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GNOSISROMAN: HELENA


Inhalt:

Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog



Überzeugungen

Mein Gespräch mit dem Maler geht weiter, obwohl er nicht mehr real anwesend ist (aber wo hält er sich in diesem Augenblick auf?), sein Argumentieren, seine Argumente bleiben in mir. Übereinstimmung oder Gegenposition: Ich setze mich damit auseinander, in meinem eigenen inneren Sprechen, noch immer beeinflusst durch ihn. Beide sind wir Autoren des Monologs, der sich in mir fortentwickelt - so, als erinnerte ich mich daran wie an eine mögliche (nie gehaltene, ständige) Rede von ihm - und an den ihm eigentümlichen Tonfall.
Ewas beschäftigt mich allerdings ebenso: Kann man ein Weiser und gleichzeitig ein Krimineller sein? Schließt sich das nicht aus? Macht das eine das andere nicht zur Maskerade, zur Verdeckung von Betrügereien? Oder muss ich meinen zu selbstgerechten Standpunkt aufgeben, um ihm gerecht zu werden - muss ich nicht eher die Frage stellen: Wie kann ein guter Mensch wie er (und er war, nach meinem Maßstab, ein guter Mensch), in eine solche Lage geraten?
Ich weiß es nicht, kann es nicht erklären, Motive und Umstände sind mir im Dunkeln, also darf ich ihn auch nicht aburteilen. Doch die Überzeugungen, für die er sich ausgesprochen hat, die sind für mich dadurch nicht diskreditiert, behalten für mich ihre Anziehungskraft und ihre Anstößigkeit.

Bevor ich ihn kennen lernte, war ich zwar auch schon an solchen Fragen interessiert gewesen, wie er sie in mir aufrührte, aber ich hatte vermieden, mich weiter und tiefer damit zu befassen: Zu Vergrübelt kam ich mir dabei vor, zu sehr ins Abseits geratend. Zu ergebnislos, und damit zu frustrierend, mein Nachdenken darüber.
Ich dachte: All die wärmende Überzeugung von einem Universum, welches beseelt ist von einer durchgehenden, alles umfassenden Sympathie und Liebe, ist eine Möglichkeitsform, die Welt anzusehen, die Tiefe und Tradition hat, sich aber heftig an der anderen Sichtweise auf die Welt reibt, die Allgemeingut geworden ist, bezeugt und getragen von einer funktionierenden Technik, die nicht auf Sympathie und Ätherkraft, sondern auf Elektrizität und Gravitation baut. Was kann ich gegen diese Sichtweise vorbringen, außer, dass sie mir nicht gefällt? Was hat gefallen oder nicht gefallen mit Realität zu tun?
Ich musste ein Bild von der Wirklichkeit akzeptieren, auf das ich mit einem Hilfeschrei reagieren wollte, gerichtet an ein Universum, das doch, dieser Definition nach, keine Aufnahmeorgane für einen solchen Ruf hatte, kein Ohr für eine menschliche Stimme. Kein Ort war, der uns willkommnete. Nur Gleichgültigkeit als Echo, Schweigen als Erwiderung.
In früheren Kulturen richteten sich die Menschen mit ihrer innerer Bitte nach außen, nach oben, an einen Himmel (ob Sternenbesät oder Sonnendurchleuchtet), der ihnen Antwort versprach, heute kommt uns das naiv vor. Ich will nicht zu skeptisch sein, aber das weiße Rauschen des Universums hat auch seine Überzeugungskraft, dagegen müsste sich eine positive Nachricht deutlich abheben. Gibt es diesen Sender der Nachricht irgendwo? Bezeugt er seine Existenz? Oder doch nur ein teilnahmslose Rauschen, Selbstwahrnehmung des Gehörs, Leere und Schwärze. Wo ist Licht?

Der Maler zeigte mir:
"Du wendest deine Aufmerksamkeit in die falsche Richtung. Draußen wirst du keine Antwort bekommen, auf keine Frage - auch die Frage ist zuerst in dir. Dort, wo die Frage entsteht, ist auch der Ort der Antwort. Nur dort, wo die Frage nach dem Sinn aufkommt, gibt es eine Möglichkeit, sie sinnvollerweise zu beantworten. Frage- und Antwortspiel sind eins. Dass du dieses Spiel spielst, ist schon ein Teil der Lösung. Was alles kompliziert macht: Du müsstest dich selbst im Blickfeld haben können, um zu wissen, wer du bist, dass du eine solche Frage stellen kannst.
