Architexxt



GNOSISROMAN: DER WEG DES ALCHEMISTEN
(Ein Fragment)


Inhalt:

Zu spät + Flucht + Wohin? + Nach Süden + Ketzerei + Gutmann + Cathérine + Beschwörung + Venedig/Postels Sophia + Am Ziel/Am Ende + Epilog



Ketzerei

Allmählich erwachte ich aus der Entsetzensstarre, die mich die meiste Zeit gefangen gehalten, dem Zustand des lebenden Toten, in dem ich mich mechanisch bewegt und wie geistesabwesend agiert hatte. Die Savoyarden merkten mir an, dass etwas mit mir nicht stimmte, bedrängten mich aber nicht, mehr von mir zu erzählen, als ich bereit war, preiszugeben. Teils aus oberflächlicher Gleichgültigkeit, teils aus Respekt vor mir und dem Geheimnis, das ich mit mir schleppte und an dem ich offenkundig litt.
Ich konnte nicht über das Geschehen nachdenken, jedes Mal, wenn ich es versuchte, sperrte sich etwas in mir dagegen, führte meine Gedanken woandershin oder ins Nichts mentaler Abwesenheit. Die Ungezwungenheit der Gruppe half mir dabei, mich scheinbar normal zu verhalten, Normalität als Maske überzustreifen zu können.
Die Trauer über meinen Verlust stellte sich merkwürdigerweise an Nebensächlichkeiten ein: ich vermisste alltägliche Gewohnheiten - das Nörgeln der Magd (die meine Amme gewesen war) - das Erwachen der Stadtgeräusche um mich, wenn ich wieder einmal eine Nacht in meinem Turmlaboratorium durchgearbeitet hatte - das ewige Bemühen um eine gleichmäßige Bruttemperatur bei meinen alchemistischen Prozeduren. Weiter wollte ich gar nicht denken, nicht an sie, nicht an ihn, an nichts, was in das Zentrum meines ehemaligen Lebens führte (und doch war es für mich, damals, nur Randgeschehen gewesen, fern zu haltende Störungen meines eigentlichen Interesses…) - ich trauerte um Nichtigkeiten, um den unerträglichen Schmerz der eigentlichen, tiefer gehenden Trauer zu vermeiden.

Die Savoyarden hielten sich nun ostwärts, dem Gebirge zu, wollten den Pass nehmen, um direkt in ihre Heimat zu gelangen. Was ich dort machen sollte, war mir noch nicht klar, im Augenblick jedenfalls war ich dankbar für ihre Gegenwart.
Ich vermisste meine Bücher. Doch mit diesem Verlust konnte ich umgehen. Zwar nicht damit abschließen, aber mich damit beschäftigen. Meine Bücher waren das Zentrum meiner Bemühungen um das Geheimnis der Welt gewesen. Alles, was ich in ihnen las, lenkte mich auf dieses Geheimnis und regte mich an, mich noch stärker damit zu beschäftigen, noch intensiver den Sinn in allem zu suchen, die Verbindungslinien, die doch alle Erscheinungen miteinander verknüpfen mussten. Analogie war der Schlüssel. Davon war ich überzeugt. Alles Geschehen und alle Phänomene waren nach Analogie und Gleichklang (der Form, der Farben, des Geruchs, Geschmacks, der Namen und Zahlen, der geometrischen Figuren) miteinander verwoben. Pietro d' Abano, Ficino, Pico, Reuchlin, Trithemius, Agrippa und durch sie die antiken und arabischen Autoren waren die Meister, die ich damals vor allem studierte, in der Hoffnung, in ihren Schriften das Wissen zu finden, das ich gerade jenseits meines schon erreichten Verständnisses von der Natur, des Kosmos, der Welt und Überwelt als Ahnung spürte.
Ich erinnerte mich, dass ich einmal in der Früh aus einem Traum auf wachte, in dem mir alles sonnenklar schien, ich das Oben und Unten des Trismegistos deutlich vor Augen hatte, wie in einem vor mir aufgeschlagenen Buch, als Siegel und Symbol in Überschau dargestellt. Der Reigentanz der Planeten in den Sternensphären lag vor mir ausgebreitet, ich konnte sehen, wie ihre Strahlen sich zusammen flochten und jedes Wesen und jede Erscheinung bewirkten und beeinflussten - ich wachte auf und mir war das deutlich gezeichnete Bild entglitten, nur das Gefühl, dass ich schaue und verstehe, war geblieben. Überwältigende Freude war als Echo, als Abglanz noch flüchtig gegenwärtig, dann kam der Absturz in die Trauer über mein Vergessen.

