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GNOSISROMAN: DER WEG DES ALCHEMISTEN
(Ein Fragment)


Inhalt:

Zu spät + Flucht + Wohin? + Nach Süden + Ketzerei + Gutmann + Cathérine + Beschwörung + Venedig/Postels Sophia + Am Ziel/Am Ende + Epilog



Gutmann

Der Pfad führte in einen entlegenen Waldwinkel des selbst entlegenen Tales, stieg plötzlich steil auf, beinahe hatte man zu klettern, um dann wieder stark abschüssig zu einem verborgenen Weiher zu führen, den ein Rinnsal aus der Bergwand nachfüllte. Diesem kleinen Bach folgten wir, bis wir vor dem Eingang einer Höhle standen, fast ganz verdeckt durch dichtes Gebüsch. Den alten Mann, der uns dort erwartete, behandelten alle mit einer behutsamen Ehrfurcht, als ob er etwas kostbares, gleichzeitig fragiles wäre, das man beschützen müsste.
Sie sagten, ich sei ein Freund aus dem Norden, gelehrt und auf der Suche nach Wahrheit. Er erkannte in mir jemanden, der bereit war, anderen Gedankengängen als den gewöhnlichen zu folgen, sich auch vielleicht schon weit in abgelegene Regionen verstiegen hatte, nahe der seinen. So konnte er mich zu sich ziehen und mir seine Weltsicht öffnen. Nach einem abtastenden Gespräch, prüfenden Fragen und verhaltenden Antworten, fragte er mich plötzlich, ob ich die Nacht durch bei ihm bleiben wollte, wir könnten miteinander sprechen.
Dann hielt er eine Art Segensfeier für alle Anwesende, sprach in feierlicher Weise den Prolog des Johannesevangeliums, gab uns allen nacheinander aus einem schön gebranntem Becher und mit Segensworten vom frischen Wasser aus der Quelle zu trinken, legte seine Hand auf den Kopf eines jeden, still dabei nach innen Sinnend oder lautlos einen Spruch denkend. Das war der Segen, um dessentwillen meine Begleiter gekommen waren; sie verabschiedeten sich danach von ihm und von mir, umarmten mich, wünschten mir Glück für die Weiterreise morgen und ließen uns allein.

Ich folgte ihm in die Höhle, die, wie sich herausstellte, aus zwei unterschiedlichen Kammern bestand. Einer hohe Eingangshöhle, an deren Rückwand das Wasser tröpfelnd und plätschernd aus einem Spalt herausrieselte, sich am Boden in einer Vertiefung sammelte, bevor es in einer mäandrierenden Rinne zum Höhleneingang und von dort den Steilhang bis in den Weiher floss, und einer weiteren Höhle, über einen engen Durchgang zu erreichen, der seitlich von der Eingangshöhle abging, schachtartig nach oben führte und in einer kleineren Kammer endete. Diese zweite Höhle hatte ein natürliches Fenster nach außen, im sich abdunkelnden Abendlicht konnte man drunten den kleinen, regungslos daliegenden See und den dichten Wald überblicken, der den Berghang wie schützend umgab. Hier war der Schlafplatz des Alten, der sich mir als Gutmann vorstellte.
Da die Gaukler wussten, dass der Eremit nichts Tierisches aß, kein Fleisch, keinen Käse, keine Eier, hatten sie ihm Brotfladen aus ungesäuertem Teig mitgebracht, Beeren und Kräuterpaste, die er nun mit mir teilen wollte. Ich verstand, dass es eine Art sakrales Mahl war, das er praktizierte, akzeptierte seine Gastfreundschaft und blieb stumm, während er ein Gebet sprach, sich und mich und das Brot segnete. Dazu schlang er sich ein Tuch um den Hals, hielt mit der rechten, im Stoff verborgenen Hand das Brot und sprach das Vaterunser darüber. Brach es dann in zwei Teile und gab mir einen davon. Dann schwiegen wir beide, aßen, während draußen die Schatten tiefer wurden, ein Abendwind die Blätter der obersten Zweige zum Flüstern brachte und das Restlicht sich zuerst vergoldete, dann sich ins rötliche abdunkelte und schließlich auslöschte. Als es Nacht geworden war, begann unser Gespräch, das bis in die frühe Morgenstunde dauern sollte, bis das Licht wieder eine zuerst graue, dann farbige Welt erscheinen ließ.