Frage dich, sag mir, kann irgendetwas, irgendjemand sich selbst erkennen, nur aus sich selbst, ungespiegelt? Seine eigenen Voraussetzungen untersuchen, sein eigenes Gefüge, Gefügt-Sein? Ist das möglich? Ich meine: nein. Alles was wir erkennen, erkennen wir durch ein Sich-davon-Distanzieren, sehen es erst aus der Distanz. Unterscheiden uns davon. Scheiden uns davon. Stellen es uns gegenüber.
Das Axiom Gödels gilt nicht nur für die formale Logik und Mathematik, es gilt für das Bewusstsein allgemein: Über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Aussage kann nicht innerhalb der Aussage selbst entschieden werden, es muss immer ein Umfassenderes da sein, in der die Frage gestellt und beantwortet werden kann. Jedes formallogische System enthält somit fragliche Sätze, die nicht innerhalb des Systems entschieden werden können - ein übergeordnetes Meta-System erst kann die Lösung bringen. Das betrifft alle Fragen, die an das System, als Grundlage der Frage selbst, gestellt werden - sein eigener Grund ist dem System unhinterfragbar. Das lässt sich auf uns übertragen.
Wir sind die einzigen Wesen, die nicht nur ein Bewusstsein über oder von etwas haben (mehr oder weniger klar und deutlich), sondern auch ein Bewusstsein darüber, dass wir es haben. Wir produzieren Gedanken und beobachten uns beim Gedankenproduzieren. Sind uns dabei bewusst. Und doch: Können wir uns selbst, in unserer Voraussetzung erkennen? Nein - wir erkennen zwar vieles - Grundlagen, Ursachen, Eigenschaften, Zusammenhänge, Mechanismen, unser ganzes Gefügt- und Eingefügt-sein - aber alles was uns in den Blick gerät, sind wir gleichzeitig auch nicht: Ich unterscheide mich immer von dem, was mir bewusst wird, von dem, was ich erkenne.
Mein Arm, mit dem ich etwas tue, bin nicht ich: Ich benutze ihn. Mein Motiv, etwas zu tun, bin nicht ich: Ich kann mich davon distanzieren, es umkehren. Die Gefühle, die mich dabei erfüllen, bin nicht ich: Sie können sich ändern, noch während ich sie austrage. Alles, womit ich mich benenne, bin nicht ich: Es gehört zu mir - manchmal auf unerfreuliche, nur schwer zu ändernde Weise, als Ungenügen oder Mangel oder Fehler oder Schuld - aber ich bin es nicht wirklich.
Wirklich bin ich nur dort, wo ich mich nicht sehen kann: Weil ich nicht größer als ich selbst sein kann. Alles, was mir von mir in den Blick gerät, ist kleiner als ich, wird von mir umfasst. Alles, was ich auf diese Art herausfinden kann, bin nicht ich. Aber ich bin. Das ist auch schon das Einzige, was ich sagen kann. Ich bin mir selbst der blinde Flecke, bin mir selbst das Nichts, das alles ist. Aber dass ich weiß, ich bin mehr, umfassender als alles, was mir von mir in den Blick geraten, mir von mir bewusst werden kann, ist, als paradoxe Grenzerfahrung, eine Erkenntnis, die mich aus allem Bestehenden herausführt und ins Unbekannte stellt.

Wenn ich weiß, ich bin mir selbst die unbekannte Größe, alles, was ich über mich herausfinden kann, trifft mich nicht, oder nur peripher, ob Fakten der Gehirnforschung oder der Psychologie, der Soziologie oder der Physik, dann kann ich mein eigens Innere ebenso als Außenweltlaboratorium ansehen, wie irgendeine andere Versuchsanordnung in einem Forschungsinstitut. Ich muss mich nur auf die besonderen Bedingungen einlassen, die dort bestimmend sind. Muss herausfinden, wie es geht und um was es geht. Dazu gibt es schon viele Vorschläge, viel Material, viele Erfahrungen.
