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GNOSISROMAN: DER WEG DES ALCHEMISTEN
(Ein Fragment)


Inhalt:

Zu spät + Flucht + Wohin? + Nach Süden + Ketzerei + Gutmann + Cathérine + Beschwörung + Venedig/Postels Sophia + Am Ziel/Am Ende + Epilog



Cathérine

Nicht sicher, ob ich das Richtige getan hatte, ging ich dem Pass zu, wie die Dorfleute mir geraten hatten - auf einem Nebenpfad, manchmal kaum erkennbar, immer in Gefahr, den Weg zu verlieren und mich im Geschiebe der Felstrümmer und zwischen den Baumgerippe zu verirren. Aber ich fand den Pfad ins Nachbartal, und konnte am Abend in einem Dorf unterkommen - mit dem Hinweis auf meine Fähigkeit zur Zukunftsdeutung und ähnlich Geheimnisvollem. Inzwischen wusste ich genug über die Vorstellungswelt vor allem der Frauen, die daraufhin zu mir kamen, um ihnen ihre verborgenen oder offenen Hoffnungen und Wünsche bestätigen zu können, die sie mir vortrugen. Ich gab ihnen diesen Trost - sagte nichts, was sie erschrecken konnte, sagte nichts, was zu unwahrscheinlich war, als dass es sich erfüllen konnte, sagte nichts zu genaues voraus - sah aber an ihrem eifrigen Nicken, ihrem überraschten Blick, wenn ich getroffen hatte und fuhr dann damit fort.
Man erklärte mir, als ich nach dem weiteren Weg fragte - inzwischen hatte ich beschlossen, in die Lombardei und dann nach Venedig zu gehen, um dort einen legendären Adepten zu suchen, Salomon Trismosin, von dem mir geheimnisvolle Geschichten erzählt worden waren - dass weiter südlich eine Burg liegen würde, wo mir weitergeholfen werden könnte, der Burgherr sei ein gelehrter, weitgereister Mann (und bekannt für seine Seltsamkeit), ich solle dort nachfragen.
Ich hielt mich an die Wegbeschreibung der Dorfbewohner und folgte dem Gebirgsfluss abwärts, zu Fuß sollte es eine starke Tagesreise sein, hoffte, vor Dunkelheit dort anzukommen. Gegen Abend konnte ich in der Ferne die Silhouette eines Wehrturmes auf einer Felsklippe inmitten der Talsenke ausmachen, umgeben von geduckt wirkenden Hütten, die sich unter seinem Schutz versammelt hatten. Die schroffaufragenden Berge ringsum überschatteten die Felskuppel im Tal, ließen diese wie eine harmlose Erhebung, kaum beachtenswert, erscheinen, aber je näher ich kam, desto steiler und höher stach die Klippe aus dem Geröllgeschiebe des Flussbettes, das sich an ihrem Fuß eingegraben hatte. Die kleinen Häuschen vor der Burg interessierten mich nicht, ich wollte direkt zum Hauptbau und eilte durch die zunehmende Dämmerung. Doch der Weg längte sich, je näher ich mich dem Ziel glaubte.
Als ich den Eingang erreichte, war es daher schon dunkel geworden und ich fürchtete, nicht mehr eingelassen zu werden, umsonst aufgestiegen zu sein. Ein Hund schlug an, ein misstrauisches Auge schaute durch ein vergittertes Fensterchen im Tor, aber meine Erscheinung musste wohl nicht sehr bedrohlich gewirkt haben, den nach einer kurzen Verzögerung öffnete sich ein Spalt, Licht fiel auf mich, das spähende Auge vervollständigte sich zu einem Gesicht, das zu einem kräftigen Jungen gehörte, der mich nicht feindselig, aber fragend musterte. Ich bat um eine Übernachtung, und dass ich gerne den Hausherrn gesprochen hätte, der mir, so wäre mir gesagt worden, auf meinem Weg weiterhelfen könnte.
"Der Herr ist noch nicht zurück. Die Dame wird entscheiden, ob du hier bleiben kannst. Warte."
Das Tor schloss sich wieder, ich stand in Geduld davor, zuversichtlich, aufgenommen zu werden. Nach einiger Zeit spähte ein anderes Augenpaar durch die kleine Öffnung im Tor, bevor dieses weit genug aufgesperrt wurde, dass ich hineinschlüpfen konnte. Drinnen standen der Wächter und eine zierliche, schwarzhaarige Frau, jung, schön, die mich, so schien es mir, interessiert musterte.
