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GNOSISROMAN: HELENA


Inhalt:

Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog



Argumentieren

Legende:
"Es war einmal ein Mann. Sein Vater hatte ihm einen Krug voller Goldstücke vererbt, es war schon lange her, dass dieser sich hingelegt hatte um zu sterben. Den Krug hütete er seither pflichtgetreu. Er erinnerte sich ab und zu daran, vergewisserte sich, dass er noch da war und betrieb dann weiter sein alltägliches Geschäft, im Bewusstsein, einen beträchtlichen Schatz in der Hinterhand zu haben, jederzeit darauf zurückgreifen zu können, wenn notwendig - aber jetzt noch nicht, nicht jetzt.
Der Schatz ging ihm ja nicht verloren, er war noch da, verdarb nicht - oder? Wäre es verwesendes Fleisch gewesen, verrottende Felle, verrostendes Eisen oder keimendes Saatgut, er hätte sich darum gekümmert, hätte sich darum gesorgt. Aber so war es ihm nie wichtig erschienen, Gold blieb beständig, Gold blieb erhalten, Gold war einfach da - das genügte. Er kam auch ohne sein Gold über die Runden - zwar nicht weit; lebte - zwar nicht prächtig; aber es genügte.
Einmal werde ich den Schatz nehmen und etwas ganz Besonderes damit machen. Einmal werde ich damit etwas Wundervolles erreichen. Bis dahin weiß ich, dass es diesen Schatz gibt, nur ich weiß davon, dass ist schon genug. Er fühlte sich auf diese Weise als der Hüter des Erbes seines Vaters.
Sein Leben blieb äußerlich bescheiden; manchmal musste er sich einen Wunsch versagen, manchmal hungerte er sogar, aber er rührte den Schatz nicht an. Wenn die Gelegenheit kommt, die besondere Chance, werde ich das Gold nutzen, sagte er sich dann. Aber diese besondere Gelegenheit kam nie. Sein Leben verlief weiter in engen Bahnen, eingeschränkt und eingezäunt, keine großartige Möglichkeit öffnete sich überraschend.
Einmal, als er fühlte, dass für ihn selber die Zeit gekommen war zu sterben, überdachte er sein Leben und konnte keinen Fehler finden, obwohl ihn irgendetwas quälte. Es war ihm, als stehe eine hohe, schattenlichthafte Gestalt neben seinem Bett, die ihn aufforderte, seine Besitztümer zu nehmen und vorzuzeigen, was er hatte. Hier habe ich einen Krug mit Gold, alles noch vollständig, wie ich ihn selbst erhalten habe, sagte er voller Stolz zu dem Wächter."
Dessen Gesicht sah ihn voller Trauer an. "Es ist nur Metall", sagte er, "es ist nicht Leben geworden. Es hat sich nicht verwandelt, ist nicht gewachsen. Wo ist die Fülle, die dir dadurch möglich gewesen wäre?"
Jetzt erschrak der Sterbende, wusste, was ihn quälte, trauerte mit dem Engel um seine verpassten Möglichkeiten, seinen nicht realisierten Reichtum.
Angst erfasste ihn, bedrängte seine Brust in Atemnot, verengte seinen Blick, Schatten flackerten im Augenwinkel, zogen sich um ihn zusammen. Er wollte sich wehren, umkehren, zurückgehen, alles anders machen, jetzt, da es zu spät war. "Nun weiß ich, um was es geht, gib mir Zeit, ich will mich ändern, gib mir eine neue Chance, einen Neubeginn.
Sanft sagte das Gesicht, Trauer im Blick: "Du wirst deinen Neubeginn bekommen, aber jetzt folge mir. Nimm deinen Goldschatz und komme mit... "

Diese kurze Erzählung kopierte ich aus einem schmalen Bändchen byzantinisch-syrischer Legenden, das mir auf einem meiner Streifzüge durch die öffentlichen Bibliotheken ins Auge gefallen war. In ihrer Art war es eine Erwiderung, wie sie mir auch der Maler (und Ellen, nicht zu vergessen) auf meine Koslowsky-Trotzreaktion hätte geben können - eine Fabel über das Lernen und Wachsen...
Ich verstand nun, auf welchem Hintergrund deren Haltung Sinn machte: Sie verweist auf eine Welt, die von einem allem unterliegenden Entwicklungsziel bestimmt wird, auf welche Weise auch immer.
Ich dachte, ich könnte die Geschichte in meiner eigenen Erzählung über den Alchemisten unterbringen, als Fundstück, aber damit war ich noch zu sehr am Anfang, als dass ich es anders als nur in meiner Sammlung von Notizen ablegen konnte, Text zu Textbruchstücken.

