GNOSISROMAN: DER WEG DES ALCHEMISTEN
(Ein Fragment)
Inhalt:
Zu spät + Flucht + Wohin? + Nach Süden + Ketzerei + Gutmann + Cathérine + Beschwörung + Venedig/Postels Sophia + Am Ziel/Am Ende + Epilog
Epilog
Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, den Aufgang der Sterne zu erleben. Draußen im öden Steppenland, auf einer kleinen Erhebung, zwischen Feldsteinen, die mich ein wenig gegen die auskühlenden Nachtwinde abschirmen und mir das Gefühl geben, vor umherstreifenden wilden Tiere geschützt zu sein, sitze ich still und erwarte die Nacht, die sich rasch und in aller Pracht einstellt. Warte, bis die Dunkelheit alles Sichtbare um mich herum ausgelöscht hat, nur noch schattenschwarze Silhouetten die nördlichen Hügel und Berge andeuten, umso stärker aber die strahlenden Lichter der Sterne sichtbar werden.
Viel stärker und viel näher, als ich es von meinen früheren Nachtwachen im Turm (in jenem längst vergangenen Leben) gewohnt gewesen war. Die vertrauten Zusammenstellungen erscheinen, tröstliches Bild der Konstellationen, die den nachtdunklen Himmel erfüllen und ihn mir zur Heimat werden lassen. Jeder Sternenpunkt ist mir wie ein Freund, in all dem stillen Gewimmel fehlt niemand, den ich je entdeckt habe, und manchmal kommen neue, vorher noch nicht gesehene Freunde dazu. Ich fühle mich durch ihr Dasein angezogen, meine, ganz unterschiedliche Qualitäten ausmachen zu können, je nachdem ich mich an diesen oder jenen strahlenden Lichtpunkt wende, meine, emporgehoben zu werden, in ihre Richtung getragen zu werden, je mehr ich mich ihrem Glanz öffne.
Die ganze Sphäre dreht sich langsam um den Himmelspol, während ich sitze und betrachte. Die sichtbaren Planeten, quecksilbriger Merkur, rötlicher Mars und hellglänzender Jupiter, unterqueren auf ihren Bahnen diese Sphäre, ihren eigenen Tanz ausführend. Und meine Gedanken gehen noch über dieses herrliche Schauspiel hinaus, voller Sehnsucht, jenseits dieser sanften Dunkelheit ein noch herrlicheres Leuchten zu finden, einen noch größeren Glanz, als es die Sterne mir zeigen können, nur wie als Vorgeschmack und Versprechen davon.
Meine Seele will sich aufmachen, hochschwingen, um die Sphäre der Lichtpunkte zu durchstoßen und in eine immaterielle Welt vorzudringen, die freilich meine Augen nicht erblicken können, nur mein Geist - aber meine Augen finden im Anblick der Sterne das ihnen Gemäße, den Augentrost, den ich brauche, um meiner Seele bestätigen zu können, dass es diese Übersphäre gewiss gibt. Das ist meine Andacht, zwischen den Steinen, abseits des Ortes, in der kargen, baumlosen Landschaft Assyriens, weit weg von den sanftgeschwungenen, dichtbewaldeten, wasserumflossenen, von Frühnebeln taubefeuchteten, grünenden Hügeln meiner kindheitserinnerten Heimat Burgund.
Ich werde nicht wieder in den Westen zurückkehren, das spüre ich - mein Leben wird sich auf irgendeine Weise hier erfüllen, am Endpunkt meiner Reise. Meiner Pilgerfahrt.
Alter, Krankheit, Tod - diese drei Mächte werden mich nicht aus ihrer Gewalt entlassen. Ich werde sie nicht überwinden können, wie ich einmal dachte - den Traum träumend, der jeden Adepten umtreibt, ihn sich auf die mühselige Suche begeben lässt, sich auf ein so langwieriges Werk einlassend. Den Stein wollte ich erzeugen, wusste aber und weiß bis heute nicht, ob es ein wirkliches Artefakt ist, mit einer leiblichen Einwirkung, oder eher ein geistiges Wirken in mir, die Umwandlung meiner Seele in ein göttliches Wesen, goldschimmernd in der Sicht des Weisen.
Beides habe ich verfehlt, trotz meiner Bemühung. Ich werde lernen, was ich hier lernen kann, annehmen, was mir angeboten wird, vielleicht sogar dadurch Frieden finden - ich hoffe für mich, dass ich inneren Frieden finden kann. Und das ich das Licht in mir nicht weiter verdunkeln, sondern es gesammelt, geklärt und verstärkt zurück in seine Heimat bringen werde, als Zusammenfassung meines Lebens.
Zwingen die Archonten mich wieder in eine neue Existenz, möchte ich nicht dieselben Fehler machen müssen wie in dieser. Ich möchte mich erinnern können, möchte für mich selbst, für diese jetzige Existenz aufwachen, die Augen öffnen und mich sehen können, wie ich war. Dieser eine schreckliche Augenblick, der mein Leben zerstört hat, sollte genügend psychische Energie in sich haben, um überstark in ein neues Leben durchzuschlagen, ein Bild prägend, in dem ich mich selbst wiedererkennen werde.
Wenn mein lebenslanges Bemühen um Klärung und Verstärkung meiner Seelenkräfte, Stufe um Stufe, getreu den Anleitungen der Vorgänger im Opus Magnum nachvollzogen, nicht zu diesem Ziel führen kann, was habe ich dann überhaupt erreicht?
Kontinuität des Bewusstseins - ist das die Antwort auf die Frage nach der Überwindung des Todes? War das mein Ziel, das geheime Ziel hinter den Anweisungen zum Werk, zur Einübung in einen Zustand, der durch Trennen und Lösen, durch Verwesung und Neuschöpfung im Wasser des Lebens erreicht wird, ein Bewusstseinszustand, der ein neues Leben bedeutet, in dem ich in neue Erfahrungsbereiche gehoben werde, die mir ohne diese Mühen nicht zugänglich wären?
Bedeuten dies die Worte aus der smaragdenen Tafel des Hermetis: "Dieses steigt von der Erde in den Himmel, und vom Himmel steigt es wiederum herunter in die Erde und bekommt die Kraft und Wirkung der Obern und Untern. Auf solche Weise wirst du erlangen die Herrlichkeit der ganzen Welt. Dadurch wirst du von dir abtreiben alle Dunkelheit und Blindheit."?
Ist das Ziel der hermetischen Kunst erst im Tode realisierbar? Hier kommt mein Fragen an eine Grenze, von der ich ehrlicherweise zugeben muss, sie nicht überschreiten zu können. Keine Philosophie, der ich begegnet bin, keine magische Handlung, die ich ausgeübt habe, keine Glaubensüberzeugung, die ich angenommen habe, führen mich darüber hinaus. Sie führen mich darauf zu, deswegen setze ich auf sie. Und das muss mir genügen.