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GNOSISROMAN: DER WEG DES ALCHEMISTEN
(Ein Fragment)


Inhalt:

Zu spät + Flucht + Wohin? + Nach Süden + Ketzerei + Gutmann + Cathérine + Beschwörung + Venedig/Postels Sophia + Am Ziel/Am Ende + Epilog



Wohin?

Ich konnte nicht unbemerkt in die Stadt schlüpfen, musste das Risiko eingehen, von der Wache angehalten zu werden, aber da ich ihnen wohl vertraut vorkam, blickten die Männer kaum auf, als ich mich dem Tor näherte, registrierten mich aber sicherlich. Ging dann auf direkten Weg zu meinem Vertragshändler, hoffend, von nicht allzu vielen Menschen gesehen zu werden, die mich kannten.
Monsieur Joviet war in seiner Stube, die Magd führte mich zu ihm, fragend sah er mich an, während er seinen massigen Körper aus seinem Sitz hoch wuchtete, um mich höflich zu begrüßen. Ohne Halt und Vorsicht schwallten meine Worte aus mir heraus, sturzbachgleich, mein ganzes Elend vor ihm ausbreitend. Er war einen Schritt zurückgewichen, trat dann aber auf mich zu, drückte mich väterlich an seine breite Gestalt, beruhigte mich, sagte, ich sollte im Hause bleiben, befahl der Magd, mir ein Frühstück zu bringen und verbot ihr gleichzeitig, irgendjemanden von meinem Hier sein zu erzählen, sagte dann, er wollte sich in der Sache kundig machen und ließ mich aufgelöst und irgendwie erleichtert zurück.
Aber schon bald bereute ich meine Beichte, wusste nicht, wie ich ihn einschätzen sollte, kam er allein zurück, kam er mit der Wache - er war der Geschäftspartner meines Vaters gewesen, ich hatte den Handel mitsamt der eingespielten Verbindung geerbt, aber ein eigentlicher Freund war er nicht, ich kannte ihn zuwenig, ebenso wie er mich.
Als er wieder in die Stube trat war sein Gesicht ernst, er verschloss rasch hinter sich die Tür, während er zurückspähte, als ob er einen Verfolger fürchtete, der ihm in seinem eigenen Haus nachspionierte - seine Besorgnis zeigte sich offensichtlich.
"Ich muss dich verstecken, jemand könnte dich gesehen und erkannt haben, als du zu mir kamst. Bis morgen früh zumindest, dann musst du gehen, hier in der Stadt bist du nicht sicher."
"Ich weiß, ich bin auch nur hierher gekommen, um mir mein Geld zu holen, ohne Mittel bin ich auf der Strasse verloren."
Abwägend musterte mich sein Blick, Freundlichkeit sah ich nicht mehr in ihm. Dann zeigte er ein Lächeln:
"Morgen wird alles geregelt, morgen gibt es einen Weg; Soviel zu heute: es gibt in der Stadt Gerüchte über das Ereignis. Manche sagen, du bist ein Zauberer, bist als Krähe den Verfolgern davongeflogen. Andere meinen, du und deine Familie seien unschuldig in die Hände des Hexenkommissars geraten, der im Streit mit den Ortsräten und dem Bischof um die Kompetenz in solchen Fällen ein Exempel schaffen wollte und die Erregung der Menschenmenge ausnutzte, um rasch und entschlossen Tatsachen zu schaffen. Der Streit wird sich fortsetzen, vielleicht wirst du Unterstützung bekommen, vielleicht will die Kirche auch nur ihr Recht, dich verurteilen zu dürfen, verteidigen wollen...Du darfst nicht abwarten, bis sie ihren Streit ausgetragen haben, ich werde dir helfen, aus der Stadt zu entkommen, morgen..."
Sein Lächeln sollte mich beruhigen, aber seine Augen verrieten mir etwas anderes: er wollte mich loswerden, und er wollte seinen Nutzen aus der Sache ziehen.
Und so war es auch: ich wurde mit seiner Hilfe aus der Stadt geschmuggelt, aber irgendwo an der Strasse abgesetzt. Ausgesetzt ohne das Geld, um dessentwillen ich das Wagnis eingegangen war, ihn aufzusuchen. Sein Gewissen konnte er wohl nicht damit belasten, mich auszuliefern, das Andenken an meinen Vater hindere ihn vielleicht daran, aber die Gelegenheit, eine Schuld in seinen Büchern auf diese Weise zu tilgen (und ich würde nie mehr zurückkommen, um sie einzufordern) wollte er nicht ungenützt lassen - er entschuldigte sich bei mir damit, dass er diese Summe nicht im Hause hätte und auch keine Möglichkeit da wäre, in Eile unverdächtig einen solchen Betrag auszuleihen - so stand ich also da, mitten auf der Strasse, regungslos, mittellos, ohne Ziel, ohne die geringste Vorstellung, was als nächstes zu tun wäre.
Ich wandte mich diesmal nach Süden. Wieder in einem Zustand halber Betäubung, die Gedanken verloren zwischen Vergangenheit und Gegenwart umherirrend, manchmal vollständig in Erinnerung versunken, manchmal aufgeschreckt die Gegend um mich nach Verfolger absuchend, in panischer Angstattacke.