Zuerst fragte er mich, ob ich den Prolog des Johannesevangeliums, den er gesprochen hatte, verstanden hätte. Als ich sagte, dass ich meinte, begriffen zu haben, dass es um den Anfang alles Existierenden ging, und dass alles aus dem Logos geworden sei, fragte er mich, um welches Existierende es sich wohl dabei handle.
Ich sagte: "Um alles", zeigte dabei auf mich, ihn, die Höhle, die Sterne draußen und auf die nachtdunkle Silhouette der Berge ringsum.
"Ist das alles das Gleiche", fragte er mich weiter, "alles dasselbe Existierende?
"Nein", musste ich zugeben, "ich und du sind etwas anderes als der Stein um uns und der Wind draußen und die Sterne droben und jedes dieser Dinge unterscheidet sich wiederum voneinander."
"Und bist du überzeugt, dass alles auf dieselbe Weise entstanden ist, von demselben Schöpfer geschaffen, ich und du und die körperliche Welt?"
"Ja", sagte ich, "anders wäre es nicht vorstellbar."
"Doch, vorstellbar schon, aber ich frage: auch notwendigerweise so?"
"Notwendigerweise nicht", gab ich vorsichtig zu, sein Fragen führte direkt auf ein Gebiet, von dem man sich besser fernhielt, wenn man öffentlich disputierte, wollte man nicht irgendwann als Ketzer brennen.
"Dann höre nochmals genau hin: Alles ist aus dem Logos geworden, und außer ihm ist Nichts geworden - was sagt dir das?"
"Alles was ist, ist aus dem Logos entstanden..."
Nach meinem zögernden Verstummen fragte er weiter: "Und das Nichts? Ist es auch aus dem Logos geworden? Nein, denn es ist außer ihm geworden", beantwortete er sich selbst seine Frage "Das Nichts ist außerhalb des Logos, der Logos enthält alles wirklich Existierende, aber das Nichts ist nicht von ihm, durch ihn geschaffen. Und das Geheimnis ist: wir leben im Nichts. Wir sind nicht im Alles, in der Fülle, im Pleroma, wie die Antiken sagten. Wir sind in Wirklichkeit im Nichts..."
"Ist es nichts, wenn ich die Welt um mich spüre", fragte ich empört, "nichts, wenn ich gegen diesen Felsen hier stoße, den Schmerz dabei fühle, nichts, wenn ich sehe, rieche, schmecke, taste - nichts wenn ich am Morgen aus einem Traum auftauche und alles klar im Licht vor mir liegt - soll ich das, was um mich herum existiert, nichts nennen?"
"Im höheren Sinn ist es nichts", sagte er traurig."Es ist das, worin wir sind, was uns geblieben ist, aber gegenüber der Fülle des Alles ist es nichts. Und es ist nicht durch den Ursprungslogos geschaffen, es ist Werk des Gegen- Gottes, des Abgefallenen, des Herrn dieser Welt. Das ist das erste Geheimnis. Und das zweite Geheimnis betrifft uns. Was sind wir in diesem Nichts? - sind wir auch nichts? Wir sind es nicht, sind nicht von der Art des Nichts. Wie wir in dieses Nichts gekommen sind, wie wir wieder hinausfinden können, ist das dritte Geheimnis. Aber das ist für den, der den Weg gewählt hat. Bist du jemand, der den Weg wählt?"
Ich blieb stumm, wusste nichts darauf zu antworten. Ein Weg hatte mich gewählt, das fühlte ich, ich war auf ihm, wurde auf ihm geführt, auf ihn gedrängt, gestoßen - aber war das der Weg, von dem er sprach?