"Wer bist du? Von woher kommst du? Was willst du von dem Hausherrn? Ich bin seine Dame", setzte sie als Erklärung hinzu.
Ich erzählte eine sich glaubwürdig genug anhörende Geschichte, nannte den Ort, an dem ich zuletzt gewesen war, bat um Aufnahme ins Haus während der Nacht oder so lange, bis ich den Ritter gesprochen hatte.
"Was ist dein Gewerbe?", fragte sie mich statt einer Antwort.
"Arzt, Astrologe, auch Mantiker" sagte ich, um ihr Interesse an mir zu verstärken.
"Mantiker? Du kannst Zeichen deuten? Du kannst Horoskope berechnen?"Jetzt war ihre Neugier offensichtlich.
"Du sollst bleiben", entschied sie, "sei unser Gast. Der Ritter wird sich freuen, jemand in seinem Haus vorzufinden, mit dem er gelehrte Gespräche führen kann. Jetzt ist es schon spät, wir sehen uns morgen wieder, am Tag."
Sie verschwand in einer kleinen Tür, die den Zugang tiefer ins Haus versperrte, der bisher stumme Wächter, Aufpasser, Diener, was auch immer, begleitete mich auf einem anderen Weg zu einer winzigen Kammer, in der ich übernachten durfte.

Cathérine, so hieß die dunkelhaarige Schöne, war ein bemerkenswerter Mensch, die erste Frau, die mir begegnete, die nicht die Augen senkte, wenn sich unsere Blicke trafen, sondern stolz dagegen hielt. Und so direkt wie ihr Blick war auch ihre Art. Ihre Familie gehörte zu denen, die sich nach den Sarazenenüberfällen in dem verwüsteten Landstrich angesiedelt hatten und seither den Grundstock des Adels in dieser entlegenen Gegend bildeten.
Warum sie sich für mich interessierte, verstehe ich bis heute nicht - es sei den, aus der Laune einer vernachlässigten Frau, die im Fremden einen Ausgang aus der Enge ihres vorgezeichneten Lebens sah. Wie ein Singvogel in seinem Käfig, Sicherheit und Gefängnis zugleich, schaute sie auf den vorbeistreichenden Zugvogel, auch wenn er ein zerzauster Einzelgänger war, und sehnte sich nach dessen vermeintlicher Ungebundenheit. Wie ein Singvogel sang sie ein schönes, aber auch trauriges Lied, und ich denke immer mit Wehmut an sie zurück, nicht mit Verachtung, wie mancher es tun würde, sich an die Sitte haltend. Was ist aus ihr geworden? Hat ihr Mann sie bestraft? Sie verstoßen? Sie getötet? Ich weiß es nicht, habe nichts aus dieser Gegend je wieder gehört, seitdem ich sie in überstürzter Flucht in Richtung Lombardei verlassen hatte, in jener tumulterfüllten Nacht, als ich mich schon als Opfer der verhängnisvollen Ereignisse sah, unschuldig- schuldiger Mitspieler in der Szene eines Ehebruchs.
Cathérine war es, die mich verführt hatte, aber ich war es, der sich nur allzu gerne hatte verführen lassen, das bleibt mein Schuldanteil, ich kann ihn nicht hinwegreden. Sie fragte mich bei der ersten Mahlzeit, die ich mit ihr einnahm, als Gast, während ich auf die Rückkehr des Hausherrn wartete, welche Art von Mantik ich ausübte, und neben Astrologie (an deren Voraussagen ich nicht einmal mehr glaubte) und der Ausdeutung von Zeichen am Himmel und von seltsamen Ereignissen (die ich bei Plinius vorgegeben fand) erwähnte ich auch die Kunst des Melampus, aus den Leberflecken und Muttermalen Aussagen über Charakter und Schicksalsverläufe abzulesen, etwas, dass in einem griechischen Manuskript, "Peri Elaion Tou Somatos" welches ich Zuhause einst besaß, beschrieben wurde. Ich erinnerte mich einigermaßen daran, dass ein Mal neben dem Kinn bei einer Frau Empfindsamkeit und Gefühlsreichtum bedeutete, und erzählte ihr davon, als ich ein solches an ihr bemerkte.