**

Mein Vater hatte sein Herz an die Vergangenheit gebunden, es gelang ihm nicht, den veränderten Umständen etwas Gutes abzugewinnen; Die großen Veränderungen lagen bei meiner Geburt schon etwa 30 Jahre zurück, also in einer Zeit, in der er selbst noch sehr jung gewesen war (ich war wurde ihm erst spät als sein Erbe geboren, in der Mitte seines vierten Jahrzehnts) und doch trauerte er, nicht ohne der neuen Zeit das ihre zu geben, der vergangenen Größe der Burgunderherrschaft nach - er war kein aufrichtiger Parteigänger der Franzosen und jeder wusste es, weil er seine Gesinnung nicht verbarg (oder nicht geschickt genug). Das gab ihm Reputation unter Seinesgleichen, genügend Beschäftigung auch, verwehrte ihm aber den Zugang zu den wirklich lukrativen Ämtern, im Umfeld des Parlamentes in Dijon etwa oder am dortigen Gerichtshof, einträgliche Positionen, die ihm eigentlich, aus Familientradition, zugestanden hätten; sein Großvater war Schreiber am vorigen Parlament gewesen, sein Vater, wie er, Notar, und in der Verwaltung des Herzogtums beschäftigt - nun wurden diese begehrten Posten an den Meistbietenden verkauft, eine Sitte, welche die französische Könige institutionalisierten.
Er hatte sein Auskommen, mehr als das, hatte das Haus in der Stadt und das Häuschen im Weinfeld samt dessen Ertrag - was er mir alles vermachte, ungeschmälert, eher vermehrt - aber er haderte irgendwie wegen der ihm verbauten größeren Möglichkeiten, die sich unter den neuen Umständen nicht erfüllen konnten. Sein Held in der Jugend war Karl der Kühne gewesen (wie mir König Francois), dessen siegreiche Schlachten hatten seine Vorstellungskraft befeuert, er wusste zwar, dass er nie ein Ritter sein konnte, das verbot sich von selbst, kein Weg führte dahin, aber er sah sich in Gedanken im glanzvollen Gefolge seines Idols, Seite an Seite mit dessen Männern, und warum sollte der Sohn eines Nobiles und Rechtsgelehrten nicht auch Rechtsgelehrter und Nobile sein, am Hof dienen und Karriere machen, wie es zur Zeit seines Großvaters Nicolas Rolin vorgemacht hatte, Kanzler Phillip des Guten und Sohn eines gewöhnlichen Advokaten?
Diesen Hof gab es nicht mehr, der symbolhafte Tod Karls durch die Schweizer Spieße in der Schlacht bei Nancy hatte ein Reich zerstört, das in Wirklichkeit nur als dynastisches Beziehungsgeflecht bestanden hatte, im Gegensatz zu dem an dessen Stelle tretenden Königreich der Franzosen, die sich allmählich als eine durch die Sprache, die Rechtsinstitutionen und die Person des Königs vereinigte Nation verstanden.
Als Franzose konnte mein Vater sich jedoch noch nicht fühlen, und seine Sprache wurde auch in der gleichnamigen Grafschaft Burgund jenseits der Grenze gesprochen, die Teil des Habsburgerreiches war und blieb; Sein urbanes Gravitationssystem, an dem er sich orientierte und das ihn anzog, war nicht das weit entfernte Paris, sondern immer noch zuerst Dijon, dann Gent und Brügge und, im praktischen Leben, Lyon, die größte Stadt der ganzen Region.
Und dort gaben die Italiener den Ton an, die großen Handelshäuser und Bankiers, die den Franzosen nur die Kleingeschäfte mit der einheimischen Bevölkerung überließen, mit Weinlieferanten wie ihn (und mich) etwa, die den Ertrag ihrer Ernte, soweit nicht zum Eigenverbrauch bestimmt, einmal im Jahr in die Stadt karrten und ihr eher bescheidenes Handelsgeschäft damit machten, weit unterhalb der gewaltigen Summen, die in den Bankiershäusern bewegt wurden.