Der blinde Fleck, der du dir selbst bist, schafft dir einen Raum, in dem sich Ereignisse einfinden können. Nicht im Voraus zu bewerten, nicht voraussehbar. Du hast in dir selbst ein Medium vor dir - vor deinem inneren Auge - in dem sich etwas rühren kann - die ersehnte Antwort auf dein Fragen. Von einem anderen Außen kommend, als aus den Galaxien und Sternenzusammenballungen, wie wir gelernt haben, unser Universum anzusehen.
Schau nicht nach Oben-Außen, schau in dich: Wie in einer Nebelkammer der Physiker, in der die Tröpfchenspur eines sonst unsichtbaren Energiestoßes mittelbar beobachtet werden kann, erscheinen in diesem Medium Figuren und Masken, gekleidet und modelliert nach den Vorbildern, die zur Verfügung stehen - dem Arsenal der Bilder und Vorstellungen, die sich allmählich, im historischen Prozess, angesammelt haben - hinter ihnen aber und unsichtbar, kann man eine Realität vermuten, die nur auf diese Weise sichtbar werden kann. Nur so: Mittelbar und zweideutig-verschwommen. Aber doch so, dass man auf ihre Existenz vertrauen kann. Nur so vertrauen kann, auf keine andere - eindeutigere, schärfer gezeichnetere - Weise. Das ist wenig; aber es muss genügen. Dem Verzweifelten, dem auf das Skelett des Lebens reduzierten, genügt es."

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Es gibt das Gewohnte. Das Alltägliche. Normale, selbstverständlich zu Erwartende. Die Norm. Das Mechanische, das Gestell, in das wir gestellt sind, das wofür wir keinen Blick mehr übrig haben, das, worauf wir konditioniert sind, in das wir eingefügt sind, eingespannt, worauf wir in gewohnter Weise reagieren, ohne Nachdenklichkeitszäsur...Und dann gibt es noch das ganz Andere.
Alles was uns tiefer berührt als das ewig- gleichförmig Gewohnte, an das wir durch unsere individuell- gemeinschaftliche Entwicklungsgeschichte adaptiert wurden - oder uns selbst beflissen angepasst haben - kommt über uns als Offenbarung aus einem Jenseits des uns in Gewohnheit Umgebenden, als Blick durch die Lücken der Realität, die sich um uns aufgestellt hat wie eine Kulisse, ein gemaltes 360° Panorama, die künstliche Welt der Truman Show.
Ein Musikstück kann das bewirken, der Anblick eines Menschen, das zufällige Wort, das uns anspricht. Unsere eigentliche Essenz ist berührt, unser Da- Sein - aus dem Jenseits unseren bloßen So- Seins. Gewordenes ist nicht alles. Es gibt mehr als das. Es gibt offene Küsten, zukünftige Aufbrüche, Seefahrten und den Flug über Grenzen. Jenseits des Gewordenen liegt das Eigentliche, die Heimat. Das ist der Ruf der Gnosis. Das ist unsere Erleuchtung. Und dieser Ruf kann uns überall und jederzeit erreichen - das war die tiefe Überzeugung der ursprünglich von der Gnosis Begeisterten und Beseelten.
Für uns ist dieses Aufbrechen der Realität, dieses Aufbrechen aus dem Gewohnten, Gewordenen nicht so sehr mit religiösen Denkfiguren verbunden, wir finden es mehr im Bereich der Erfahrung mit der Kunst. Aber es ist dieselbe Art Erschütterung, die wir erleben können: Wir sind nicht bloß durch Konditionierung festgelegt, wir können uns selbst jenseits davon sehen, bis dorthin reichen wir, obwohl wir das vergessen haben. Natürlicherweise immer wieder vergessen. Und in Wirklichkeit sind wir, umgekehrt, von dorther definiert, dort sind wir, ist unser eigentlicher Zustand, hier, im Gestell, im umstellten Zustand, sind wir verfälscht. Weil in und ans Schiefe gebunden, ins Krummgewachsene, Zufällige... Wir sind mehr, als wir geworden sind, und wenn wir daran erinnert werden, hören wir den Ruf, der von uns selbst ausgeht.