Der Zusammenhang aller Erscheinungen war gleichzeitig auch das Feld der Magie, wie ich sie beschrieben fand, der Magie, die auf diesem Verwobensein der Dinge untereinander beruhte, auf der Möglichkeit, Analogien zu entdecken und auszunutzen. Zauberwirkungen interessierten mich nicht, aber das Prinzip, nach dem sie wirkten, das wollte ich herausfinden, darüber wollte ich etwas wissen. Deshalb hatte ich in meiner Studentenzeit angefangen, mich damit zu beschäftigen, mich mit Zauberbüchern wie dem Picatrix abzugeben. Doch führten mich solche Bücher auch auf eine andere Fährte: ich wurde von Ideen berührt, die eine andere Welterklärung als der meiner orthodoxen Umgebung entstammten.
Ideen, die, wie verzerrt auch immer sie in den Texten auftauchten, mir die Ahnung einer in ihnen enthaltenen verborgenen Tiefe gaben, die sich mir irgendwann als Schwindel erregender Abgrund auftat. Vor dem ich zurückschreckte. Vor allem von den Konsequenzen, die sich für mich ergeben würden, wenn ich mich auf die Bodenlosigkeit dieser Weltdeutung einlassen sollte. Der gute christliche Vatergott war ein Anderer. War anders. Aber das wusste ich schon aus dem Studium der Philosophie. Der Gott der Philosophen war ebenso ein Anderer.
Der unbewegte Beweger, der eine, letzte Grund, der alles enthält, sich selbst eingeschlossen, aus dem nichts ausgeschlossen ist - wie konnte der identisch mit dem zorngewaltigen Vater sein, der bestrafte und erhöhte, wie es ihm gefiel, nur seinem eigenen Willen gemäß, unerforschlich, unüberwindbar? Der das Gesetz gegeben hatte, selbst jenseits allen Gesetzes? Der eine Gott der Philosophen, der sich in die Welt entäusserte, ohne mit ihr identisch zu sein, war ein anderer, als der in dem frommen Bild auf dem Altar meiner Heimat gemalte alte Mann mit der Tiara, Adam und allen Geschöpfen seinen Atem mit heftigem Stoß einblasend, umgeben von der flammend roten Aureole seiner Engel. Darüber fing ich an nachzudenken, da ich über das Andere, Abgedrängte, nicht nachdenken konnte.