**

Mein Leben hatte sich neu ausgerichtet. Durch Ellen fand ich mich in Geschichten verwickelt (wenn auch nur als Erzählung, selten, wie mit dem Transsexuellen, in der Realität), durch den Maler in Gedankenspiele, die mir Neuland waren - etwas, was ohne die Begegnung mit beiden nicht in mein Leben eingetreten wäre.
Ellens Lebensführung färbte auf mich ab - ein bisschen wenigstens: ich wurde unbekümmerter, offener, sogar vegetarischer. Was heißt: Am Anfang (nachdem mir mein Fauxpas aufgefallen war), vermied ich es, mit ihr zusammen im Restaurant, Fleisch zu bestellen, weil ich ihre strikt vegane Haltung den Tieren gegenüber nicht herabsetzen wollte - später aß auch ich kein Fleisch mehr, sogar wenn ich alleine war. Was aber nicht nur auf ihren Einfluss, sondern auch auf den Maler zurückging, der zwar kein Vegetarier war (hier war er mit sich selbst im Widerspruch), mir aber den Kontext vermittelte, aus dem diese Lebensführung kommt, in dem die Achtung vor dem Lebendigen es jemandem unmöglich macht, andere Lebewesen, die bluten, die atmen, die Schmerz empfinden, die eine Stimme besitzen, zu schlachten und aufzuessen.
Mit dem Maler führte ich unser nicht endendes Dauergespräch weiter, diskutierten wir über die Themen, die er aufgebrachte. Bei Gelegenheit sprach ich auch über mein Schreiben und meinen Fortschritt damit (besser gesagt: mein Stehen bleiben), er schien sich aber weniger dafür zu interessieren, als ich mir insgeheim gewünscht hatte.
Bemerkte dazu nur etwas Allgemeines:
"Mache dir klar, was Literatur sein kann. Es geht um die Freude an der Sprache. Dann um die Freude am Erzählen. Dann um den Stoff, das Erzählmotiv, die Freude an Entwicklung, Spannung, Lösung. Dann um das, was mitgeteilt wird: Was wäre das für ein ödes Werk, wenn es uns nichts mitteilen würde. Uns nicht zum Teilhaber an etwas machen würde, das uns verbindet. Uns Leser und den Autor und das, worüber nicht erzählt wird, wovon aber gesagt wird. So sehe ich die Literatur. Und so sehe ich meine Malerei. Also die Kunst."