So habe ich den Maler verstanden. Und das war es auch, was mich an seiner Rede (der durchgehenden, durchgetragenen einen Rede während unserer vielen Unterhaltungen) interessierte, was mich hinhorchen ließ. Es stimmte ja, dass ich auf der Suche nach etwas war, was mich aus dem, wie ich bin (oder eben nicht bin) hinausführen konnte, dass ich ein Suchender in seinem Sinne war. Nur brauchte ich die traditionell vorliegenden, überall angebotenen Bilder für dieses Suchen nicht zu übernehmen, auch nicht diejenigen, die er mir zeigte.
Ich verstand, das ich mich nur in einem vorgegebenen, anregenden Kontext entwickeln konnte, gefördert durch die Auseinandersetzung mit diesem - nicht im luftleeren Raum, ohne Struktur und Boden, auf dem etwas wachsen, in dem das, was wachsen wollte, wurzeln konnte. Aber etwas in mir weigerte sich gleichzeitig, das Vorgelegte zu akzeptieren. Was der Maler aber nicht verlangte.
Der Maler gab mir eine Leinwand, Farbe, Malerwerkzeuge zur Hand, mit denen ich anfangen konnte, ein Bild zu malen, das über die bloße Skepsis oder Resignation hinausging - aber er schrieb mir nicht vor, was ich zu malen hätte. Sondern, im Gegenteil, er wollte mir meine eigenen Erfahrungen ermöglichen, mir möglich machen, dass ich auf eigene Rechnung lebte. Wovon ich weit entfernt war - wie mir immer deutlicher bewusst wurde. Und das war mein eigentliches Thema.

Einmal sagte der Maler mir:
"Kommt es dir nicht seltsam vor, dass du an allem Anstoß nimmst, was dir vorgesetzt wird, an Gebräuchen, an Gedanken, an Überzeugungen, an öffentlichen Meinungen? Und gleichzeitig bist du durch und durch davon geprägt, ist deine Mentalität die eines spät- oder postmodernen, westlichen Intellektuellen, zugleich geöffnet gegenüber allem und blindgeboren für das Wesen der Dinge - fühlst du dich nicht fremd dabei, dir selbst ein Fremder?
Betrachte dich einfach als einen Sufi, in den Westen gesetzt (für diesen ist der Westen das Exil, der Osten ist Heimat). In diesem Exil aufgewachsen, dessen Werte übernehmend. Und sehe es als Chance: Du brauchst dich nicht mit Jahrtausendalter Tradition belasten, hast alles abgeschüttelt im Neubeginn, und bist trotzdem nicht ohne Wurzeln. Die dich nähren, ohne das du es weißt.
Du kannst entdecken, was in einer alten Sprache schon einmal gesagt worden ist, ohne deren Bilder übernehmen zu müssen, ohne die festgefügte Welt der Männerbünde, der bindenden Mythen, der ausgedeuteten Namen. Ohne die sozialen Festlegungen, die dich auf deinen Platz im gesellschaftlichen Gefüge verweisen würden. Jeder von uns ist ein Orientler, von dort kommen wir her, dort liegt unser Beginn, aber hier ist der Ort unserer Erneuerung. Allerdings im Absterben des grünen Stammes. Im Ruiniert werden. Im Bankrott. Und trotzdem: nimm es als Chance.
Es ist nicht leicht, im Westen angekommen, ein Sucher des Ursprungs zu sein - hier darüber zu reden, wird zu oft zum Geschwätz. Wovon man nichts sagen kann, darüber muss man schweigen. Aber dieses Schweigen darüber kann tiefer führen, als sensationelle exotische Vorstellungsbilder, die von irgendwo übernommen und ungeprüft eingesetzt werden. Alle diese Aufregungen, die als Wahrheiten im Handel sind, füllen nur die Leere der ungelebten Zeit aus, die sich sonst bemerkbar machen würde - besser, sich stattdessen mit praktischen Dingen zu beschäftigen, mit Wände anstreichen oder töpfern zum Beispiel."
(hörte ich hier einen Sarkasmus im Tonfall des Malers?)