Wen ich des Nachts noch schlaflos lag, schwindelerregend müde, aber nicht fähig, mich wie die anderen hinzulegen und sofort einzuschlafen ( wie Tiere in der Wildnis, die jeden Ruheaugenblick ausnutzen konnten, um zu Kräften zu kommen, auch sofort wieder hellwach waren, alarmierte sie irgendetwas - ich dagegen brauchte quälend lange um in den Schlaf zu finden, und, einmal in ihm versunken, daraus wieder aufzutauchen: es war, als wolle ich nicht wieder ins Tagesleben zurückkehren), dann fing ich manchmal an, mir den Inhalt meiner verlorenen Bücher in Erinnerung zu bringen, soweit ich es vermochte. Vor allem Ficino war mein überpersönlicher Mentor gewesen (sein Buch über die Astralmedizin - de vita - war mir Arbeitsbuch geworden), dessen Argumente ich nun im endlosen Gedankenwälzen während meines Versuches, einzuschlafen, nochmals durchnahm. Doch ich stimmte ihm nicht mehr so uneingeschränkt- enthusiastisch zu, wie einstmals.
Ficinos reine und lichte Philosophenseele hat eine Welt geschildert, in der das intellektuelle Vermögen des Menschen seiner Natur nach ins Licht und, als Endziel allen Strebens, zur Sonne der Sonne drängt, zu dem was man als Chiffre "Gott" nennt, als das Primat aller Existenz, das Über allem Existierende, das Überlicht, die Überwärme, Überliebe, das Prinzip aller Begriffe, Prinzip alles Seins, der Gedanke aller Gedanken, Primat der Form und der Formen, die Essenz aller Essenzen. Dieses Streben mache den Menschen aus, sei Kern seiner Existenz, und auch diejenigen, die nichts davon wissen oder wissen wollen folgten ihm, weil es in ihrer Natur als Menschen liege. Das Böse sei das, was uns davon abhalte, dieser natürlichen Neigung der Seele zu folgen, indem andere Begehrlichkeiten wie Ruhmsucht, sexuelle Begierde, Machtgelüste für eine Zeit die primäre Lichtanziehung abschwächten und an deren Stelle treten würden. Aber durch Einsicht könne dieses Fehlverhalten korrigiert werden.
Ich bin nicht mehr so optimistisch.
Auch für mich gab es nur die Hinwendung zur höchsten Erkenntnis und die selbstverständliche Annahme, dass ich von Stufe zu Stufe mehr und mehr erkennen werde, um mich damit dem Ziel alles Erkennens zu nähern, in diesem Leben oder im Nachtod; jetzt sehe ich mich weniger auf dem Weg dahin als mittendrin in dem Hin- und Her- Geschiebe der alltäglichen Not.
Ich weiß, es ist kein Einwand gegen die Gültigkeit einer Weisheitslehre, wenn man sagt, sie sei unter manchen Umständen nicht praktizierbar, sei zu sehr vom alltäglichen Leben abgehoben, aber es machte mich doch nachdenklich, das ich meine der höheren philosophischen Erkenntnis gewidmete Existenz nur dem Erbe meines Vaters verdankte, dessen Geld und dessen Besitz. Es hat den Schutz des eigenen Hauses, des täglich gebrachten Essens (wenn auch nur hastig nebenbei verschlungen), der Stille und Abgeschiedenheit eines zurückgezogenen Lebens gebraucht, um mich diesen Dingen in Meditation hingeben zu können.
Natürlich wäre mir das auch als Eremit möglich gewesen- als jemand, der von fast nichts oder nur von dem lebt (was vielleicht dasselbe wäre), was ihm helfende Menschen vor die Öffnung seiner Höhle oder Klause stellen - auch auf diese Art hätte ich mich der Kontemplation des Guten widmen können. Mag sein. Vielleicht auch als Mönch, als Mitglied einer Gemeinschaft, die sich dieser Kontemplation verschrieben hat - aber auch als solcher kann ich mich nicht sehen, zu sehr wäre ich in Zwänge eingebunden gewesen, die nichts mit der inneren Hingabe an den Weg ins Licht, umso mehr mit dem Gerangel und den Konflikten der Brüder untereinander und mit ihren Kirchenoberen zu tun gehabt hätten.
Es gibt eben kein sich den Urgewalten auf Dauer entziehen können, welche das Feld beherrschen, auf das wir gestellt wurden: Urzwänge, die im Grunde alle als Hunger, als Mangel beschrieben werden können. Uns mangelt es an Wärme, wir suchen das Feuer. Uns mangelt es an Liebe, wir fordern die Zuwendung der uns Nächsten. Uns mangelt es an Aufmerksamkeit, wir machen Lärm, wir drängeln uns vor, wir schubsen andere beiseite. Uns mangelt es an Nahrung, wir tun alles, lassen uns auf die entwürdigsten Umstände ein, sind bereit, andere zu berauben oder sogar zu töten, nur um dem Hunger zu entgehen. Uns mangelt es an Fülle, wir saugen alles in uns hinein, nehmen alles in uns auf, bis wir daran zugrunde gehen. Auch die Hinwendung Ficinos zum Licht ist dem Mangel geschuldet, der Sehnsucht genannt wird, Sehnsucht nach dem, was uns letztlich fehlt: der Ort, an dem wir geborgen und zuhause sind.
Mein geliebter Ficino hatte Unrecht, als er schrieb, das Böse kommt aus dem Fehlverhalten des Menschen, es liegt allein an ihm, ob er gut oder böse sein will, er muss sich nur für die Vernunft und das Vernünftig- Gute entscheiden, gegen das leidenschaftlich- leidenschaffende Begehren des Unrechten (was er erkennen könnte), welches ihn ins Böse hineinführt. Nein, das Begehren ist nicht die Ursache des Bösen.
Der Mangel ist es, der unter, hinter dem Begehren liegt und treibt. Und für den Mangel kann der Mensch nichts. Diesen Mangel hat ein Gott in die Schöpfung eingebaut - Hunger, Not, Endlichkeit - alles Begrenzungen, denen er ausgesetzt ist und aus denen sein Begehren nach Fülle und Sättigung kommt. Ficino meint, wir sollten uns bescheiden und keinem unrechtmäßigem Begehren nachgeben - ist Sättigung des Hungers unrechtmäßig, wenn wir doch Wesen sind, die Hunger spüren? - was wir uns nicht ausgesucht haben.

