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GNOSISROMAN: DER WEG DES ALCHEMISTEN
(Ein Fragment)


Inhalt:

Zu spät + Flucht + Wohin? + Nach Süden + Ketzerei + Gutmann + Cathérine + Beschwörung + Venedig/Postels Sophia + Am Ziel/Am Ende + Epilog



Flucht

Mein erster wirklicher Gedanke nach kopfloser Flucht in die Weite war, mir irgendwo einen versteckten Schlafplatz für die Nacht zu suchen, als Schutz vor wilden Tieren und dem Unheimlichen, das die Dunkelheit außerhalb der bergenden Mauern eines Hauses für mich bereithalten mochte - mich fröstelte bei dem Gedanken an Widergänger oder andere unfreundliche Wesen, die sich dort draußen umtreiben sollten - dem Draußen, dem ich jetzt ausgeliefert war. So kauerte ich mich in den Schutz eines Haselnussgehölzes, zusammengekrümmt niedergelegt unter einer Abwehrsperre aus grünenden Ruten, hoffend, das Elementar des Strauches möge mich beschützen, wie ich es bei Paracelsus gelesen hatte (alles was ich über diese Dinge wusste, hatte ich aus Büchern).
Aber ich konnte nicht schlafen, die unbequeme Lage und das Entsetzen, das sich wie ein innerer Sturm erhob, mich überfiel, wenn immer ich die Augen schloss, spannten meinen Körper schmerzhaft an, verkrampften ihn, verwehrten mir das lösende Entkommen in den Schlaf. Es dämmerte schon, Taufeuchte lies mich frieren, als ich dann doch noch einnickte, um, wie es mir schien, kurz danach wieder aufzuschrecken.
Der Morgen war schon fortgeschritten, ich erhob mich steif, meine Blase drängte zur Entleerung, ich war hungrig. Und mein ganzes Elend überkam mich erneut. Was sollte ich tun? Wohin sollte ich gehen? Zurück konnte, durfte ich nicht, nicht wenn ich am Leben bleiben wollte. Wollte ich überhaupt? Nicht wirklich - aber ich fürchtete mich vor der Erniedrigung, den Schmerzen der peinlichen Befragung, dem Ungeheuerlichen des Verbrennens bei lebendigen Leibe.
Was dann? Mir fiel nichts weiter ein, als dass ich zuerst nach Dijon gehen musste, um mir, bevor mich Gerichtsbüttel aufspüren konnten, meine Gutschrift aus der diesjährigen Weinlieferung auszahlen zu lassen, die erst vor zwei Wochen von dort wie immer nach Lyon verfrachtet worden war, durch einen alten Handelsfreund meines Vaters. Was weiter dann geschehen sollte wusste ich nicht.

Während meiner Wanderung dorthin, oft nur wie traumverloren Schritt vor Schritt vor mich hinsetzend, ohne Auge für die Gegend oder irgendetwas auf meinem Weg, andrerseits bereit, bei irgendeiner Bewegung auf der Strasse vor mir sofort ins Gebüsch zu flüchten, um einer Begegnung auszuweichen, quälten mich nicht nur die nicht wegzuschließende Erinnerung an das Geschehen, auch das Bedauern über mein Verhalten ihr gegenüber lastete auf mir, und noch etwas anderes ließ meine Gedanken nicht los: das, was im Urteil über ihr Geständnis gesagt worden war. Sie hätte sofort auf gütliche, nicht einmal peinliche Befragung gestanden, von einem Dämon verführt worden zu sein und mit ihm Umgang gehabt zu haben. Warum? Was war an diesem Geständnis? Jahre später noch schämte ich mich dieser Gedanken, nachdem ich tiefer darüber nachgedacht und auch durch Therese näheres erfahren hatte, aber unmittelbar unter dem Eindruck der Anklage, die gegen sie erhoben und wegen der sie verurteilt worden war, konnte sich mein Grübeln nicht von diesen zweifelnden Fragen lösen. Es beschäftigte mich unterschwellig die ganze Zeit.
Ein Geständnis war vorgelesen worden, protokolliert vom Amtschreiber, gemacht in Anwesenheit des königlichen Hexenkommissars und anderen Amtspersonen und damit gültig. Sie hatte gesagt, dass sie draußen vor der Stadt einen schwarzgekleideten Mann getroffen hätte, er hieße Grünfeder, der sie dazu gebracht habe, Gott abzuschwören, da der wahre Herr und Schöpfer der Welt der Demiurg Abraxas sei, sein Meister, und als Besiegelung ihres Einverständnisses wäre er ihr von hinten aufgeritten, mitten zwischen den Rebstöcken, sein Glied sei aber besonders groß und dabei eiskalt gewesen, und danach habe er ihr mit seinem Daumennagel das unsichtbare Taufmal auf der Stirn abgekratzt, sie habe davon geblutet, des weiteren hätte er ihr zwei Gefäße gegeben, eines mit Pulver zum Schaden, eines mit Pulver zur Aufhebung des Schadens. Sie sei aber noch nicht dazu gekommen, das Schadenspulver zu benutzen; auch wäre sie nie beim Sabbat gewesen, da die Zeit dazu noch nicht gekommen wäre. Sie würde bereuen, sich mit dem Mann, der ein Dämon war, wie sie jetzt glaubte, eingelassen zu haben, ihre schwache weibliche Natur hätte sie dazu verführt, ihr Ehemann hätte nichts damit zu tun, er wüsste nichts davon.