Er fragte mich nicht weiter danach, unser Gespräch veränderte sich, wurde persönlicher. Ich erzählte ihm bald von dem, was mir, was Suzanne widerfahren war, erzählte von der Flucht, der Begegnung mit den Savoyarden, der Reise mit ihnen hierher, fing an, von meinem Leben davor zu berichten, von meinen Studien, meinen Hoffnungen, meinen bisher vergeblichen Bemühungen um Erkenntnis und Alchemistenerfolg.
Sein mitfühlendes Zuhören machte mir bewusst, dass ich seit langem mit niemanden mehr auf diese Weise über meine Gedanken und Erlebnisse gesprochen hatte, dass mir weder die zärtliche Aufmerksamkeit Suzannes, noch die kummertröstende Art Thereses, seit diese aus meinem Leben verschwunden, in irgendeinem Menschen wiederbegegnet war, nur Fremde und zufällige Weggenossen waren um mich gewesen. Ihm aber konnte ich mich anvertrauen, als wäre er ein altbekannter Freund. Und er musste ähnliches empfunden haben, obwohl so viel älter, weil er anfing, von sich und dem entscheidenden Erlebnis zu sprechen, das ihn in diese Klause geführt hatte, nun ein Eremit am Ende seines Lebens.
"Ich war Notar, Herzoglicher Notar, jenseits der Berge, westlich von hier, hatte Erfolg, hatte Geld, hatte eine Geliebte. Doch die Zeiten änderten sich, die Regierung wechselte, neue Notare wurden bestellt, ich hielt es mit der falschen Partei, geriet in finanzielle Schwierigkeiten, meine Geliebte war fordernd und ehrgeizig, sie wollte mehr für mich, auch für sich, ich lieh mir Geld, um Projekte betreiben zu können, die Projekte schlugen fehl, ich stand vor dem Ruin.
War so verzweifelt, dass ich beschloss, nach Piemont zu flüchten, alles, was ich noch hatte aufzugeben, um woanders neu anzufangen. Ging mit meinem Vieh, meinem kostbarsten Besitz neben dem Haus, das ich aber verpfändet hatte und das mir deswegen morgen schon nicht mehr gehören würde, auf den nächstliegenden Markt, um es zu verkaufen. Dort traf ich unglücklicherweise den Verwalter des Geldgebers, der sah, dass ich auf Verkauf aus war. Ihm musste ich nun sagen, dass er warten solle, bis ich mit dem Käufer handelseinig geworden wäre, später, am nächsten Tag, würde er das Geld (das freilich nicht ausreichte, um die ganze Schuld zu begleichen) von mir erhalten. Ich machte den Handel, bekam das Geld auf die Hand, verkaufte Hausrat dazu, alles, was ich nicht mitnehmen konnte, und verschwand in dieser Nacht aus der Gegend.
Meine Geliebte ging mit mir, sie konnte nicht allein zurückbleiben, schutzlos und mitschuldig, wie sie war. Aber sie machte mich für unsere Situation verantwortlich und vergällte ab da unser Leben. Wir zogen umher, hatten eine Zeitlang genügend Geld, aber dieses verschwand rasch, wie es eben geht, wenn nichts mehr nachkommt. Am Ende dieser traurigen Reise waren wir in Cuneo gestrandet, meine Geliebte setzte auf einen anderen Mann, den wir unterwegs getroffen hatten und verschwand mit ihm.
Ich blieb allein in dem Städtchen zurück. Dort begegnete ich einem Weisen, der damals ebenso alt war wie ich heute, auch war ich damals gerade so alt wie du jetzt. Er gab mir ein Buch zu lesen, ein altes Buch, ein heiliges Buch, und dieses Buch veränderte mein Leben."
Hier unterbrach er sich, ging zu einer kleinen Nische, in den Fels vertieft über seinem Schlaflager, dort lagen neben einer halb heruntergebrannten Kerze zwei gebundene Folianten, einen nahm er in die Hand und gab ihn mir. Die Schrift war altertümlich, das ganze Buch war altertümlich, kein Druck, noch mit der Hand sorgfältig geschrieben, die Sprache war klares Latein, also für mich lesbar.
