Architexxt



GNOSISROMAN: HELENA


Inhalt:

Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog



Der Guru

Pascal B. Randolph begann auf seine Art, die Sexualität in den Diskurs der modernen Initiationswege einzuführen, nachdem er in Syrien eine prägende Erfahrung mit einer Frau hatte, die ihn während des Geschlechtsaktes in die geheimen Praktiken ihrer Tradition (nach seinen Angaben die der Nusairier) einweihte. In dem System, das er daraus entwickelte und das ganz auf der Bi-Polarität der Geschlechter und allen Seins aufgebaut war, auf Plus und Minus, Rot und Blau, war die Frau zwar auch nur notwendiges Ergänzungsmittel zur Weiterentwicklung der Kräfte des Adepten, aber Randolph bestand darauf, dass sie Partnerin war, Geliebte, dass sie nicht unbeteiligt am Geschehen war, sondern als gleichwertiger Pol behandelt wurde. Der Mann sollte keine Frau berühren, wenn er nicht bereit war, sie (mindestens 3x!) zu befriedigen…
Bei Crowley liest sich das anders. Er holte sich die Frauen, die er zu seinen magischen Bewusstseinsexperimenten brauchte, wenn nötig von der Strasse. Er benutzte sie. Auch ihm war die Qualität des Geschlechtsverkehrs wichtig, aber mehr in Bezug auf das Sekret, das er dabei herstellte, die Mischung aus männlichem Samen und Vaginalflüssigkeit der Frau. Dessen Konsistenz, Farbe und Geruch interessierte ihn, seine Beschaffenheit, sie war für ihn Indikator eines guten oder weniger guten Verkehrs. Das Ergebnis hielt er in seinen Tagebüchern als Resultat seines Versuches fest.
Die Gefühle oder gar das Verständnis der Frau war ihm dabei nicht wichtig, diese war Mittel zum Zweck des Adepten, der im Übrigen auch mit sich allein (oder mit einem anderen Mann) die heilige Handlung vollziehen konnte. Es kam ihm, wie auch Randolph, neben der die Lebenskraft verkörpernden Substanz auch auf die Energiesteigerung und -explosion an, die im Geschlechtsakt stattfindet und die er als Öffner für Bewusstseinserweiterungen nutzte, als Transformationsenergie, Transmissionsmittel, als verstärkte Energiezufuhr für magische Prozesse und Evokationen.

Ist es nicht vorstellbar, wenn man eine Linie von Randolph zu Crowley zieht, dass jemand bereit ist, auf dieser Linie weiterzugehen, über Crowley hinaus, und nicht nur den Geschlechtsakt als Mittel zur Steigerung der eigenen magischen Kräfte benutzt, sondern auch andere grundlegende Empfindungen (was allerdings auch schon Crowley getan hatte), welche starke Kräfte der Psyche freisetzen und die im Verbund mit der Sexualität auftreten können, wie: Demütigung, Unterwerfung, Schmerz, Todesangst?
Psychische Energie (als Konzept vorausgesetzt), gibt, wenn man bereit ist, sie zu erzeugen und sie für sich einzusetzen, sowohl die gesteigerte Lust wie der unerträgliche Schmerz: Warum sollte es nicht jemand geben, der diesen Weg wählt? Es wird immer jemand da sein, der irgendein Extrem der menschlichen Möglichkeiten realisiert, allein dadurch, dass es so viele Menschen gibt und jede mögliche Verhaltensweise durchdekliniert werden wird: Was möglich ist, wird auch irgendwann getan werden. Noch wahrscheinlicher wird diese Handlung allerdings dann, wenn sie nicht abseits-abwegig als Singularität erscheint, sondern in einem wie auch immer beschaffenen kulturellen Rahmen Sinn macht, sie sich als notwendig zeigt - auch wenn dieser Rahmen selbst für die Mehrzahl der Gemüter abseitig und unwahrscheinlich ist...
Die Hinweise des Malers auf die Herkunft des selbst geschaffenen Glaubens des Gurus von Randolph über Crowley machte mir zu schaffen: Was war die Rolle Ellens in dessen Spiel?

