Dinge und der Zeit. Es gibt nur seinen Willen, in jedem Moment, der uns hält. Es gibt keine Wirkung, nur einen Bewirker."
Ich dagegen sagte:"Wo Rauch ist, ist ein Feuer. Wir sind dem Gesetz unterworfen. Dem Geschick. Wenn wir gehen, kommen wir wohin. Wenn nicht, bleiben wir dort, wo wir schon sind. Wenn wir tanzen, sind wir am Ende erschöpft. Und verschwinden nicht mit dem Tanz ins Nichts."
Er sagte: "Hoppla, ein ernsthafter Wanderer. Und schon so lange unterwegs. Und noch viel länger weiterhin. Wohin rennst du? Und weshalb rennst du, wenn das Ende auf dich wartet? Bleibe hier. Im Jetzt. Ich bin Gott, du bist Gott (aber nicht weitersagen) - näher dran kommen wir nicht." Danach lief er auf den einzigen Baum weit und breit zu, umarmte ihn und rief: "So groß, und doch mein kleiner Bruder!"
Er kam zu mir zurück und sagte:
"Wenn du aber weiter willst, sollst du etwas zu denken mitnehmen, ich gebe es dir, da du nicht von hier bist und auf der Suche. Für einen hiesigen Christen oder einen Rechtgläubigen wäre es zu schockierend, würde ihn aus der Bahn bringen, das wollen wir doch nicht, oder? Ich kann noch die Sprache und Schrift der Rhomäer, gib mir etwas, worauf ich schreiben kann, hast du Schreibzeug und Tinte?"
Verwundert gab ich ihm das Geforderte, kramte danach in meinem Gepäck. Griechisch konnte ich lesen und verstehen, das hatte mir hier in diesen Gegenden bisher geholfen; ich war dabei, die Sprache der Turkvölker zu lernen, ebenso die arabische Schrift, um ihr heiliges Buch und die philosophischen Texte ihrer Meister studieren zu können. Er malte in schwungvollen Buchstaben Verse auf ein Stück Binde, das ich ihm anstatt eines nichtvorhandenen Blatts Papier hinhielt.
"Aber an welchen Gott/ soll sich mein Herz hängen/ der mich in die Weite führt/ nicht in die Enge/ entbindet von dem/ was uns Bindet...?/ Nur der Unbeschriebene, noch nie Genannte/ immer Gerufene, nie Gekannte/ der einsame Gott keiner Völker kann es sein..."
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(Text über Lehre islamischer Gnostiker, Sufis.)
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Als sich meine Augen, zuerst noch wie blind durch die Lichtfülle draußen, allmählich an den Dämmerschatten des halbverdunkelten Raumes angepasst hatten, sah ich eine Person im Zentrum des Rundes unter dem Scheitelpunkt des Kuppelgewölbes sitzen. Im Zimmer waren nur wenige Gegenstände, aber ein grün- goldener Rundteppich füllte mit seinem Rankenstern den ganzen Boden aus, erinnerte mich durch seine Farben und das Pflanzengeschlinge an eine frischgrüne Wiese meiner Heimat, so ganz anders als das strohige Steppengrasgelb der Landschaft hier. In der Mitte dieser immerwährender Paradieswiese saß der Geehrte auf dem Boden, mit nackten Füßen, die Beine über Kreuz, die Hände auf die Knie gelegt, die linke Hand seltsamerweise nach oben gewendet. Er lächelte offen, als er den üblichen Gruß aussprach, und, nach einem prüfenden Innehalten, die traditionelle Frage der Meister stellte:
"Weshalb bist du zu mir gekommen?"
Mit einer Stimme, die weder alt noch jung war, doch das Gesicht, aus dem mich lächelnde Augen aufmerksam anschauten, war das eines jungen Mannes. Verwirrung. Hatte ich nicht gehört, der Geehrte sei uralt, jemand hatte mir sogar als Geheimnis verraten, er wäre weit über 500 Jahre, in gewisser Weise über Alter und Tod erhoben - war dieser junge Mann, der vor mir saß, der Fata, derjenige, den ich gesucht hatte, der mir versprochen worden war - oder hatte ich etwas missverstanden, hatte jemand mich missverstanden, vielleicht sogar getäuscht?