"Diese geschwätzige Gefräßigkeit, mit der alles einverleibt wird, was geheimnisvoll und interessant- abseitig erscheint - Verschwörungstheoretiker mit absurdesten Gehirnblasen, blubbernd losgelassen und nicht mehr aus der Welt zu schaffen (wenn 2 Leute daran glauben, muss ja etwas wahr daran sein...) - inbrünstig Glaubende, die, mit den neuesten elektronischen Kommunikationsmittel in der Hand, alte fundamentalistische Lehren verbreiten, die, wenn sie wirksam geblieben wären, ihre so gedankenlos benutzten modernen Techniken niemals hervorgebracht hätten - Leichtgläubige, die auf jeden Offenbarungszug aufspringen, wenn er sie nur genug mitreißt, ohne Prüfung, wohin sie damit eigentlich fahren - diese esoterische Tratsch- und Klatsch- Gesellschaft, an Klischees gebunden, die dadurch nicht besser oder wahrer sind, dass sie vielleicht schon seit hunderten von Jahren weitergereicht werden - wie widert mich das alles an."
Der Maler hatte sich in Rage geredet.
Ich verstand nicht ganz, wie er sich über Ansichten (vielleicht naiv, vielleicht oberflächlich, aber doch ehrlich und enthusiastisch) aufregen konnte, die den seinen sehr nahe waren - wenigstens kamen sie mir so vor. Aber gerade weil sie für den Außenstehenden so ähnlich waren, hatte er das Bedürfnis, den Unterschied klarzustellen. Gerade weil es ihm ernst mit seiner Sache war, konnte er einen, in seinen Augen, unangemessenen Umgang damit nicht verzeihen.
Er sagte, er wäre auf den Guru oder ähnliche Typen nicht eifersüchtig, würde sie nicht als Konkurrenten im Wettstreit um einen Erkenntnisclaim ansehen, die ihm öffentliche Anerkennung oder Aufmerksamkeit wegschnappen könnten - er würde aber so reagieren, wie im Renaissance-Deutschland der gelehrte Abt Trithemius auf den landfahrenden, Wunder ankündenden und inszenierenden Faustus von Knittlingen reagiert hätte: Voller Abscheu vor dessen Übertreibungen und unerfüllbaren Versprechungen, dessen die Zuschauer verblüffende Werbegags und Reklamegeschrei, die hohe Kunst der Magie, für ihn eine profunde Philosophie, nur verstehbar dem, der ihre Grundlegung begriffen hatte, ins Gewöhnlich-Abergläubische übersetzend und damit verfälschend.
Weil Magie für ihn Realität war, sollte sie nicht mit dem verwechselt werden, was der Marktschreier Faust den Leuten vorführte, sie an der Nase herumführend und seinen Vorteil daraus ziehend.

Ein anderes Erregungs- und Ärgernisfaktum war für ihn das, was er die Lüge der Institution nannte (und nicht nur auf Kirchen, sondern auf religiöse Einrichtungen jeder Art, auf Ordensgemeinschaften, Geheimorden, Bünde und Vereinigungen bezog), da er in ihr einen grundsätzlichen Verrat an dem sah, was diese zu vertreten behauptete - und nicht einen fast gesetzmäßigen Verlauf der Entwicklung, wie in jedem Wachstumsprozess vorzufinden, damit zu erklären und zu entschuldigen. Hier stand er für die Position des Einzelkämpfers, des Individuums, das allein für seine Sache zuständig war. Allein für die Wahrheit seines Weges verantwortlich. Für dessen Realität.
"Einer der perfidesten juristischen Tricks der großen christlichen Kirche war es, zu behaupten, es gäbe eine geistige Wirkung unabhängig vom Bewirker, es sei egal, ob dieser moralisch verrottet oder nicht ganz bei Sinnen sei - wenn er von der Kirche (durch seine Weihe) dazu autorisiert sei, bestimmte Handlungen zu vollziehen, die das Heil verkörpern, sei dieses Heil auch wirksam. Das ist eine magisch-naturalistische Auffassung, verdinglichend.
Genau das Gegenteil ist wahr: Es kommt nur auf den Menschen an und was durch ihn in die Existenz gebracht wird. Was er durch seine Wesensart bewirken kann.