Denn das Bild, das ich von Ellen hatte, wie ich sie sah und erlebte, konnte ich schwer mit dem in Übereinstimmung bringen, was ich vom Maler nach und nach über den Guru und dessen Einstellung erfuhr - doch vielleicht war es ja nur der vorurteilsbeschädigte Blick auf einen Konkurrenten, den er mir vermittelte. Dieser war nicht da, konnte mir nicht seine Sicht der Dinge erklären oder verteidigen - manchmal allerdings bekam ich durch Ellen eine überraschende Einsicht in seinen konzeptionellen Hintergrund, die meine naiven Annahmen auf den Kopf stellten. So habe ich gedacht, er wäre eine Art Sexmaniac, der für sich eine Möglichkeit gefunden hatte, seine Neigung durch eine Pseudoreligion zu verbrämen und auszuleben, wie viele selbsternannte Sektenführer etwa, die sich mit ihren Anhängern nach Südamerika zurückziehen, um dort unbehelligt von hiesigen Normen zu agieren.
Ellen klärte mich auf, dass er nicht sehr frei in seinem sexuellen Umgang mit ihr gewesen sei, er hätte sie selten und nie ganz unbefangen berührt, hätte, im Gegenteil, alle ihre Versuche, ihn spontane in Versuchung zu führen, abgewehrt (am Anfang ihrer Beziehung wollte sie ihn reizen, wollte ihre Macht über ihn austesten) - ihm dagegen war Sexualität Mittel für einen bestimmten Zweck, für den er sie reservierte. Man kann aber auch nicht sagen, er heiligte die Sexualität, dazu war sein Verhältnis zu ihr zu technisch bestimmt, zu manipulativ. Für ihn hatte Sex einen zentralen Stellenwert im Haushalt der verfügbaren Lebensenergien, mit gleichermaßen biologischen wie psychischen Aspekten, den er beachten und durch Rituale bekräftigen wollte.

Er suchte ein symbolisch aufgeladenes Leben, um ein mit Sinn erfülltes Leben haben zu können. Suchte sein Leben in ein Zeremoniell der Transformation umzuformen, ausgerichtet auf dieses Ziel - der Verwandlung der bloßen Existenz in ein Sinnbild. Als Verkörperung der großen Ordnung in Raum und Zeit. Und machte so auch aus der überall anzutreffenden sexuellen Anziehungskraft einen Kult um die Polarität, die zur Einheit führen wird. Überwindung der Sexualität (deren Voraussetzung die Spaltung in die Zweiheit ist) durch Sex war sein Programm - und Ellen sein Instrument dazu.
Der Geschlechtsakt, so gesehen, ist die uns mögliche Form der wiedergewonnenen Einheit. Das einen schwebenden Augenblick dauernde Symbol dafür. Für Biologen ist der Drang, der zum Koitus führt, nur ein Trick der Natur, die Weitergabe des Erbguts zu sichern, die Fortsetzung des Lebens. Für den Guru reichte diese Erklärung nicht aus. War zu eng gedacht. Genauso, wie die dabei eingesetzten biologischen Instrumente mehrere, nicht unbedingt miteinander verbundene Funktionen haben, war für ihn der ganze Komplex der Triebe, der Anziehungskraft, des sexuellen Aktes etwas, was von simpler biologischer Notwendigkeit bis in die Höhen esoterisch zu verstehender Weltdramatik reichte.
Wie für die antiken Hermetiker war ihm das, was auf der körperlichen Ebene existierte, Widerspiegelung des Ganzen, Wiederholung eines durchgängigen Prinzips (der Polarität) im Besonderen - wie oben, so unten. Dazu kamen weitere Vorstellungen, wie sie sich im Laufe der Zeit im tradierten Geheimwissen entwickelt hatten (ein von diesem Wissen Überzeugter würde sagen: Als Geheimnis weitergereicht worden waren). Das betraf den Einfluss der ausgeübten und der nicht ausgeübten Sexualität auf die innere Entwicklung, die Kraft, die aus der Askese gewonnen werden konnte, und die noch größere Macht, die aus der Beherrschung der Sexualkraft im Akt kam (im Grunde eine verschärfte Askese, da gleichzeitig das zu Vermeidende ausgeübt wird). Vorstellungen, die darauf hinausliefen, dass Sex eine Art Krafterzeugungsprozess war, Energiequelle, die angezapft werden konnte. Energie, die zu etwas anderem verwendet, sogar gespeichert werden konnte (wie es P. B. Randolph versucht hatte). Magische Energie.