Ich hatte die Rede vergessen, die ich hatte halten wollen, sprach bloß die rituellen Begrüßungsworte und verstummte dann. Ein Schweigen erfüllte den Raum, aber von meiner Seite aus war es ein unbehagliches Schweigen, weil ich nicht wusste, was ich von dem Ganzen halten sollte. Schließlich überwand ich mich und begann, zuerst stockend, davon zu erzählen, wie lange ich schon unterwegs gewesen war, um ihn zu finden und von ihm lernen zu können, wie ich hoffen würde, von ihm in die letztgültigen Geheimnisse der hermetischen Kunst eingeweiht zu werden, wie ich mich danach gesehnt hatte, Schüler eines wahren Meisters zu werden - brach dann ab, als mir bewusst wurde, dass meine Worte für einen anderen bestimmt gewesen waren, einen ehrwürdigen Greis, einen alten Meister, nicht für dieses immer noch lächelnden jugendliche Gesicht vor mir. Das unbehagliche Schweigen war zurückgekehrt.
"Ich merke, du verstehst nicht, was du siehst", sagte mein Gegenüber. "Du hast jemand anderen erwartet." Ertappt nickte ich nur.
"Ich bin, was du siehst und ich bin, was du erwartet hast."
Meine Verwirrung wuchs. Dann wusste ich die Lösung: "Du bist nicht jung, ich meine, schon, aber du bist, obwohl jung, doch alt - es ist also wahr, was man über den Stein der Weisen sagt, er verjüngt alles..."
Meine Verwirrung verwandelte sich in aufsteigende Wärme, die drängend aus meiner Bauchgegend in die Brust einstrahlte, nur mit Mühe konnte ich die Erregung, die mich schüttelte bezwingen und abdämpfen. Endlich. Endlich war ich dem Geheimnis nahe, das mich umgetrieben hatte, seitdem ich das erstemal davon hörte - die ewige Jugend, das Gold, der Stein der Weisen, hier vor mir saß der Beweis, ein junger Mann, scheinbar nur wenig über das Jugendalter hinaus - in Wirklichkeit, wie ich wusste, seit Jahrhunderte lebend, eine Legende, der Meister, der mir nun die geheimen Lehren eröffnen konnte, wenn ich würdig war - und warum sollte ich es nicht sein, war ich nicht mein Leben lang auf Wanderschaft gewesen, die zweite Hälfte meines Lebens, zu der mich das Forschen nach eben diesem Geheimnis in der ersten Hälfte meines Lebens verdammt hatte - war ich nicht allein schon durch dieses Lebensopfer würdig?
Aber Zweifel blieb - Suche und Streben und Aufopferung war wohl nicht genug, sonst wären viele andere, die irgendwann auf der Strecke geblieben waren, ebenso an ihr Ziel angekommen - das Rechte Maß, die Rechte Gesinnung, das Richtige Denken, die Richtige Vorbereitung, alles musste zusammenstimmen, um mich würdig werden zu lassen, und war ich das wirklich schon? Aber ich saß hier, vor mir der Meister, ich wollte akzeptieren, was immer dieser für richtig fand. Hoffte aber doch tief in mir, angenommen zu werden.
Mein Gegenüber schien meine Gedanken mitgegangen zu sein, wartete, bis ich in mir ruhig war und wieder aufnahmefähig. Seine Stimme klang sanft und mitleidvoll, als er mir die Antwort gab, die meine Träume völlig zerstörten:
"Nein, nicht auf diese Art jung und alt. Ich bin lange nach dir geboren, vor kaum mehr als 20 Jahren. Aber ich bin der jetzige Javanmard und das bedeutet, dass ich ebenso diejenigen verkörpere, die vor mir dieses Amt hatten. Es lag immer in meiner Familie, auf uns ruht diese Tradition und Verpflichtung - du sprichst nicht nur mit mir, du sprichst auch mit einem uralten Erbe, ununterbrochen durch Jahrhunderte getragen und weitergereicht. Du bist nicht der erste Weitgereiste, der zu uns kommt, du wirst nicht der letzte sein; ob du unsere Lehre aufnehmen kannst, sie verstehst und dann befriedet in deine Welt zurückkehren willst, wird sich zeigen - es ist nichts in ihr, was nicht offenbar wäre, schon immer offenbar für dich war; es liegt mehr an dir als an mir, dass du ihre Wahrheit erkennst, und deine Augen und vor allem dein Herz dafür öffnest.
Der erste Schritt in diese Richtung ist, dich von deiner Verwirrung zu lösen, von dem, das du dich durch dich selbst oder andere getäuscht fühlst, und anzunehmen, was du siehst. Man wird dich jetzt zu deinem Schlafraum bringen, ruhe dich während der stärksten Hitze aus, wenn du deine eigenen Fragen an mich findest, suche mich wieder auf."