In Glaubensdingen war ich immer ein guter Katholik gewesen, vertrauensvoll aufgewachsen in diesem Glauben, aber durch den Untergang meines Lebens in Schrecken und Erschütterung wankte diese fraglose Überzeugung. Ich haderte mit einem Gott, der solches zuließ. Und ich schloss, in Umkehrung, von den Menschen, die in seinem Namen auftraten, auf das Wesen dessen, den sie predigten. Es fällt für mich von denen, die ständig ihren Gott preisen, ein schlechtes Licht auf diesen zurück.
Schlächter wie der Hexenkommissar, die im Namen Gottes ihr Werk tun, lassen diesen Namen in meinem Mund schal werden. Ist ihr Gott auch mein Gott? Ich kann es nicht glauben. Und schon lange glaubte ich nicht mehr daran, dass Adam als erster Mensch alles Leid der Existenz verursacht hat - und Eva, die eigentliche Schuldige, Verführte und Verführende - indem sie gegen Gott ungehorsam waren. Das ist die schlichte Auslegung eines uralten Textes durch Herren, die von ihren Knechten Gehorsam einfordern und dies durch ein Märchen untermauern.
Ich glaube nun eher, dass ein Gott diese Welt geschaffen hat, der den Mangel, und dadurch den Kampf aller Wesen gegeneinander, in sein Werk einbaute. Entweder fehlerhaft oder absichtlich. Von daher lässt sich alles Leid erklären. Dieser Gott kann nicht ein guter Gott sein, allmächtig auch nicht, denn wenn es ein Fehler war, ist er schwach, wenn es Absicht war, böse. Da ich aber an Ficinos Über-Sein und -Wesen glühend glaube, immer noch, müssen wir in einer Welt leben, die von diesem höchsten Prinzip abgespalten ist, davon getrennt - in die Falle eines anderen Schöpfers geraten, der uns in seinem Werk gefangen hält.
Erlösung durch Wissen führt aus dieser Welt in die wahre, wirkliche, in die Welt unserer Heimat, unseres eigentlichen Seins. Durch mein Grübeln kam ich zu dieser Einsicht. Und dadurch wurde ich in Wirklichkeit ein Ketzer, jemand, der nicht mit der öffentlich zu schwörenden Lehre übereinstimmt, der an der Verkündigung der Kirche zweifelte und dort nur noch Eigennutz und Ignoranz erkennen konnte, oder sie sogar als Helfer des unbarmherzigen Herren der Welt ansehen musste.

Diese Gedanken waren meine eigenen, von mir nach und nach gefunden, ihre eindeutige Form, ihre letzte Gestalt bekamen sie aber durch ein langes Gespräch, vom Abend durch die Nacht bis zur Morgendämmerung einst mit einem Eremiten geführt, der mich in diesen Dingen belehrte. Er konnte es nur tun, weil ich schon längst von der Richtigkeit solcher Anschauungen überzeugt war, ohne eine solche klare Vorstellung davon zu haben.
Der alte Mann lebte in der Nähe des Heimatortes der Gaukler, die mich bis dorthin mitgenommen hatten; aber nach ein paar Tagen des Ausruhens und des Bekannt Werdens mit den Verwandten, Freunden, Nachbarn der Gruppe wurde mir einsichtig, dass ich an diesem Ort nicht für länger bleiben konnte: es gab hier keine Aufgabe, keine Arbeit für mich, ich war ein überzähliger Esser. Dabei hörte ich von einem weisen Mann erzählen, der in einer Grotte leben sollte, verborgen im Wald, an einer heiligen Quelle, einem der alten Orte der Verehrung, die durch die Kirche geächtet worden waren.
Er sei ein guter Christ, wurde mir versichert, allerdings auf eigene Weise. Für die Menschen der Umgebung galt er als Heiliger, sie hielten aber eine Art stillschweigendes Abkommen ein, ihn vor Außenstehenden, und vor allem den kirchlichen Autoritäten gegenüber, nicht zu erwähnen. Bevor sie auf ihre Fahrten gingen, besuchten sie ihn, um sich von ihm segnen zu lassen. Ich sollte es ihnen gleichtun, meinten sie. Und brachten mich am Vorabend meines Abschiedes zu der Höhle des Einsiedlers, mich von ihm seinen Segen für die morgige Reise abholen zu lassen.


Weiter nächstes Kapitel: Gutmann





r