"Dieses Buch gab mir einen Gedanken ein", sagte er, "beschrieb mir eine Vision vom Leben, und diese Schau auf das Leben war anders, als ich bisher davon dachte. Ich war getroffen, war bereit, mich darauf einzulassen, der alte Mann deutete mir den Text aus, erklärte mir die Zusammenhänge. Ich wurde sein Schüler.
Er war der letzte einer uralten Tradition, übriggeblieben, nachdem die Inquisition immer wieder jeden neuen Versuch, aus dem Kontinuum dieser Lehre eine Gemeinschaft von Glaubenden und Vollkommenen aufzubauen, zunichte gemacht hatte. Einer von den guten Leuten, wie er sich selbst nannte, und ich mich heute auch. Wirkliche Vollkommene gibt es nicht mehr, der Faden ist abgerissen, er selbst war schon jemand, der in Selbstermächtigung sich dieser Lehre zuwandte, an mich dann weitergab, was er davon noch aufnehmen konnte. Seine Sorge war, dass diese Überlieferung - obwohl schon geschwächt und nicht mehr vollständig, aber dennoch ein Anschluss an das Alte - mit ihm endgültig verschwinden würde; Er kannte niemanden, der nach ihm die Wahrheit über die menschliche Existenz weiterbehüten würde. Und er brauchte jemanden, der ihm den Dienst erwies, bei seinem Sterben die geheimen Worte zu sprechen, um seinem Geist den Weg zu öffnen.
Diesen Dienst habe ich ihm erwiesen. Ich bin dadurch sein Nachfolger geworden. Und stehe vor demselben Problem, wie er damals: findet sich jemand, der die Lehre weiterträgt, aus freiem Entschluss, als sein Eigenes, als seine Befreiung?"
Diesmal fragte er mich nicht, ob ich derjenige sein wolle, aber ich merkte, dass er auf eine solche Reaktion von mir wartete. Ich konnte mich nicht überwinden.
Sein Schüler zu werden, würde bedeuten, hier in den Bergen bei ihm zu bleiben, bis sein Tod mir wieder die Freiheit gab, weiterzuziehen - obwohl: was für eine Art Freiheit war dieses Umherziehen, das ich, durch die Not gedrängt, angefangen hatte - wollte ich sie wirklich? War nicht ein zurückgezogenes Leben, einem meditativen Leben hingegeben, das, was ich immer angestrebt hatte?

Danach sprachen wir über vieles andere noch, er erläuterte mir seinen Glauben, soweit er ihn einem Außenstehenden erläutern wollte, las mir aus dem Buch vor, interpretierte den Text, der von der Schau des Isaia, erzählte, freilich auf eine mir unbekannten Weise. Wie dieser in den siebten Himmel getragen worden war, Stufe um Stufe, um dabei alle Hindernisse zu überwinden, alle Rätsel zu lösen, wie er alle Worte fand, die ein weiteres Hinaufdringen möglich machten. Danach stand er vor Gott, inmitten der Engelsrunde der 360 göttliche Wesen, den Emanationen und Widerspiegelungen des göttlichen Zentrums, in ewiger Harmonie tönend, und wurde mit der Mission beauftragt, wieder hinabzusteigen und seinen Mitmenschen von dem Erlebten zu berichten, ihnen einen Weg aufzuzeigen, wie ihre in der Nacht verlorenen Seelen wieder ins Licht zurückfinden können.
"Diesen Weg selbst zu gehen, aufzusteigen und wieder abzusteigen, noch im Leben, ist die Essenz des guten Strebens, ist dessen Ziel. - Das Buch beschreibt den Weg; die Mittel dazu, den Weg zu gehen, sind allerdings geheime. Sind durch die Tradition überliefert und nur dem persönlichen Schüler weiterzugeben." Das sagte er, um mir zu erklären, um was es in der angebotenen Schülerschaft ging.