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(Text über Gespräch mit dem Pir; Lehre der Charraner)
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"Ihr Christen des Abendlandes orientiert euch im Gebet nach Osten, der aufgehenden Sonne zu, weil für eure Länder des Westens Jerusalem im Orient liegt, und ihr euch nach dem äußeren Licht des Tages richtet. Der Gesetzestreue dagegen wendet sich im Gebet nach Mekka, weil dort der Ort der letztendlichen Offenbarung war, dort die heilige Rede gegeben wurde.
Wir Charraner hier haben uns ein Geheimnis bewahrt: Unser Gebet geht nach Norden, dem Pol zu, steigt zu der Himmelsachse, der Quibla, weil dies die Richtung ist, die aus dem Geschaffenem in das Gebiet der vorerschaffenen Urbilder führt. Aus dem Gewordenen, Begrenzten in das Unbegrenzte, Ewige. Sterne und Planeten umkreisen einen unsichtbaren Punkt, nahe dem Polarstern, der dir gleichzeitig Bindeglied und Grenze, Barzah, Übergang zwischen Normalexistenz und Existenz jenseits der Grenzerfahrung sein kann - wenn er für dich zum imaginären Punkt wird, der ebenso in dir liegt, in deiner inneren Orientierung, wie am Himmel, der ja auch nur das Realbild unserer Begrenzung, unserer Eingeschlossenheit, Ausgeschlossenheit ist. Unser Gebet geht in die Richtung der Achse, und geht um das Erscheinen des Lichtes im Norden, um das Aufgehen der Sonne am Mitternachtsort. Das ist nicht die Sonne des Tages, es ist die Schwarz-Licht-Sonne der Erkenntnisnacht, ist die Sonne deiner Gnosis.
Der kleine Bär umkreist diesen Sehnsuchtspunkt, seine Lichter sind die sieben Wächter, die Meister, die uns leiten können - seine Lichter sind die Augen der Ewigkeit, die auf unser zufälliges, rasch vergehendes und im Schatten verkümmerndes, der Zeit und dem Zerfall unterworfenen Lebensgewimmel blicken, dem Hin und Her von gegensätzlichen Kräften ausgesetzt, die uns, ohne Orientierung an ihnen, zerreißen und zermürben, gefangen in den Mahlsteinen der großen Mühle des Himmels, deren Mühlzapfen dort eingepasst ist, worum alle Sphären wirbeln. Unser Gebet geht zu dem Sternbild des Bären, der Himmelsmühle, dem Barzah, dem Schwellenstein - geht dort ein ins Pleroma, um heimzukehren in die Fülle. Der Himmelspol ist der Gipfel des heiligen Berges, von dem jede Offenbarung je gekommen ist, zu allen Völkern und zu allen Zeiten; ist der Ort, an dem der verborgene Imam darauf wartet, dass wir uns zu ihm entwickelt haben und er uns erscheinen kann."
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"Unsere Vorfahren waren die Sabäer, Heiden, wie sie heute sagen, aber ihr Glaube war tiefer als der Verfechter des äußeren Weges wissen kann - sie beteten keine Steine, keine Idole, keine Planetendämonen an, wie ihnen nachgesagt wird, sie verehrten die wirkenden Kräfte, die sie überall sehen konnten und gaben ihnen die Achtung, die jene verdienten, aber nicht mehr, da sie, wie wir Heutigen, um die Zielausrichtung alles Existierenden auf das Zentrum, auf den einzigen Grund wussten und diese auch in ihrem eigenen Dasein durch Lebensführung und Ritus verwirklichen wollten.
Von ihnen haben wir viele Geheimnisse übernommen: das Wissen um den Aufstieg der Seele durch die Planetensphären, im Tode und auf dem Entwicklungsweg der Erleuchteten - das Wissen um die Wiederkehr - das Wissen um den Zwilling, den jeder von uns im himmlischen Zwischenreich hat und wie wir uns mit ihm in Verbindung setzen können, uns mit ihm vereinen können, wie es unsere Bestimmung, unsere Aufgabe ist, wollen wir nicht ewig hier unter den Schatten wandern. Von ihnen haben wir das Wissen um das Symbol der Kristallstadt auf dem heiligen Berg, smaragdgrün aus sich selbst leuchtend, dem Erwachten erscheinend, wenn er dem Ziel nahe ist.
Von all diesen Dingen wirst du Näheres und mehr erfahren, wenn du mit mir den Übungsweg gehst, so wie ihn die uns Vorausgehenden gegangen sind - uns ein Beispiel gebend, das hilfreich ist."
Der Pir beendete sein Reden, wartete aber auf keine Erwiderung, keinen Kommentar von mir, sondern entließ mich in ein sich vertiefendes Schweigen, der Stille der Nacht ähnlich, die in sich selbst ruht und klärt.
Weiter nächstes Kapitel: Epilog