Das machte aus einer rein persönlichen Beischlafbeziehung einen Pakt zur Herstellung besonderer Energiezustände, einen Bund zur Entwicklung umfassenderer Bewusstseinsebenen. Machte aus der intimen Beziehung zwischen Ellen und ihm etwas Überpersönliches, wie er es Ellen erklärte. Daher war bei ihm jeder Sexualakt die Zelebrierung eines wichtigen Ereignisses (er versuchte sogar, wie die mittelalterlichen Magier, die günstigste Stunde dafür mit Hilfe der Astrologie festzulegen). Was einerseits, durch die atmosphärische Vorbereitung darauf (Duftöle, Kerzenlicht, verschiedenfarbige Beleuchtung, anregend-stimmige Musik) eine sinnliche Verführungskraft entwickelte, der sie sich gerne öffnete und überließ, so dass sie den Funktionalismus, der dahinter stand, ignorieren konnte, andrerseits aber ihrer Lust an spontaner Zärtlichkeit und aufregenden Eskapaden entgegengesetzt war. Aber auf diese Weise vermittelte er ihr die Idee, dass Sex etwas ist, was eingesetzt werden kann, nicht nur für kurzfristigen, flüchtigen individuellen Lustgewinn da ist.
Seit ihrer Initiation in das, was zwischen den Geschlechtern vor sich geht (eine aufregende, neue Welt wurde dem Teenager über Nacht bewusst…), war sie, eher um der Wünsche der Männer willen als um ihrer eigenen, bereit gewesen, bei Gelegenheit auf diese Wünsche einzugehen, und hatte den Sex als eine Möglichkeit des Austausches und der Akzeptanz, der Egobestätigung und des Erfahrungsgewinnes erlebt - was er weiterhin für sie bedeutete, aber, durch den Guru angeregt, darüber nachzudenken, fing sie an, ihn auch als eine mögliche Geldquelle anzusehen, die reichlich zum Sprudeln gebracht werden konnte, wenn man es wollte und sich darauf verstand.
Er schlug ihr nicht vor, zwang sie nicht dazu, sich zu prostituieren, er wollte nur, dass sie sich, sozusagen als Medium seiner magischen Verrichtungen, weiterentwickelte, vielfältige Erfahrungen auf diesem Gebiet machte - einige davon inszenierte er für sie, indem er ihr Männer vermittelte, die sie in verschiedenen Rollen (die Unschuld, die Erfahrene, die Unersättliche) empfangen sollte, um mit ihm später darüber zu reden, eine bewusstseinsfördernde Nachbesprechung, mit ihm als Supervisor. Er wollte sie - wie ich unterstelle - zu seiner Helena machen, sie in seine Wiederaufführung des Mythos einbinden, indem er sie für diesen Part ausbildete, sie in die mythologische Metapher transformierte.
Nachdem sie entdeckt hatte, dass es ihr nicht schwer fiel, Sex mit einem eben noch Unbekannten zu haben, der sich ihr im Verlauf des Zusammenseins als Körper und auch als Person enthüllte (es gab aber auch Einzelne, die nichts von sich preisgeben wollten, weder durch intime Geständnisse, noch durch ein Stöhnen, noch durch den gestatteten Blick auf ihre Körper: Fast vollständig angezogen saßen sie auf einem Stuhl und onanierten stumm vor ihr -), und sie erlebte, dass die meisten sich um sie bemühten, ihr zeigen wollten, wie erregend und intensiv sie ihre Gegenwart empfanden, meinte der Teil in ihr, der pragmatisch, nüchtern und geschäftsmäßig war (der Guru nannte ihn: ihre männliche Seite), dass sie diese Aktionen ebenso gut in eigener Regie und nicht ohne den handelsüblichen finanziellen Ausgleich durchführen konnte.
Das Preisniveau war leicht zu ermitteln: Sie musste sich nur in der Sparte von billig zu haben bis exklusiv selbst einschätzen (in welcher Klasse sie mitspielen wollte) und den Versuch starten, ob die möglichen Interessenten auf ihre Vorstellung eingehen würden. Und sie taten es. Nicht jeder, der den Kontakt mit ihr aufnahm, aber genügend, um diesen Versuch zum Erfolg werden zu lassen. Mehr als sie gedacht, erhofft hatte. Genug, um ihr einen Lebensstandard in ganz anderen Dimensionen zu ermöglichen, als sie gewohnt gewesen war - was sie aber nicht im Mindesten interessierte.
Bis sie wusste, was sie mit dem damit verdienten Geld anfangen wollte, das sich nach und nach ansammelte, legte sie es auf ein Sparkonto beiseite, sich nur hin und wieder den Luxus leistend, einen schönen Gegenstand (eine Tasche, Schuhe, ein besonderes Kleid) einkaufen zu können, ohne über den Preis nachdenken oder sich woanders einschränken zu müssen. Zu diesem Konto hatte nicht nur sie Zugang, sondern auch der Guru, dem sie eine Vollmacht ausgestellt hatte - nicht, weil er nach belieben mit ihrem Geld umgehen durfte, hier zog sie den Trennungsstrich zwischen ihrem und seinem Leben, sondern, weil sie nicht wollte, dass, falls ihr etwas zustieße (ihre immer mitspielende untergründige Angst dabei), das Geld nicht als herrenloses Gut von der Bank kassiert, oder ihren Eltern als nachdenklich machendes Erbe übereignet werden sollte.
Und nun hatte der Guru es genommen - war damit verschwunden. Ohne weitere Erklärung. Ohne vorherige Ankündigung. Oder Bitte darum. Oder Streit deswegen. Sie wusste genug von seinen Plänen, um sich eine Vorstellung davon zu machen, wozu er es einsetzen wollte. Aber sie und er wussten, dass sie ihn bei diesem Vorhaben nicht so unterstützt hätte, wie er es gewollt und gefordert hatte. Und welches er nun wohl ohne ihre Einwilligung mit ihrem Geld irgendwo verwirklichte.
Ein lang bedachter, ihr oft enthusiastisch vorgetragener Plan, in den Westen oder die Mitte des Kontinents zu ziehen und dort ein Aktionszentrum für seine Mission, ein Refugium für Gleichgesinnte zu gründen. Aus irgendeinem Grund (sie dachte nicht darüber nach, aber es war ein hartnäckiges Widerstreben in ihr) hatte sie sich ihm in diesem Punkt verweigert. Sah sie nicht ein, dass ihm ihr Geld, durch persönlichen Einsatz zusammengekommen, selbstverständlich zur Verfügung stehen sollte, wie er es erwartete. Wollte ihn nicht als ihren Zuhälter ansehen und akzeptieren - und das hätte sie von ihm denken müssen, wenn er auf diese Weise von ihrer Arbeit profitiert hätte. Sie brauchte das Geld nicht zwingend für sich - oder für einen anderen, von ihr geheim gehaltenen Zweck - allerdings dachte sie an eine Art Alterssicherung, einen Grundstock für das Leben danach. Sie wollte es in etwas einbringen, was Sinn machte und Zukunft öffnete. Was seine Pläne für sie auch bedeuteten - aber seine Art, es einzufordern, als ihm zustehenden Anteil an ihrem gemeinsamen Leben, als ihm selbstverständlich zu übergebene Mittel für seine Vorhaben, reizten nur ihren Widerstand.
Sie hätte nie geglaubt, dass er ihre Entscheidung nicht respektieren würde. Dass er sich über ein Nein (ein vorläufiges, zeitweiliges, eher dickköpfiges als grundsätzliches Nein) hinwegsetzen würde. Das brannte als Schmerz in ihr, zerriss tief drinnen eine Verbundenheit, von der sie geglaubt hatte, dass sie etwas Einzigartiges wäre.