Dann erzählte er mir eine Legende, wie er sie von dem Alten selbst gehört hatte:
"Am Anfang ruhte die Welt in Gott. Außerhalb ihm gab es nichts. Kein Nichts, kein draußen. Sie ruhte unbewegt, ewig. Dann entfaltete sich das Selbstschauspiel Gottes und das Ursprungsparadies der Seelen entstand, im Hin- und Her- Schwingen der sich entwickelnden Emanationen, Engelsheerscharen und Äonen. Noch immer war alles ewiger Gesang, ohne Veränderung, ohne Unterbrechung.
Da entstand außerhalb der Sphäre, die das Ganze einschloss, Unruhe. Der Ausgeschlossene, der Widerpart schlich um den Zaun, wollte hinein, wollte sehen, was drinnen war. Und er fand Seelen, die ihm, aus Neugier, aus Arglosigkeit, hinein halfen. Das war die erste Versündigung gegen die Ewigkeit.
Der Teufel sah, dass es die Seelen gut hatten, und merkte, dass er in diesem Glanz keine Macht besaß, kraftloser Schatten war. Da beschloss er, sich ein eigenes Reich zu schaffen und es ebenso mit Seelen zu bevölkern. Aber Seelen konnte er nicht herstellen. Er konnte sie nur stehlen. Sie aus dem Ewigen Reich in sein eigenes hinunterlocken, indem er sie überredete, mit ihm zu kommen. So versprach er ihnen, es würde ihnen dort noch viel besser gehen als hier, sie würden nicht nur in ewiger Ruhe sein, sondern in ewiger Veränderung und Wachstum. Die Seelen fingen an, sich umeinander zu bewegen, miteinander zu reden und zu diskutieren, einige unterstützten den Vorschlag, einige waren dagegen, viele neugierig, andere unschlüssig, aber bereit, der Mehrheit zu folgen, nur wenige wandten sich ab und verschlossen ihre Ohren gegen die Einflüsterung.
Da schlug der Teufel eine große Bresche in den Schutzwall des Himmels, und die Seelen stürzten durch sie hinaus und hinunter, so wie ein Schwall aus einem angestochenen Fass hinausschießt. Der Teufel führte den Sturzflug an, lenkte die Seelen auf sein Gebiet.
Da stand Gott zornig von seinem Thron auf, sagte:
"Geht für nun und eine zeitlang", den Seelen damit eine Rückkehrmöglichkeit versprechend. Trat dann mit seiner Ferse in die Lücke und verschloss so den Spalt. Doch nur wenige Seelen waren im Himmel zurückgeblieben, die meisten waren dem Widersacher gefolgt.
Dort aber, in dessen Reich, ging es den Seelen nicht gut. Es war nicht besser, wie es ihnen versprochen worden war, es war schlechter. Kalt war es, ohne Licht, ohne Glanz.
"Warum singt ihr nicht, wie ihr es gewohnt seid", fragte der Teufel die Seelen.
"Wie könnten wir hier, in der Fremde, himmlische Lieder singen", sagten die Seelen, und wollten wieder zurück.
Da dachte sich der Teufel etwas aus, um die Seelen an sein Reich zu binden. Er schuf die Materie, machte Körper, die Seelen damit zu umkleiden, dass sie zu schwer wären für den Flug zurück. Aber er konnte die Körper nicht selbst beseelen. Musste sich dabei an Gott um Hilfe wenden. Dieser war einverstanden, machte aber den Vorbehalt, dass dem Teufel alles gehöre, was dieser selbst erschaffen könne, ihm aber, Gott, alles, was er im Ursprung geschaffen hatte. So gehört der Körper des Menschen dieser Welt, die Seele des Menschen aber der himmlischen.
Noch immer waren aber die Seelen nicht fest an den Körper gebunden, so erfand der Teufel die Sinne und die Sinnlichkeit, damit die Seele Freude durch und an ihrem Körper habe.
