GNOSISROMAN: DER WEG DES ALCHEMISTEN
(Ein Fragment)
Inhalt:
Zu spät + Flucht + Wohin? + Nach Süden + Ketzerei + Gutmann + Cathérine + Beschwörung + Venedig/Postels Sophia + Am Ziel/Am Ende + Epilog
Nach Süden
Im Herzen des großen Werkes findet man die Anweisung, alles Bestehende aufzulösen, in Verwesung übergehen zu lassen, um im Chaos der vollkommenen Zerstörung den Neubeginn, die Geburt der neuen Sonne möglich zu machen. Das akzeptiere ich als Regel des Werkes, als notwendigen Prozess: ohne zerbrechende Fragmentierung keine neue Gestalt. Osiris muss zerstückelt werden, um in Isis wieder aufzuerstehen. Das akzeptiere ich als allgemeingültigen Satz. Aber ich konnte diese Regel nicht für mein eigenes Leben akzeptieren, konnte mich nicht damit abfinden.
Warum diese Zerstörung? Was sollte sie bewirken, welche Erneuerung bringen? Mein Leben danach war nicht verjüngt, nicht vollständiger, nicht verbessert. Es war vernichtet und erholte sich nie wieder von diesem Vernichtungsschlag. Mein Leben danach war nicht mehr mein Leben. Und wenn mein Weiterexistieren mich vielleicht auch tiefer in die Erkenntnis des Unsichtbaren geführt hat, so kommt mir dieses Wissen doch wertlos vor. Nichtig. Ich würde es sofort in die Idiotie eines harmlosen Glücks mit ihr eintauschen. Eines harmlosen Glücks, das ich vorher nicht schätzte, und um das ich, weil mir verloren, ab diesem traumatischen Augenblick trauerte.
Nie mehr war es so wie davor. Davor - danach. Das war der Scheidepunk. Alle folgenden Zeiten erlebte ich nach dem Maß des allmählichen Entfernens von diesem Ereignis, immer darauf bezogen. Ich war in die Welt des Demiurgen gefallen, in seinem Reich konnte es kein harmloses Glück geben, keine Unschuld und keine Freude daran.
Vorher war ich erregt von der Ahnung tiefer Geheimnisse gewesen, vom Wissen können und immer weiter lernen, danach war es nur das Graben eines Verzweifelten, der verschüttet worden war und um seines Überlebens willen den Durchbruch ins Freie schaffen muss. Ich wühlte mich tiefer und tiefer in Gedanken und Vorstellungen, Formeln und Praktiken, aber nicht mehr aus Freude am Wissensspiel, sondern getrieben von dem Entsetzen über die Situation in der ich mich fand. Geworfen ins Leben. Wie ein Wurf von Welpen, bestimmt dazu, erschlagen oder ertränkt zu werden, weil überflüssig und nutzlos für den Herrn. Wissen sollte mir nun helfen, aus dieser Lage herauszufinden. Wissen war Erlösungswissen geworden. Aber bis heute gibt es keine wirkliche Erlösung - und damit kein wirkliches Wissen.
Was ich stattdessen herausfand war die Möglichkeit und auch Fähigkeit, mit geheimnisandeutenden Worten Eindruck auf andere zu machen und damit etwas zu erreichen. Aufmerksamkeit zu bekommen, Unterstützung, einen Schlafplatz, eine warme Suppe. In der ersten Zeit meines Wanderlebens konnte ich mich so als Horoskopdeuter und Mantiker über Wasser halten, immer bereit, meine Sachen zu packen und zu verschwinden, sobald jemand misstrauisch auf mich aufmerksam wurde und Anstoß nahm. Ich wollte keinem Hexenjäger in die Hände fallen, war darauf ingestellt, sofort weiterzuziehen, wenn sich Schwierigkeiten andeuteten.
Natürlich konnte ich auf diese Weise nicht viel gewinnen. Dazu hätte ich mich etablieren, vielleicht einen reichen oder adligen Gönner finden müssen, der sich ein Beispiel am Hof nahm, man sagt, dass dort Magier und Wahrsager ein- und ausgehen, aber ich war nicht so bekannt wie etwa der berühmte (und berüchtigte) Agrippa mit seinen schwarzen Pudelhunden, von dem und denen in Lyon immer noch erzählt wird, obwohl inzwischen weit mehr als zehn Jahre vergangen sind, seitdem er sich am damaligen Damenhof von Lyon aufgehalten hatte, im Dienste der Königsmutter. Und auch sein Beispiel konnte mir nicht viel Mut machen, denn besonders gut erging es ihm mit der Königsmutter nicht, starb er doch an den Folgen seiner durch sie veranlassten Einkerkerung vor einigen Jahren in Grenoble. Also stolperte ich von einem Provisorium ins nächste, immer der argwöhnisch beäugte Fremde, immer der verachtete Besitzlose.
Ich wusste nicht so recht, wohin ich gehen sollte, wollte mich anfangs nur verbergen und unauffindbar machen, aber irgendwann stellte ich fest, das ich ständig Richtung Süden gezogen war, weg aus der Gegend, in der man etwas über mich wusste, in der ich oder mein Vater bekannt war, aber doch noch immer durch einem mir nicht ganz unbekannten Landstrich; auf meiner Fahrt zum Universitätsstudium in Montpellier, damals, in jenem in die Vergangenheit verbannten anderem Leben, war ich auch hier vorbeigekommen, aufgeregt- neugierig auf das Unbekannte, jeden neuen Eindruck begrüßend - wie anders heute!