Das, wovon nicht erzählt, aber gesagt wird, war sein eigentlicher Gesprächsgegenstand, den er variierte und worüber er sprechen wollte. Ich stimmte ihm im Grundsatz zu, dass es um ein in uns Innewohnendes geht, das wir weiterentwickeln müssten und um ein Aufgeschlossen sein gegenüber dem, was sich uns dabei erschließt - aber über die Details und jeweiligen Inhalte waren wir uns nicht einig. Ich war mehr am Subjektiv-Psychologischen orientiert, er richtete sich, wie er sagte, am Objektiv-Realen aus, hielt meinen Standpunkt für ein Durchgangsstadium. Dabei hatte ich vieles von dem, was mir der Maler nahe gebracht hatte, als überzeugend aufgenommen und folgte ihm im Weiteren:
- Wahrnehmen des auf uns Wirkenden, sich Bewegen in einer durchschauten, unverrätselten Realität, in der Handeln möglich, gefordert, wirksam ist - dazu wurde unser Gehirn gebildet, wurden wir im Aufwachsen sozialisiert, wurden wir als Bewusstsein konditioniert. Aber gleichzeitig hat unser kognitiver Apparat einen Überfluss von Möglichkeiten und Fähigkeiten, er ist durch die entstandenen Festlegungen nicht ausgelastet, ist nicht vollständig gebunden - noch nicht endgültig formiert.
Dieser nicht formatierte Überschuss geistert in unserer Phantasie, wird akut in unseren schöpferischen Phasen, entlädt sich in religiöser Ekstase - bei manchen Menschen. Die wenigsten überschreiten jemals den sicheren Bereich ihrer programmierten Empfindungen, Wahrnehmungen, Meinungen. Einigen allerdings, denen eine solche Überschreitung unfreiwillig zustößt, durch Krankheit etwa, durch Fehler im chemischen Haushalt des Gehirns oder durch dessen Verletzung, verlieren sich im Chaos fremder Realitäten, verlieren sich in ihren eigenen Welten, werden dadurch aus der allen gemeinsamen Welt herausgerissen.
Andere entdecken in sich den Wunsch und die Möglichkeit, ihrer Programmierung zu entkommen, erleben diese Fähigkeit des Gehirns und des Denkens, sich über die eigene Gewordenheit hinwegzusetzen als Steigerung und Vervollkommnung ihrer Selbst, als Installation und Realisation einer unabgeschlossenen Bewusstseinsverfassung, die über jede Festlegung hinausführt. Paradoxon. Zen-Koan. Diese versuchen dann, einen Weg zu finden, ihre De-Programmierung durchzuführen, ohne aus der gemeinsamen Welt der Mitmenschen entrückt zu werden, in deren Augen verrückt zu werden. Eine doppeldeutige Weltsicht entsteht, ein Diesseits und Jenseits (der Normalsicht), ein Haupt- und ein Subtext.
Aber die Phase der De-Programmierung ist jeweils nur kurz, nur ein Moment der Verwirrung, der Auflösung, Auslöschung sogar. Danach verlangt unser existenzielles Sicherheitsprogramm den Aufbau einer verbürgten Welt, in der wir uns handelnd bewegen können, uns nach dem richtend, was wir als Realität erfahren und als Wahr anerkennen können. -

- Diese verbürgte Weltsicht, eine andere zwar als zuvor, eine neue, aber doch eine wieder festgelegte, wird vielleicht durch Lehren gegeben, die an die Stelle der alten Programmierung treten, diese erweiternd, ersetzend, umfassend integrierend. In der Biographie des Einzelnen kommt es nämlich oft zu einem Zusammentreffen von noch unbewusstem Drang, die eigene Beschränkung zu überschreiten und der Offenbarung eines Wissens, das Jenseits dieser Einschränkung liegt.
Das richtige Buch. Der rechte Mensch. Das Wort, das einen berührt. Die geheime Lehre, die geahnt wird. Macht sich dann der Sucher auf, dem nachzugehen, was ihn so stark getroffen hat, ihn in seinem Drängen nach Überschreitung bestärkt hat, findet er vielleicht eine schon gut ausgebaute und festgelegte Infrastruktur vor: Von Hinweisschildern, Wegbeschreibungen, Ausmalungen zukünftiger Zustände und geistiger Welten, von Zielvorgaben und Andeutungen letztgültiger Dinge. Die Neu-Programmierung, die in diesen Lehren angelegt ist und auch so gefordert wird, setzt ein.
Diese Programmierung ist nur in den wenigsten Fällen so rigide wie die Basisprogramme, sie wurde ja von Suchenden geschaffen, die aus genau demselben Drängen heraus wie der Neuankömmling ihre Grenzen überschritten haben - sie ist deshalb eine Meta-Programmierung, in der Unterprogramme ständig durch übergeordnete Programme relativiert werden, sobald man an die Grenzen stößt und auf das nächste Level wechseln kann - die Computerspiele haben viele Anregungen aus diesem umfassenderem Spiel übernommen. Aber sie ist trotzdem oft nur eine weitere Programmierung, abzulesen an einem Kriterium, das sich als Prüfstein für jede mentale Haltung eignet: Ist das Programm bereit, sich selbst in Frage zu stellen, wenn Probleme aufkommen, die nicht mehr in seinem Kontext allein zu lösen sind?
Geheimlehren sind im Allgemeinen in sich geschlossene Systeme, die auf jede Frage eine Antwort geben, allerdings nur im Sinne der Lehre - fragt man von einem anderen Standpunkt, unter einem anderen Gesichtspunkt aus, erhält man die Auskunft: Frage nicht zulässig - du musst deinen Fragestandpunkt ändern, damit du eine Antwort, die Sinn macht, bekommen kannst. Dabei machen diese Lehren durchaus den Eindruck von Offenheit, von Nicht-Abgeschlossensein, denn sie verweisen oft auf eine höhere Ebene, auf der sich Fragen, die sich ergeben und die jetzt noch nicht beantwortet werden können, lösen werden, sind also für eine Entwicklung nach oben offen - ist aber Offenheit gegeben, wenn der Rahmen schon festgelegt ist, innerhalb dessen die Entwicklung stattfinden wird?
Der grundsätzliche Zweifel muss erlaubt bleiben: Es kann alles auch ganz anders sein. Wirkt dieser Zweifel zerstörerisch, wird er als der Teufel gesehen, der alles in Frage stellt und daher negativ bewertet wird, handelt es sich im Grunde um ein religiöses System, um Glaubensüberzeugungen, die Bejahung brauchen, um sich festigen zu können, keine zersetzenden Infragestellungen. -