Das musste sie getroffen, ihr das Gefühl gegeben haben, ich sei ein Wissender, und ihr Interesse wurde persönlicher. Am zweiten Tag des Wartens sagte sie mir bei der abendlichen Mahlzeit - die Magd verließ kurz den Raum, um abzutragen - ich sollte mich später vor ihrer Kammer einfinden und dreimal anpochen, sie wollte meine Deutungskünste in Anspruch nehmen.
"Warum nicht gleich und hier?", fragte ich naiv, unerfahren in weiblichen Gedankengängen - sie lächelte ein wenig und meinte nur, ich würde den Grund dazu dann verstehen. Als die Magd wieder hereinkam, sprachen wir über andere Dinge.

Am späten Abend schlich ich mich (also verhielt ich mich schon wie jemand, der etwas Verbotenes tat) vor ihre Tür, klopfte im verabredeten Takt und wurde von ihr hereingelassen. Niemand hatte mich gesehen. Sie erklärte, es sei nichts Unziemliches in unserem Treffen, ich solle es so sehen, wie wenn sie mich als Arzt konsultieren wolle, sie würde aber trotzdem nicht von den beiden Bediensteten (außer dem Jungen und der Magd gab es im Augenblick keine weiteren Hausbewohner) dabei ertappt werden wollen, es könnte von ihrem Mann falsch verstanden werden, käme es ihm zu Ohren und sie müsste dann zu viel erklären, um alles wieder geradezubiegen. Dann sagte sie mir, was sie von mir wollte: ich solle ihren Körper nach Malen absuchen und sie deuten.
Den Fleck neben ihrem Kinn auf dem Unterkiefer hatte ich ihr schon erklärt, so zeigte sie mir einen weiteren auf ihrer Kehle. Ich erinnerte mich vage daran, dass es "an Gold und Silber reich" hieß und sagte es ihr. Dann zeigte sie mir einen auf ihrer rechten Schulter und enthüllte mir dabei ihre weiß- leuchtende Haut, deren Anblick mich stocken ließ, so dass ich meine Erklärung mehr stammelnd als flüssig hervorbrachte: dass es "unterdrückt" bedeuten sollte, ob bei Mann oder Frau wusste ich nicht mehr, deutete es ihr aber in diesem Sinne. Auf dem linken Fußrücken war ein weiteres Mal, das sie mir nun zeigte, ich umfasste sachte ihren kleinen Fuß, um es mir näher anzusehen und zu zitieren: "Wenn eine Markierung auf dem Fuß, dann bedeutet es Fruchtbarkeit. Wenn auf der linken Seite, bedeutet eine Markierung reich und in allen Dingen gut"
So betrachtete ich ihren Körper immer gründlicher, kam auch zu den sonst nur unter Ehe- oder Liebesleuten aufgedeckten Zonen, musste sie mir doch ihre rechte Brust und schließlich ihre Scham zeigen, um die Male dort zu begutachten. Uns beiden schien es, wie wenn wir allmählich auf einer ganz anderen Entdeckungsreise unterwegs waren, mein Puls reagierte heftig auf das Gesehene, auch sie atmete anders: tiefer, stoßweise. Ein Seufzer, halb unterdrückt, brachte meinen Finger wie an Marionettenfäden geführt an die Stelle, an der ein nicht sehr ausgeprägter braundunkler Fleck ihre Schamlippen zeichnete. Mein zögerliches Berühren wurde ein zärtliches Streicheln, bis wir uns schließlich nicht mehr um den anfänglichen Anlass der Erkundung des Körpers kümmerten und nur noch in ihr aufgingen.
Seit Suzanne war ich nicht mehr bei einer Frau gewesen - nein, ich habe jetzt die flüchtige Gunst der Savoyardin vergessen, die sich einmal in einer Nacht zu mir legte, mich mit ihrer Hand und ihrer Zunge zum Erguss brachte und verschwand. Aber mit Cathérine war es etwas anderes. Wir vergaßen uns vollständig: wer oder was wir waren, den Anlass meines Hier seins, die Gefahr der Entdeckung. Alles außerhalb von uns, außerhalb der Körperberührungen, gab es nicht mehr. Ihre Seufzer und ihr Stöhnen wurden leidenschaftlicher, meine Reaktion darauf drängender, die Umarmung führte uns in eine zeit- und raumlose Tiefe, in der wir untergingen.