Und auch meine zweite Fahrt durch diese Landschaft war in einer anderen Stimmung erfolgt, auf der Rückreise von den Orten meiner Ausbildung zum Arzt und meinem Studium der alten Sprachen und hermetischen Künste, welches mich über ein Jahrzehnt von Zuhause ferngehalten hatte, in die inzwischen fremdgewordene Heimat, - halb noch in Gedanken bei dem Leben dort und den Freunden, die ich verlassen musste, halb in besorgtem Nachsinnen darüber, was mich wohl nach dem Tod meines Vaters (meine Mutter war gestorben, als ich noch ein Kind war, bei der Geburt eines kleinen Bruders, zusammen mit diesem) in dem leeren Haus erwartete, meinem Erbe, welches ich nun übernehmen wollte - herausgerissen dadurch aus einem begeistert betriebenen langwierigen Studium, das fortzusetzen ich aber vorhatte.
Die erste Fahrt schien mir wie ein Aufbruch ins Abenteuer, in Ungewissheit, was mich wohl erwartete, neugierig und voller Vorfreude auf den neuen Ort, auf Begegnungen, auf das Lernen. Die zweite Fahrt war eine kummerüberschattete Rückkehr an den Schauplatz meines Aufwachsens, gleichzeitig die Reise in einen neuen Lebensabschnitt, Trauer und Hoffnung gemischt. Aber die jetzige Fahrt, in derselben Landschaft, entlang des immer breiter und tiefer werdenden Flusses, war ein furchterfülltes Flüchten, gehetzt von dem Schrecken, der sich in meine Erinnerung eingebrannt hatte, durch Feuer, durch Rauch, durch tödliches Verstummen am Ende, schmerzvolles Stumm sein, das alles wie nicht wirklich, wie in einem Alptraum erschienen ließ.
Den das Jammern, die Schreie, das Wimmern, das in meinen Ohren noch nachhallte, an das ich mich erinnerte, war in Wirklichkeit gespenstische Stille gewesen, sie wurde ja wie schon nicht mehr lebendig auf die Richtstätte geführt, in ihrem Arm ein totes Kind, im letzten Schweigen erstarrt - der Henker erdrosselte sie gnädigerweise, bevor der Holzstoß angezündet wurde, zwei Leichen wurden zur Fackel gemacht, nur das aufgeregte Murmeln der Gaffer und das prasseln der Scheite war zu hören - warum gellen in meiner Erinnerung noch immer die Schreie einer Gemarterten?
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Den Savoyarden begegnete ich eine Tagesreise nach Lyon. Ich hatte vermieden, die Stadt zu betreten, obwohl alle Wege darauf zuführten, ich mich quer übers Feld und durch die Wälder mühen musste. Zu unsicher fühlte ich mich in Gebieten der französischen Krone; weniger auf dem Land, zwischen den einfachen Menschen, die ihrer mühseligen Arbeit nachgingen und sich um wenig anderes kümmerten, als in den größeren Ortschaften und Städten, in denen sich Nachrichten schnell verbreiteten und eine Suchmeldung mich Fußgänger überholen konnte. Allmählich machte ich mir doch Gedanken darüber, was ich wollte, wohin ich wollte, wie ich mir ein Leben auf der Flucht oder im Exil vorstellen sollte. Vorerst hatte ich jedoch keinen Plan, außer dem, auf der Strasse zu überleben, das war kräftezehrend genug, gab mir wenig Gelegenheit zum Nachdenken.
Ich war es nicht gewohnt, ohne Mittel und genügend Verpflegung auszukommen, das Leben eines Vaganten zu führen, wie einige meiner Studentenfreunde es zeitweilig mussten, die durch diese harte Schule lernten, sich schnorrender Weise durchzuschlagen. Nun war ich auf das angewiesen, was ich mir erbetteln oder erreden konnte, was auf dasselbe hinauslief, auch wenn ich als Astrologe oder Wahrsager aufgenommen wurde - deshalb war ich froh, als ich in den Savoyarden eine Gruppe fand, die mir erlaubten, mich ihnen anzuschließen, und mir sogar einen Part in ihrem Auftritt anboten.
Ihr Wahrsager und Heilkundiger war im Norden, in Brabant, an der Ruhr gestorben, jetzt waren sie auf dem Weg in ihre Heimat zurück, um seine wenigen Habseligkeiten einer (wie sie mir achselzuckend erklärten) wahrscheinlich wenig trauernden Witwe zurückzubringen und einen Nachfolger zu finden.
Es waren eine Frau, Marie, und drei Männer, einer davon ihr Cousin; von den anderen war ich mir nicht sicher, welcher der beiden ihr Liebhaber war, wahrscheinlich spielte sie beide je nachdem gegeneinander aus, jedenfalls schienen sie sich arrangiert, ein Beziehungsgleichgewicht ausbalanciert zu haben, ohne Eifersucht und Hahnenkämpfe, und auch wenn sie mit jemanden aus dem Dorf, in dem wir Station machten, im Wald verschwand, schien es beiden nichts auszumachen, teilten sie doch zu dritt den Gewinn, oft nur Eier oder ein kümmerliches Huhn.
Sie fragten mich, nachdem wir Namen und Absichten ausgetauscht hatten, ob ich mich nicht ihnen auf dem letzten Abschnitt ihrer Reise in die Heimat anschließen und ihre Aufführung komplettieren wollte - ohne die Figur des Charlatans fühlten sie sich als Gruppe unvollständig. Mein Vorgänger konnte nicht nur Zähne ziehen, sondern auch Jonglieren, was ich beides bis dahin nicht praktiziert hatte, aber sein buntes grellgelb - rotes Gewand, sein Barett mit der langen Feder, die anzeigte, dass er auch Briefe für seine Kunden verfassen konnte, passte mir einigermaßen, und so schlüpfte ich nicht nur in eine fremde Kleidung, sondern auch in eine neue Identität, was mir ein Teil der Last nahm, entdeckt und eingefangen zu werden.
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