- Offenheit heißt: In der Schwebe bleiben. Geschlossene Systeme lassen Dinge nicht in der Schwebe - sie sind fest gebaute Architekturen, ein Stein stützt den anderen, baut auf dem anderen auf, der Bau stemmt sich so gegen die Schwerkraft des Alltäglichen in wunderbar kühner Konstruktion - und fällt trotzdem, weil selbstbezüglich, in sich zusammen, entfernt man auch nur eine Stütze. Was aber hat meine Sehnsucht, mich über mich selbst zu erheben und zu entwickeln, mit irgendwelchen speziellen Überzeugungen zu tun?
Mit dem Glauben an die historische Existenz Atlantis zum Beispiel, der in den meisten dieser Lehren wie selbstverständlich mitenthalten ist? Ein literarischer Mythos, dessen Entwicklung und Ausarbeitung im Laufe der Zeit nachvollziehbar ist, der daher eher unter die allgemeinen Glaubensüberzeugungen und -programmierungen fällt? Aus einer Anmerkung innerhalb eines Gründungsmythos der Athener, der von deren Vorfahren und ihrem heldenhaften Kampf gegen ein in Vergessenheit geratenes sagenhaftes Volk erzählt, wurde die feststehende Tatsache eines untergegangenen Kontinents, dessen vormalige Existenz alle Ungereimtheiten der Geschichte erklärt. In Romanen und Visionsberichten wurde er in Folge detailliert beschrieben und nimmt seitdem auf der mentalen Landkarte einen fest umrissenen Ort ein: Atlantis gab es gewiss, den man weiß, wie es aussah…
Muss ich an Atlantis als einmal real existierend gewesen glauben (obwohl jeder Beweis bisher widerlegt oder durch eine andere These überholt worden ist), um von der Möglichkeit überzeugt zu sein, über mich selbst hinauswachsen zu können? Da die meisten dieser Lehren, die dies im Angebot haben, auch Atlantis im Programm führen, scheinbar ja - nimmt man diesen Baustein weg, kann der Rest wohl auch nicht bestehen bleiben, also glaubt man an Atlantis oder an andere Offenbarungen, da die eigene Erfahrung des Weges dessen Wirklichkeit und die der Lehre verbürgen.
Programmierung. Man ist einer neuen Programmierung in die Falle gegangen. Das alte Programm (die heutigen historischen, geophysikalischen oder sonstigen Wissenschaften) sagt mir, Atlantis gab es nicht, das neue (sich als uraltes gebend) will mich dazu bringen, zu glauben, es gab Atlantis. Solange es aber dafür nur spiritualistische Beweise gibt, die ich nicht überprüfen kann, und archäologische Beweise nicht so eindeutig sind, dass sich darauf eine Rekonstruktion stützen kann, muss diese Frage offen gehalten werden, im Schwebezustand zwischen nein und möglich. -
So zweifelnd wie ich war der Maler nicht. Er nahm die Überlieferung, das traditionale Gedankengut als etwas, was es wert war, sich damit zu beschäftigen, es aufzunehmen. Er nahm es als Weg, als Hinführung, als Rätselspur, als Aufgabe.