Suzanne war mir sozusagen mit dem Erbe meines Vaters zugefallen, er hatte seinem engsten Freund, einem verwitweten Archivar, versprochen, sich um die Zukunft von dessen Tochter zu kümmern, wenn dieser vor ihm sterben sollte, was sich abzeichnete und dann auch geschah. Die zwei alten Männer meinten, es sei das Beste, wenn ich das junge Mädchen heiraten würde, dann sei uns beiden geholfen, sie sei versorgt und ich hätte eine Hausfrau. So schrieb es auch mein Vater in sein Testament, als es bei ihm ans Sterben ging. Und ich hatte keine Einwände dagegen, Suzanne gefiel mir und es war niemand an meiner Seite oder in meinen Gedanken, deretwegen ich diese Verfügung hätte ablehnen wollen.
Sie war allein bei ihrem Vater aufgewachsen, behütet aber einsam, er verschloss sich gegen die Veränderungen der Zeit (das verband ihn mit meinem Vater) und gegen die sich mitverändernde Umwelt, lebte ein zurückgezogenes Gelehrtendasein, und wäre das kleine Mädchen nicht gewesen, er hätte auch Eremit sein können.
Sie führte schon früh den Haushalt für ihn, in diesen praktischen Dingen war sie tüchtig und selbständig, fand aber auch Zugang zu seinen Büchern, in die sie sich gerne vertiefte. Ihr Vater hatte Freude daran, sie in allem zu unterrichten, was er selbst wusste und womit er sich in seinen Studien beschäftigte. So war sie für eine Frau ungewöhnlich gebildet, obwohl sie (wie sie mir einmal gestand) kein eigentliches Interesse an diesen Dingen selbst hatte, sondern viel mehr daran, ihrem Vater durch kluge Fragen zu gefallen.
Dessen Bücher kamen durch sie zu den meinen und zu den juristischen Wälzer meines Vaters; Meine eigene Neigung war ein wenig anders, aber die geschichtlichen Werke und die Klassiker der Antike, aus denen seine Bibliothek hauptsächlich bestand (aber auch aus einigen Ritterromanen, wie "Amadis von Gaula", und aus wenigen Reisebeschreibungen), waren trotzdem eine Bereicherung für mich.
Das kleine schüchterne Mädchen wurde zu einer stillen, nach innen gekehrten jungen Frau, doch lebhaft in ihrer Zärtlichkeit, hingebungsvoll ihre ganze Liebesfähigkeit auf den doch viel älteren und ihr bis dahin unbekannten Mann übertragend und nach der Geburt des Kindes ganz in ihrer Aufgabe als Mutter eines kleinen Jungen angekommen...

Mich presste ein Gefühl heftiger Empörung: sie hat es nicht verdient, so zugrunde zu gehen, niemand verdient es, aber sie am allerwenigsten. Sie war unschuldig in allem was sie tat, dachte, fühlte. Warum ihr Schicksal? Gibt es keine wirkliche Gnade? Kein Zugemessenes? Nicht einmal als unschuldiges Opfer und Märtyrerin eines künftigen großen Glaubens kann sie gelten, alles was von ihr gesagt werden wird, ist: sie war eine Hexe, eine Kindstöterin.