Es hatte lange gebraucht, bis Ellen bereit gewesen war, mir diese Geschichte zu erzählen. Die Geschichte eines Vertrauensbruches. Und das Ende der Geschichte mit dem Guru, das Ende ihrer Gemeinsamkeit. Das vorläufige Ende - denn jetzt ist alles wieder ganz anders, hat sich alles erneut umgestellt.
Zuerst, vor dem Bruch, war es eine Geschichte des Vertrauens gewesen. Er war ihr Lehrer (in dem Sinn, wie es der Maler inzwischen für mich geworden war), der ihr die Welt erklären konnte, ihr den Schleier von den Augen nahm, damit sie sah. Sie widerstand, argumentierte, stritt, beugte sich, testete, akzeptierte: Phasen der Auseinandersetzung mit ihm um das von ihm Behauptete. Für sie wurde er so zum Freund/Lehrer/ Meister. Er war ihr erster Partner, den sie nicht wegen seinen Verführungskünsten annahm (und sie lies sich gerne verführen…), sondern wegen seiner Haltung. Sie fand eine Denkart, die sich mit ihrer eigenen deckte (mir sagte sie: Heute weiß ich nicht, ob es meine eigene, noch unbewusste Überzeugung war, die ich in seiner wiedererkannte, oder seine, die ich einsaugte wie trockene Erde den Regen…). Etwas, das tiefer ging, fester band, als bloße sexuelle Anziehung.
Er gab ihr die Worte: Was sie sagen wollte, ohne es benennen zu können, sagte er, auf seine Weise, deutlich und klar. Das vermittelte ihr das Gefühl, synchron mit ihm zu denken, zu leben. Und er hörte zu - sie fühlte sich uneingeschränkt verstanden, wenn sie ihm etwas sagte. Das war ihr wichtig, war fast das Wichtigste für sie - das Allerwichtigste fand sie freilich nicht bei ihm: Ein unbedingtes, drängendes Verlangen nach ihr, nach ihrer Gegenwart, einen Grad der leidenschaftlichen Aufmerksamkeit, der ihr Anerkennung, Selbstsicherheit, Geborgenheit gegeben hätte. Alles das, was sie in ihren vorigen flüchtigen, episodenhaften Beziehungen gesucht und manchmal auch zeitweilig gefunden hatte. Also fehlte ihr etwas in ihrer Beziehung zu ihm - sie war jedoch bereit zu akzeptieren, dass es so war, und folgte ihm in den Dingen, die für ihn Bedeutung hatten, die seine Welt ausmachten.