Als ich wieder daraus auftauchte, wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sie, zur gleichen Zeit wie ich wieder erwacht, streichelte meine Brust, seufzte wieder, doch diesmal anders, und bat mich, sie für jetzt zu verlassen und während des Tages niemandem etwas merken zu lassen, weil das sehr unklug gewesen wäre - was sie mir nicht hätte sagen müssen.
Den ganzen folgenden Tag lief ich wie benommen durch die Gänge des großen Hauses, durchstreifte, zugleich entrückt und unruhig, Innenhof und zugängliche Zimmerfluchten, jetzt den Zustand nur vorspielend, in dem ich die Zeit davor gewesen war: halb gelangweilt, halb neugierig auf das Leben des Hauses, in dessen Mauern ich nun schon drei Tage zu Gast war. Ich wartete auf den Abend, die Nacht. Erwartet ihre sich öffnende Arme, ihre dargebotene Brust, ihr verzücktes Lächeln. Ersehnte die verschwiegenen Stunden in ihrer Kammer.
Am fünften Tag kam der Ritter von seiner Reise zurück. Er war im französischen Königsgebiet gewesen und erfuhr sofort bei der Ankunft von meiner Anwesenheit.

**

Meine erste Begegnung mit ihm glich eher einem Examen: er bestellte mich in den Hauptraum, der Ess- und Audienzsaal zugleich war und ließ mich vor sich hinstellen, um mich, sitzend auf einem altertümlichen Lehnstuhl, von oben bis unten zu mustern. Was oder wen er erwartet hatte weiß ich nicht, er schien, ohne dass er dazu etwas sagte, zufrieden mit dem Ergebnis seiner Musterung zu sein, fragte mich dann allerlei aus über meinen Weg hierher, meine Ausbildung, meine Profession, meine Zukunftspläne; befragte mich über meine Studien und welche Bücher ich gelesen hätte.
Ohne die Katastrophe und meine Flucht vor der Anklage zu erwähnen, aus Vorsicht oder um diese noch immer schmerzende Wunde nicht zu berühren, erzählte ich ihm frei, womit ich mich beschäftigt hatte und wie meine Lebensumstände gewesen waren (nur Suzanne kam in dieser Erzählung nicht vor). Ihm musste aufgefallen sein, dass ich den Grund für den Wechsel in meinem Leben nicht erwähnte, er bohrte aber nicht nach, ließ es auf sich beruhen. Mit einer Bewegung seiner Hand erließ er mich aus der Befragung.
Bei der Mahlzeit am Abend waren wir nun zu dritt, das Essen wurde aufgetragen, und ich stellte nun meinerseits die Fragen, deretwegen ich hierher gekommen war: nach dem besten Weg in die Lombardei und nach Venetien, ob er etwas über Trismosin wüsste und darüber, wo sich dieser, wenn er noch lebte, aufhalten würde. Den Weg konnte er mir aus eigener Erfahrung beschreiben, über Trismosin wusste er auch nicht mehr als ich, nur noch, dass ich diesen vielleicht eher in Istanbul finden würde als in Venedig, aber dieses Gerücht, von dem er gehört hatte, war genauso vage und ungewiss wie überhaupt die Existenz des Adepten, der inzwischen ja über 80 Jahre alt sein musste.
Was aber, darüber stimmten wir überein, nichts zu sagen hatte, wenn er wirklich den lebensverlängernden Stein der Weisen herstellen konnte. Durch seine Fragen und durch sein Wissen über den geheimnisvollen Deutschen war mir klargeworden, dass er jemand war, der sich mit hermetischen Künsten beschäftigt haben musste, aber er hielt sich bedeckt, sprach nicht über sich und seine eigenen Studien, sondern über die Reisen, die er schon gemacht hatte. So über eine Pilgerreise nach Rom und Jerusalem, die ihn auf der Rückfahrt mit einem venezianischen Schiff auch über diese Stadt führte. Dort hatte er das erstemal von dem alten Adepten gehört, der lange Jahre auf einem Gut außerhalb Venedigs gelebt haben sollte und dem man nachsagte, dass er am Ende, nach langer Wanderschaft, die ihn bis nach Ägypten brachte, sein Ziel erreichen konnte: die Herstellung des wahren Goldes.