**

Auf meiner erneuten Flucht konnte ich nicht anders, als ein letztes Mal in mein altes Leben zurückzukehren und mich heimlich ins Haus in den Weinfeldern zu schleichen; wartete dabei die Dämmerung ab, um mit der Dunkelheit das Gut zu erreichen. Gott sei dank war der alte Gärtner noch da, wohin hätte er auch gehen sollen - ich hoffte für ihn, die neuen Herren des Weinguts (Besitz von überführten Zauberern wurde eingezogen) brauchten ihn, so wie ich ihn gebraucht hatte.
Er musste sichtlich um Fassung ringen, als er mich sah, plötzlich aus der Nacht vor seiner Tür auftauchend.
"Komm herein, Herr, schnell, komm herein.
Er konnte mir nicht viel Neues über das, was geschehen war berichten, war er doch die ganze Zeit draußen gewesen, nur dass der Gerichtsdiener vorbeigekommen war, um nachzusehen, ob ich mich nicht dort verkrochen hätte - ich war froh, dass ich nicht versucht hatte, mich im Gut zu verstecken. Er wollte aber Therese aus der Stadt holen, in der Früh, sobald es wieder hell geworden war, sie konnte mir alles erzählen, was sie wusste, sie war Zeuge der Verwüstung der Wohnung gewesen und durfte Suzanne in ihrer letzten Nacht im Gefängnis besuchen.
Da der Büttel schon da gewesen war, nahm ich das Risiko in Kauf, die Nacht im Haus und in einem Bett zu verbringen, schlief aber einen leichten Schlaf, bei jedem ungewohnten Geräusch aufschreckend, froh, als es endlich dämmerte und der Gärtner sich zurechtmachte, in die Stadt zu gehen.
Ich wollte den Tag nicht im Haus verbringen, ging in die abseits gelegene Winzerhütte, mich in ihrem steinernen Rund wie in einer Höhle verkriechend, wie ich es oft als Kind gemacht hatte, wenn mein Vater und ich in die Felder gegangen waren, nach dem Rechten zu sehen, und es mir langweilig geworden war bei den Erwachsenen herumzustehen.
Dort wartete ich den Abend ab, um wieder ungesehen ins Haus zurückkehren zu können. Therese war da und stürzte weinend auf mich zu, umarmte mich und konnte nicht mehr beruhigt werden. Wir wussten alle, dass wir so nicht zusammenbleiben konnten, schon morgen musste ich wieder fort, alles andere wäre viel zu gefährlich gewesen; schon die Anwesenheit Thereses war verdächtig, früher hatte sie nie hier draußen übernachtet.
Aber bei diesem letzten Zusammensein erzählte sie mir, wie sich alles abgespielt hatte und ich begann allmählich, Suzanne zu verstehen: wie groß ihre Angst, ihre Verzweiflung gewesen war, und wie sie das hatte tun können, was allen als die unbarmherzige Tat einer Hexe erscheinen musste: ihr eigenes Kind vor dem Gang auf den Holzstoss zu töten.
Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn allein zurückzulassen, einem armseligen Schicksal ausgeliefert: als Sohn einer Hexe und eines Zauberers ohne mitleidige Verwandten in irgendjemandes Obhut oder im Waisenhaus aufzuwachsen. Er war Teil ihrer selbst, aus ihr geboren, noch so stark mit ihr verbunden, dass sie sich nicht vorstellen konnte, ohne ihn (und er nicht ohne sie) zu existieren.
Die Wärter hatten ihn ihr, aus Gleichgültigkeit oder Mitleid, nicht weggenommen, sie durfte ihn bei sich behalten, und so erdrosselte sie ihn mit ihrem Schultertuch, umwickelte dann den Leichnam damit und hielt ihn die ganze Zeit in ihren Armen, selbst regungslos wie der winzige Tote, erstarrt im Grauen der Geschehnisse. Sie ließ ihn sich nicht abnehmen, keinem Zureden mehr zugänglich, keiner Bitte, keinem Befehl, so blieben sie zusammen, bis ihr Fleisch brannte.


Weiter nächstes Kapitel: Nach Süden





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