Keine zwei Menschen werden aus derselben Quelle dasselbe Wasser schöpfen: Das Wasser ist nie dasselbe und die Menschen sind verschieden, also wird ihr Wirken auch unterschiedlich sein. Auch wenn sie sich scheinbar auf dasselbe berufen. Und andrerseits: Jeder findet in sich seine eigene Quelle, seinen eigensten Zugang. Und was er nutzt, aus welchen Elementen er sein Handeln zusammenzieht, auf welchen Strassen er dabei geht, ist seine Sache. Der eine wird seine Erleuchtung im Rausch haben, der andere im Zustand der Nüchternheit, keiner soll dem anderen vorhalten, es wäre nicht das echte, wahre Erleben - wie kann das ein Außenstehender beurteilen? Es gibt kein Rezept, es gibt kein sicheres Verfahren, keinen garantierten Weg. Und erst recht nicht eine Organisation, die das Heilende automatisch herstellen könnte. Geist ist lebendig, Geist ist Wind, Geist ist aktuelle Wirkung, Geist stirbt in die sich verfestigende Struktur, das System, und wird als Ungeist daraus beschworen, als Widergänger seiner selbst, als Gegenwurf."

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Der Maler hatte nicht von Entfremdung gesprochen (dieser Begriff war ihm wahrscheinlich zu vorbelastet), wohl aber darüber. Und zwar im ursprünglichen, religiösen Sinn, wie er zuerst in die Philosophie geraten und dort transformiert worden war: Als Entfremdung aus dem Eigentlichen, Heimatlichen, ins Exil, in die Fremde.
Für mich war das, was er damit meinte, weder ein religiöser, noch ein politisch-soziologischer Faktor: Für mich war es eine anthropologische Konstante. Etwas Grundlegendes im menschlichen Leben. Etwas in dessen eigenen Existenz begründetes. Und daher nicht aufhebbar. Für mich war es ein tragischer Zug, der durch alles hindurchging, etwas Unumgängliches, Auferlegtes - condition humaine. Strukturelles Ungenügen. Mentaler Hunger, Durst, unstillbares Begehren oder Langeweile.
Alle Versuche, in der Geschichte und im Privaten, den Bannkreis des Ungenügens zu entkommen, den Ausbruch ins Übermaß der Erfüllung zu schaffen, sind bis heute und seit jeher misslungen. Weil wir für die Fülle nicht geschaffen sind. Wir sind keine Bewohner des Pleromas. Wir sind Mängelwesen. Bewohner des Wüsten Landes, die sich nach den leuchtend grünen Auenwälder, den wasserreichen, sonnenüberfluteten Landschaften eines ursprünglichen Lebens sehnen. Sind dazu verdammt, das Überfließende, Überquellende zu ahnen, welches allen Dingen immanent ist, allem Existierendem mitgegeben wurde, aber nicht dazu befähigt zu sein, über diese Ahnung hinaus gehen zu können.
Nur in der Fantasie ist es uns manchmal möglich, die Erfüllung in der Fülle zu finden -Vorwegzunehmen würde ich nicht sagen, das meinte ja, dass es schließlich doch zu einem glücklichen Ende kommen könnte - was im Widerspruch zu unserer eigenen Natur stehen würde. Ich meine damit nicht (und sagte es so dem Maler), dass wir nicht glücklich sein könnten, nicht dazu fähig wären, Glück zu erleben - für Augenblicke, Glücksruhepausen, Glücksewigkeiten. Dass wir nicht wissen würden, wovon wir sprechen, wenn wir uns diesen ersehnten, erahnten Zustand vorstellen (freies Schweben im Glücksmoment der Musik, Mitschwingen in der Musik des Augenblicks: Das ist für mich dasjenige, was diesem vorgeahnten Zustand am nächsten kommt...).
Ich meine damit, dass unser Beseligungsgefühl, das uns ganz und gar erfüllen kann, uns bis in die Zehenspitzen ausfüllen kann, von Kopf bis Fuß, ins unerträglich Süße gedehnt, dass dieser Zustand immer an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, an ein Zusammentreffen glücklicher Umstände gebunden. Von der Chemie unseres Gehirns abhängig, von den Stoffen, die in unserem Körper erzeugt und freigesetzt werden, in unserem Blut kreisen - in Abhängigkeit von zu vielen endogenen und exogenen, nur zeitweilig vorhandenen, rasch vergehenden Faktoren. So dass wir berührt werden - aber nicht sind. Und dass uns, wenn wir im Glücksgefühl verharren würden, für immer, uns dieses nach einiger Zeit (obwohl ewig, wäre doch Zeit), entweder unerträglich oder total langweilig vorkommen würde. Wir sind nicht dazu geschaffen. Nicht so gebaut, dass wir in irgendeinem Zustand verweilen können - und wäre es der Zustand der Ewigkeit.