Mit Cathérine wechselte ich während unserer Unterhaltung keinen Blick, sie verhielt sich reserviert, als ob es unsere Nächte vor der Ankunft des Ritters nicht gegeben hätte. Still und zurückhaltend saß sie auf ihrem Platz, der Hausherr schilderte lebhaft die Entbehrungen einer Pilgerfahrt, ich war sein Stichwortgeber und aufmerksamer Zuhörer. Nur einmal mischte sie sich in das Gespräch ein und fragte mich, woher ich über so viele Dinge Bescheid wüsste, auch immer den Namen von Orten kennen würde, wenn ich doch nicht selbst diese Fahrt unternommen hätte - ich erklärte ihnen, dass ich einen Erfahrungsbericht gelesen hatte "Die Reise des Jacques le Saige", in der vieles, was der Ritter so anschaulich schilderte, erwähnt worden war.
"Ich wollte schon immer selbst einen solchen Bericht über meine Erlebnisse niederschreiben und kursieren lassen, aber ich komme nicht dazu", sagte er, "es gibt so vieles, was mich davon abhält, mich in Ruhe niederzusetzen und zu schreiben - oder zu diktieren..", setzte er hinzu, mich dabei nachdenklich anschauend. Offenbar mit einem Hintergedanken, den er aber für sich behielt.
Wollte er mir eine Stelle als Schreiber oder Sekretär anbieten? Ich wäre dazu bereit gewesen, hätte meine eben erst und noch nicht wirklich ernsthaft betriebene Suche nach dem Adepten für eine Weile zurückgestellt, wenn das Angebot gemacht und auch akzeptabel gewesen wäre. Aber er sprach nicht mehr über dieses Thema, stattdessen einige Tage später (es war keine Rede mehr davon, sofort wieder weiterzuziehen) über etwas, was ihm wichtiger war. Der Hausjunge führte mich zu dem Turmzimmer, der Studierstube des Ritters, wie ich inzwischen wusste, und sagte dass der Herr mich erwartete und etwas mit mir bereden wollte.

Als ich in seine Stube trat schien er mich zuerst nicht zu bemerken, so in seinen Gedanken versunken saß er in seinem Stuhl, blickte dann aber ärgerlich auf und fragte, warum ich im Zimmer herumstehen würde.
"Ihr wolltet mich sprechen."
"Schon gut, setze dich aber".
Dann zeigte er auf einen Stapel bemalter Blätter, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
"Berühre mit deiner linken Hand die Bilder."
Zögernd (warum sollte ich es tun?) und verwirrt tat ich schließlich was er sagte, berührte sachte mit zwei Fingern der linken Hand das oberste Blatt, nicht sicher, ob es eine magische Operation war, die er von mir verlangte.
"Jetzt nehme irgendein Blatt aus dem Stapel. Lege es beiseite. Nehme noch eins. Und noch eins."
Gemeinsam schauten wir an, was ich ausgewählt hatte: Das erste Blatt zeigte eine hohes Gebäude, vor dem zwei Männer auf dem Rücken lagen, wie herabgestürzt, Flammen schlugen aus dem obersten, etwas zurückgesetzten Stockwerk. Das zweite, in der Mitte, stellte einen Mann dar, der kopfüber, die Arme hinter dem Rücken, mit einem Bein an einem hölzernen Rahmen aufgehängt worden war, das andere, linke, kreuzte er beinahe anmutig hinter dem festgebundenen Bein. Ganz rechts in der Reihe lag das Bild einer Frau, auf einem Thron sitzend, mit einer Papsttiara auf dem Kopf, einen Stab in der rechten Hand, ein Buch in der linken auf ihrem Schoß. Nachdenklich betrachtete mein Gastgeber diese Zeichnungen, deren kunstfertige Ausführung ich bewunderte.
"Ich habe diese Bilder aus Ferrara mitgebracht, es ist ein Spiel, wie es dort und anderswo an vielen Höfen gespielt wird, zur Unterhaltung der Gesellschaft. Ich habe aber auch davon gehört, dass man es, wie übrigens alles andere, zur Zukunftsprognose benutzen kann, zur Diagnose. Ich will wissen, was dein Leben ausmacht, weil ich wissen will, ob du für mich von Nutzen sein kannst. Was hältst du davon? "
"Ihr habt recht, man kann in allem Zeichen sehen, Vorbedeutungen, nur muss man dazu einen Bedeutungsschlüssel haben, durch den man sich das einzelne Zeichen erschließt, und diesen Schlüssel besitze ich für dieses Spiel nicht, ich sehe es zum ersten Mal."