Da Gott den Seelen ihre Rückkehr offengehalten hatte, haben diese die Möglichkeit, durch Verdienste in die Heimat zurückzukehren. Führt ein Mensch ein reines und gläubiges Leben, dann verkürzt sich sein Aufenthalt in der körperlichen Welt, er muss nicht ewig in immer neuen Körpern umherwandern, sondern kann nach einigen Leben in die oberen Sphären zurückfinden. Wie lange er dazu braucht, wie viele Leben, ist auch davon abhängig, wie er sich bei dem Auszug und Sturz aus den Himmeln verhalten hatte: war er nur unwillig mitgerissen worden, ist das ein anderer Fall, als wenn er etwa Wortführen der Rebellion gewesen war. Manche sind deshalb für immer dazu verdammt, in wechselnden Körpern zu existieren, bis zum Ende der Zeiten, wenn die Erde im Weltbrand untergehen und alles zu Glut und Asche werden wird. Die meisten Seelen freilich werden dann längst ihren Aufenthalt im Fleisch beendet haben und wieder in ewiger Ruhe und Harmonie in der Sphärenmusik mittönen."
Diese Legende erzählte mir Gutmann, wie wenn er von ihrer Wahrheit vollkommen überzeugt gewesen wäre, freilich nicht im buchstäblichen Sinn, dazu waren die Bilder zu unterschiedlich ausgemalt, aber im übertragenen, gleichnishaften. Er erklärte mir, dass zu einem reinen Leben der Verzicht auf tierisches in der Nahrung gehöre, der Verzicht auf sexuelle Befriedigung, die Verabscheuung von Zorn und Mord, von Lüge und Schädigung anderer. Auf alles, was die Seele untauglich für das Mitschwingen im himmlischen Reigentanz macht, sie in Dissonanz dazu bringt, und alles, was sie an die nur- irdische Welt zu stark bindet.
Auf diese Weise erläuterte er mir seinen Glauben an die Wiederverkörperung der Seelen und ich verstand, wie wichtig es für ihn war, in der richtigen Art zu leben und auf die rechte Weise zu sterben: mit dem geheimen Wort im Bewusstsein, konnte er der ewigen Wiederkehr entgehen, direkt in die oberen Himmelssphären aufsteigen, den Einfluss des materiellen Reiches überwindend.
Danach sprachen wir über Dinge, die ich noch besser verstehen lernen wollte, wie etwa, ob die Instinkte und Empfindungen mehr zum Körper oder mehr der Seele gehören würden, ob der freie Wille des Menschen vorhanden und wenn, ob er dann nicht seine Existenz eher dem Anderen verdanken würde; Wir diskutierten über Begriffe wie: Logos - Nichts - Gott - Erlöser; über das Verhältnis des individuellen Spiritus Sanctus, des persönlichen Engelzwillings des Einzelnen zu dem Spiritus Principalis, dem überpersönlichen geistigen Urgrund - die Nacht zog sich hin, oder vielmehr, verging wie im Flug, plötzlich war es Morgen geworden und eine Entscheidung, ein Entschluss war gefordert.
"Es ist Zeit für mich zu gehen, was müsste ich tun, um deinem Weg zu folgen", fragte ich ihn direkt.
"Ich habe dir erzählt, was ich einem Uneingeweihten erzählen kann. Wenn du überzeugt davon bist, dass dies deine Bestimmung ist, dann knie dich vor mir nieder. Sage: Guter Christ - den Segen Gottes und den euren. Wiederhole das, nachdem ich dir geantwortet habe: Seinen Segen und meinen. So dreimal. Aber tue es nur aus der Fülle deiner Empfindung, durch Freude darüber bewegt, das Wahre gefunden zu haben. Tue es nicht halbherzig, zweifelnd."

Ich konnte es nicht tun. Seine Ermahnung wäre nicht notwendig gewesen. Habe ich falsch gehandelt? Hat er jemand anderen gefunden, der ihm, wie es seinem Glauben nach wichtig war, an seinem Sterbelager die erlösende Formel ins Ohr flüstern konnte, seine Seele befreiend, so dass er nicht mehr wiederkehren musste?


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