Die Ursünde, in der wir stehen, ist, dass wir uns unserer Lage bewusst sind. Wir leiden, freuen uns, sehnen uns wie Tiere, sind uns aber dessen bewusst. Und verbunden damit, ist uns bewusst, dass dies alles nur vorübergehend ist. Unser Zustand war vorher so nicht, er wird später nicht mehr so sein. Und zwischen unserem Erwachen für uns selbst und unserem Verlöschen ist uns nur eine endlich begrenzte Zeit gegeben, wir wissen, dass dieses Erlöschen unausweichlich vor uns steht. Keine Ewigkeit für uns.
Wir haben die Zeit. Das Bewusstsein darüber. Und haben zu wenig davon. Einen zu kurzen Abschnitt des Für-Immer. Wäre es nicht besser, wir würden nur den Moment kennen? Und jeder Moment wäre ewig? Unser Bewusstsein zeigt uns die Fülle, und zeigt uns gleichzeitig, wie wenig Anteil wir daran haben. Zeigt uns das Für-Immer und zeigt uns, dass es nicht für uns ist. Unfair.
(als ich mit Ellen darüber redete, sagte sie nur lächelnd:"Es liegt nur an dir, dir darüber Gedanken zu machen. Mache es wie die meisten: verdränge. Und du hast diese Sorgen nicht. Lebe in den Tag. Und du wirst glücklich sein. Willst du das wirklich? Wäre das wirklich das Beste für dich?")
Das, was uns zum Menschen macht, was wir alleine haben, nicht mit anderem Existierenden teilen, wie die Chemie der Körperstoffe, die Lebensvorgänge in unserem Leib, die hin- und herflutenden Emotionen, Schmerz, Wut, Angst, Trauer (all das verbindet uns mit Anderen, mit denen wir gemeinsam die Erde ausmachen: Den Gesteinen, den pflanzlichen und tierischen Lebewesen -), ist unsere mentale Ausstattung. Unser Denk-Sein. Und eben das hindert uns, auf Dauer in irgendeinem Zustand stehen zu bleiben. Es hebt uns aus der ewigen Gegenwart. Es gibt uns Erinnerung. Vergangenheit. Gibt uns Offenes, noch nicht eingetroffenes. Zukunft. Gibt uns Rätsel überall.
Denn wir können uns nicht mit dem begnügen, was uns gegeben ist: wir müssen darüber hinausgehen. Wir denken. Wir haben Worte. Haben Bilder. Wir sind bewusst. Sind uns selbst bewusst. Das führt zu einem Hunger nach mehr, einem Drang nach Überschau, nach Zusammenhang, nach Sinn und Hintersinn. Wir können nicht fraglos sein. Wir verzehren uns nach einem Zusammenfassenden. Nach dem Durchbruch ins Alleszugleich und Alleswasist.
Wir verspüren Mangel, wenn wir uns separiert, abgesondert, getrennt-eingesperrt fühlen. Spüren Mangel, wenn wir nicht in der Fülle aller Erscheinungen und Phänomene stehen. Erleben diese Fülle als Ausbruch von Überglanz und Licht und sind davon geblendet, sehnen uns danach und können diesen Zustand doch nicht ertragen. Hunger nach Fülle, nach dem Zustand des Pleromas, wechselt mit dem Schmerz durch die Fülle, die uns überfordert, als zu starker Reiz. Wie das Licht der Sonne das Auge ausbrennt: und doch ist das Auge ganz auf die Existenz des Lichtes organisiert, hat nur durch das Licht seine Existenz.