"Dann lass es mich dir erklären... Du siehst vor dir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was hinter dir liegt, was jetzt ist, was dich künftig bestimmt. Der Turm liegt in deiner Vergangenheit, die Zerstörung, das Herausfallen aus einer vermeintlichen Sicherheit, ein Herabgeschmettert werden. Deine Gegenwart ist die des Aufgehenkten, manche sagen am Opferbaum, andere meinen als Verräter am Stadttor, wie es in Italien mit den Bildern von Überläufern üblich ist. In deiner Zukunft taucht die Päpstin auf: Frau und höchste geistige Autorität - ein ketzerischer Gedanke. Dieses Blatt zeigt eine Ahnin der Viscontis, Manfreda, die von den Wilhelmiten als verkörperter Heiligen Geist zum Papst ausgerufen und als Hexe verbrannt worden ist. Was sie für dich bedeutet, wird die Zukunft zeigen, ich kann es nicht deuten. Aber was zeigt die Gegenwartskarte an? Für dich? Für uns beide? Eine Erkenntnis, dem Opfer abgerungen? Einen Verrat? Ich möchte auf das erstere setzen. Möchte auf dich setzen, darauf, dass du mir bei meinem Werk helfen kannst. Mit deiner Errungenschaft, deinem Wissen, durch Lebensopfer erlangt. Wirst du mir helfen?"
Zurückhaltend fragte ich: "Bei was?"
"Nun, bei einer magischen Beschwörung natürlich. Ich wollte, die Bilder hätten den Magier gezeigt, dann wäre alles klar gewesen, aber diese Zeichnung erlaubt es auch, an Unterstützung dafür zu glauben. Willst du mir helfen?" Eindringlich fragte er mich nochmals. "Du bist ein Wissender, ich kann es erkennen, nicht nur wegen der Bilder, verbirgst mehr als du zeigst, aber hier musst du dich nicht verstecken, aus Angst davor, als Hexenmeister angeklagt zu werden."
Immer noch vorsichtig sagte ich: "Ich weiß tatsächlich einiges, vieles, was der abergläubische Bauer oder der halbgebildete Kleriker als Zauberei ansehen würde- aber es ist Naturphilosophie, ist natürliche Magie, ist hermetische Erkenntnis. Und weiß im Grunde immer noch zu wenig darüber..."
"Was ist mit Beschwörungen", unterbrach er mich.
"Ich kenne Bücher darüber, habe Texte gelesen, den Picatrix, Abano, Trithemius, Agrippa, wollte aber bis jetzt nicht damit arbeiten, hatte auch keine Gelegenheit dazu..."
"Hier hast du diese Gelegenheit, du kannst es für mich tun, ich gebe dir was du willst und brauchst, um dich darauf vorzubereiten."
Er stand auf, ging zu einem verschlossenen Schränkchen in der Ecke der Stube, fingerte eine feine Goldkette mit einem kleinen Schlüssel aus seinem Hemdkragen und schloss auf.
"Diese Schrift hier gibt die Anleitung dazu. Du kennst sie?"
Ich las den Titel "Abraham von Worms Buch der wahren Praktik in der uralten göttlichen Magie und in erstaunlichen Dingen, wie sie durch die heilige Kabbala und durch Elohym mitgeteilt worden".
"Ich habe davon gehört. Gesehen oder gelesen habe ich die Schrift bisher nicht. Es ist ein geheimer Text."
"Ja, und ich habe ihn erworben. Mir fehlt aber das Verständnis für viele der Dinge, die darin erwähnt werden. Ich brauche jemanden, der sich mit mir in den Inhalt vertiefen kann, mehr davon versteht als ich. Und dich halte ich für so jemanden. Außerdem bist du nicht in der Lage, mir zu schaden, weil du selbst gefährdet bist. Du bist doch flüchtig? Als Hexenmeister? Vor kurzem war ich drüben in Lyon, dort habe ich ein Gerücht aufgeschnappt... "
"Ich war mit Gauklern unterwegs", protestierte ich, "war der Charlatan, das sind Tricks, aber doch keine Zauberei... "
"Ja, aber seit wann? Schon immer? Du brauchst nicht darauf zu antworten. Sage mir nur, ob du mir bei meiner Unternehmung helfen willst."
Ich nickte stumm. Hatte das Gefühl, das mir nichts anderes übrig blieb.


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