Und fand sich nun in Zweifel gestürzt. Wie hatte er das tun können? Und war das, was er getan hatte, auch Urteil über das, was er gesagt hatte, Gericht über seine Vorstellungen?
Es war ja so: Da er an ein metaphysisches Weltgebäude glaubte, in dem jede Handlung einen doppelten oder dreifachen Sinn hatte, jedes Opfer seine Belohnung und jeder Tod seine Auferstehung, war er fähig, auf selbstverständliche Weise grausam gegenüber seinem Nächsten zu sein. Den, von dem er sagte, dass er ihn liebte, konnte er ohne Schuldgefühle hintergehen und ausrauben, da er nicht auf dessen gewöhnliche Ansichten über die Dinge Rücksicht nehmen musste, auf dessen einfältige Vorstellung von Recht oder Unrecht, sondern - in umfassenderen, übersinnigen Metaräumen sich bewegend - andere, größere Maßstäbe einbrachte. Und, im Bewusstsein einer übergeordneten Notwendigkeit, ja Schicksalbestimmung, die alles rechtfertigte, nahm er ihr dadurch ihr ursprungsnahes Vertrauen in ihn - verstörte, verletzte sie von Grund auf und zerstörte gleichzeitig ihr existenzielles Sicherheitsgefühl.
Alle ihre Einwände und Befürchtungen waren vor seiner gesehenen Notwendigkeit nur kleinlich, mutlos und kurzsichtig. Es war schicksalsbestimmt, dass er seinen Plan verwirklichen konnte, und schicksalsbestimmt, dass sie ihm dabei helfen durfte. Ihr Gefühl, nicht nur beraubt, sondern als Person ausgenutzt, von dem, dem sie am meisten vertraut hatte, hintergangen worden zu sein, war bloß vordergrundsverhaftet und eine zu überwindende Schwäche, wie er ihr gesagt hätte. Aber für sie war ein Bruch da und nicht mehr zu richten - seine Metaphysik ließ ihn sich in weite Räume verlieren, während er auf dem Feld der einfachen Realität irgendwie gestrandet war.
Ihre simplen und unzweideutigen moralischen Maximen - tue nichts, was den anderen schmerzt, was ihn ängstigt, was ihn krank macht oder zerstört - wurden bei ihm zu einem vielschichtigen Gegentext, in dem das, was kränkte, in Wirklichkeit die Schocktherapie zur wahren Gesundheit enthielt, der Abgrund der existenziellen Ängste, der sich vor ihr auftat, war eine Prüfung, die bestanden werden musste, um ein besserer Mensch zu werden, sein Verrat an ihr war in Wahrheit Treue zu ihrem eigentlichem (zukünftigen) Selbst.
In seinem Kontext war er sogar ein Wohltäter, der für sich und für sie handelte, in ihren Augen dagegen ein Verräter seiner eigenen Ideale, wie er sie ihr vermittelt hatte. War er nicht ihr Lehrer in diesen Dingen gewesen, ihr Mentor, der sie in eine weltumfangende Mitgefühlsethik eingeführt und ihr ein Gewissen gab? Für sie war das Leben nicht kompliziert und hintersinnig: Wer ohne zu fragen nahm, was ihm nicht gehörte, respektierte den Besitzer nicht und war ein Dieb, mit welcher Begründung, aus welchen Motiven auch immer.


Weiter nächstes Kapitel: Gedankenfallen