Unser Webfehler besteht in dem, dass wir das, was wir brauchen, nicht ertragen können. Mangelhafte Wesen in sich selbst. Fehlerhafte Konstruktionen. Der Maler wollte mir sagen, dass wir eine Möglichkeit haben, uns in dieser Hinsicht stark zu machen, uns zu trainieren, das Unerträglich-Notwendige zu ertragen. War der Meinung: wir sind es selbst, die sich nach dem Übergenug sehnen. Wir müssen nicht danach gedrängt werden, es zu suchen. Wir müssen nur gestärkt werden, es auszuhalten. Dann finden wir uns mitten drin. Weil wir schon immer mittendrin sind. Nur nicht bereit, unsere Augen aufzumachen und uns dem Schmerz des Augenöffnens zu stellen. Den Schmerz zu überstehen.

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Das "Woher kommen wir, wo stehen wir, wohin gehen wir" der Gnostiker beschäftigt uns im Grunde noch immer, es hat sich aber, wenigstens bei mir, in einen anderen Bereich verlagert, (oder geht es doch immer noch um dasselbe?), ich möchte wissen, wie meine Sicht der Welt entstanden ist, möchte diese in ihrer Geschichtlichkeit erkennen, möchte mich dadurch selbst erkennen, was mich ausmacht, und möchte wissen, was ich aus mir machen kann, welche Möglichkeiten sich mir öffnen.
Ich bin geworden, ich bin, ich werde sein - und dieses werde sein enthält als Möglichkeit mehr als die von der Vergangenheit bestimmte Gegenwart, ist offen für Weiterentwicklungen, die nicht nur vom Bisher bestimmt werden, sondern auch, daran glaube ich, von den vielfältigen Möglichkeiten der Entwicklung selbst, dem Zugang ins Freie, der in diesen Möglichkeiten auch enthalten sein muss. Wenn ich spüre, was ich sein könnte, was als Potenzial noch unausgeschöpft ist, aber realisierbar, dann ist das für mich der Ruf, von dem die Gnostiker sprachen. Mein zukünftiges Ich ruft mich, lockt mich, lockt mein Potenzial hervor, ich kann mich dem verschließen oder öffnen. Kann bejahen oder verneinen.
Und wer weiß, ob dieser Ruf, den die Menschen der vergehenden Antike in ihrem von äußeren Zwangsgewalten festgelegtem Leben als Fluchtöffnung ins Eigentliche erlebten, nicht derselbe ist, wie ich ihn heute als Angebot eines Entwicklungsweges in die Freiheit des Nicht- Festgelegten in mir erfahren kann, als Ruf, der mich daran erinnert, dass ich noch nicht der bin, der ich sein könnte, weil so wenig davon schon von mir realisiert wurde und so viel davon noch aussteht - als Versprechen, nicht als notwendigerweise sich Erfüllendes, automatisch Eintreffendes. Was ja determiniert wäre, das Gegenteil von Befreiung.
Liegt in mir eine innere Entwicklungsmöglichkeit, die angenommen werden muss, um Realität zu werden, und kann diese Entwicklung mich weit über das hinausführen, was ich mir selbst (und alle anderen sich selbst und auch mir) heute als Realität zugestehen? Vergleichbar dem Weg durch die Planetensphären, in die Fülle des Pleroma, wie er in der Antike beschrieben wurde, als Aufstieg der Seele im Leben und im Sterben? Erlebt wurde dieser Aufstiegsweg in einer selbsterzeugten Imagination, vorgegeben durch den Mythos, dem man folgen wollte und der sich im Erleben bestätigte; brauche ich auch heute keinen vorgegebenen Mythos mehr, so kann ich doch noch immer einen inneren Erfahrungsweg gehen, der mich als anderes Wesen als bisher offenbar geworden zeigt, als der Andere, der im Bisherigen noch nicht realisiert war, daher als Fremder im Bisherigen erscheint. Als der Fremde, der durch den Ruf zu sich selbst kommt und sich als das erkennt, was er ist: Der Andere in der Fremde, der Bisher-Nicht-Da-Gewesene im Bisherigen, im Festgelegten.

Ich kann jeden Mythos nehmen, der sich mir bietet, oder keinen, ich kann mich an einen strengen Weg binden oder an keinen, ich kann Bilder erfinden oder Bilder übernehmen - Stationen der Entwicklung werden geschaffen und den Weg ausmachen. Doch der Weg selbst ist ebenso nur eine Metapher, auch diese Metapher überwindet der Weg.


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