Wie mir später Therese erzählte, hatte der Hexenkommissar daraufhin den Fall sofort als den seinen beansprucht und ohne weitere Absprache mit dem Bischof, der für Häretiker zuständig war, oder dem städtischen Gericht, vor dem eine ordentliche Anklage hätte erhoben werden müssen, die Sache durch das freiwillige Geständnis für ausreichend bewiesen erklärt und den Schuldspruch gefällt, der schon am nächsten Tag vollzogen wurde.
Was ich nicht verstehen konnte, war ihre eifrige Bereitschaft zum Geständnis, ohne wirklichen Zwang dazu, ohne peinliche Befragung, sie überraschte alle damit, da niemand derartiges von ihr erwartet hatte; warum sagte sie so etwas? Und sogar nach diesem Schuldbekenntnis wäre vor einem normalen Gericht noch nicht alles verloren gewesen, es wäre in einer richtigen Verhandlung doch sicher ihre Unschuld bewiesen worden?
Der Stadtschreiber, ein alter Freund meines Vaters, hätte ihr sicherlich gut zugeredet und sie nochmals befragen, nochmals schwören lassen wollen, dass das, was sie gesagt hatte, auch wirklich so gewesen wäre...und dann hätte sich doch alles geklärt, hätte sich die Anklage und das Geständnis als hysterische Aktion und Reaktion im Lichte der Vernunft in Nichts aufgelöst, weil da nichts gewesen war...oder?
Warum hatte sie das alles erzählt? War es vielleicht doch so gewesen? Diese Frage quälte mich ebenso wie mich die Erinnerung an ihr schreckliches Ende auf dem Holzstoß quälte: was war Real an dem, was sie gestanden hatte? Im Nachhinein schäme ich mich wirklich, an ihr so gezweifelt, mich ernsthaft gefragt zu haben, ob sie nicht doch im Geheimen ein Hexenverhältnis gehabt haben könnte - meine sanfte, schüchterne, zarte Suzanne, in sich gekehrt, fantasiebegabt, doch auch ängstlich, voller Furcht vor den Alpträumen des Lebens, schutzbedürftig, sich bereitwillig der Autorität des Vaters, des Ehemannes, des Richters unterwerfend - alles das, aber doch keine bösartige sich verstellende Hexe.
Und doch: wie kam sie zu dieser Aussage, dass er sie von hinten genommen hatte? Sie war behütet gewesen, bis sie zu mir kam, selbstverständlich Jungfrau, körperlich und in ihrem Wesen; sie kannte nur mich als Mann, durch mich kam sie mit solchen Dingen nicht in Berührung, wusste auch ich doch zuwenig darüber, hielt mich ebenso in meiner Fantasie frei davon - ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein solcher Gedanke in ihr gelebt hatte.
Ich hätte nicht gewagt, ihr dieses Spiel vorzuschlagen, aus Scham, und aus Angst, sie zu beschämen - was ich über die Variationen der Begattung wusste, hatte ich in Montpellier im Badehaus gelernt, die Frauen dort waren sehr erfahren und lehrten mich, wie man eine Frau bedienen und unterhalten konnte, aber nicht alles davon habe ich bei ihr auch angewendet. Wollte sie nicht damit belästigen, wollte sie nicht als Dirne behandeln.
Hat sie sich im Geheimen danach gesehnt, so behandelt zu werden? Genommen zu werden, im Teufelsritt gestoßen zu werden? Was ich vermied, was ich für Sünde hielt, weil es die Kirche so sagte. Und dieses geheime Fantasieren, brach es dann aus ihr heraus, in der Bedrängung, Sünde gestehen zu sollen, indem sie Sündiges erfand, Vorgestelltes für wirklich geschehen erzählte? Oder war alles wirklich so gewesen?
Wird man den vertrautesten Menschen jemals ganz und völlig verstehen, ihn durch und durch kennen? Oder gibt es immer Provinzen in ihm, in die man niemals Einsicht genommen hat oder nehmen wird? Dieses eindeutig geschilderte Detail verstörte mich, beschäftigte meine Gedanken, beschädigte mein Gedenken an sie. Was sollte ich davon halten?

Therese berichtete mir, Suzanne hätte ihr in der Nacht vor ihrer Hinrichtung, als sie Gelegenheit hatte, ein letztes mal mit ihr zu sprechen, gesagt, es sei alles wie ein böser Traum gewesen, von dem Augenblick an, als die Menge in das Haus eingedrungen sei. Sie hätte dann auf Fragen geantwortet, die sie kaum gehört habe und als ob sie nicht diejenige sei, die da spricht, hätte nicht gewusst, warum ihr Mund diese Antworten geben würde; sie hätte große Angst gehabt - vor der Menge, dem Gericht, dem Hexenjäger, dem Gefängnis, das auf sie wartete, dem unerträglichen Schmerz, der ihr durch die peinigende Befragung drohte.
Sie hätte nur weglaufen wollen und es nicht können. Sie hätte ein Ende machen wollen. Es abkürzen. Sie wäre wie betäubt gewesen und hätte deswegen alles gesagt, was sie geglaubt hatte, das der Hexenjäger es hören wolle.
Aber woher kam ihre Geschichte?


Weiter nächstes Kapitel: Wohin?





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