Das, was den Maler anzog und überzeugte, die Kette der Überlieferung, auch äußerlich nachvollziehbar in den wie rätselhafte Monumente im Strom der Zeit auftauchenden Zeugnissen, hier als gnostischer Papyrus, dort als mündlich tradierte Sage, erwähnt in einer Schrift aus dem Altertum, oder als Zaubertext auf einem Amulett in einem Grab gefunden, scheinbar einen ununterbrochenen unterirdisch fließenden Strom markierend, der bis ins Heute reicht, bis in die neuzeitliche Tradition der Geheimgesellschaften hineinwirkte, gerade dem stand ich skeptisch gegenüber. Wie sollte so etwas möglich sein? Die Überlieferung verändert, kehrt den Sinn um, verzerrt oder simplifiziert. Die Überlieferung wird unterbrochen, neu aufgenommen und anders interpretiert. Wie sollte irgendetwas unverändert die Zeit überdauern?
"Was wäre, wenn es noch einen anderen Zugang zur Kenntnis über diese Dinge gäbe, als den durch Überlieferung - durch deren Aufnahme, Annahme, dem Nachdenken darüber? Einen direkten Zugang dazu, im überklaren Zustand des Bewusstseins möglich, zu allen Zeiten immer wieder gefunden, lichthelle Erkenntnis, die sich durch sich selbst bestätigt? Durch darin Eingeweihte gefunden, in einer Traditionslinie stehend, die das Geheimnis des Zugangs bewahrt und vermittelt hat? Was, wenn die Überlieferung nur der Abglanz, der Widerschein, die Außenseite der unmittelbaren Erfahrung wäre?
- Und noch etwas (er hatte eines seiner Gegenbeispiele, wie er sie liebte, parat): Gurdjieff hatte als Jugendlicher eine Art Aufwacherlebnis, als er einen Bericht über die Entzifferung und vorläufige Übersetzung babylonischer Keilschrifttexte las, bei archäologischen Ausgrabungen nahe Mosul entdeckt, und er feststellte, dass dort eine ihm seit seiner Kindheit vertrauten Erzählung aufgefunden worden war: Ihm vertraut durch die Stimme seines Vaters - als Balladensänger und Epenerzähler in Armenien bekannt und berühmt - der diese Geschichte oft rezitiert hatte, und den er sich einmal mit dem Popen darum streiten hörte, ob der Bericht über die Sintflut original aus der Bibel stammte oder doch eher auf ältere Quellen zurückging wie sein Vater meinte und als Beleg sein Epos zitierte. Das Gilgameschepos.
Nun wiederentdeckt in den verschüttet gewesenen Trümmer der Bibliothek Assurbanipals in Ninive, eingeritzt auf Tontafeln vor über 3-tausend Jahren.
So lange Zeiträume also konnte eine mündliche Tradition überbrücken - fast unverändert einen einmal geschaffenen Heldengesang weiterreichend. Und du, an Zeitungsartikel gewöhnt, die 5 Minuten nach dem raschen Überfliegen zerknüllt und weggeworfen sind, schon vergessen bevor zu Ende gelesen - du kannst nicht akzeptieren, dass es Tradierungen gibt, die Völkerbewegungen, Vertreibung, Zerstörung, den Aufstieg und Fall von Großreichen und Zivilisationen, den Wechsel des Klimas und der Kulturen, den Wechsel der Zeitalter und Epochen, der Religionen und der Weltanschauungen, überdauern?"

Nein, ich glaube nicht an eine unverfälschte Kette von Mitteilungen aus der Frühzeit des Bewusstseins bis zu uns Heutigen. Ich glaube nicht an die Ursprünglichkeit der rosenkreuzerischen, freimaurerischen, theosophischen Systeme und ihrer Deutung des Kosmos. Nicht an eine geheime, aufbewahrte Überlieferung, die uns über diese zugekommen ist. Ich glaube auch nicht an die Inhalte, die mir als gechannelte Botschaften von überirdischen Wesen präsentiert werden und mir die Welt erklären sollen.
Ich glaube an ein Gewebe von Gedanken, Vorstellungen, Begriffen, Visionen, Schauungen, Empfindungen, Anweisungen, an dem ununterbrochen gewirkt worden ist, von der Vorzeit bis ins Jetzt. An dem noch gewirkt wird. An rätselhafte Relikte in diesem Gewebe, Kettenfäden, die bis in die prähistorische Urzeit des Menschen reichen, an neue Fäden, die erst vor kurzem eingefügt worden sind, an eine Vielzahl und Buntheit des Zusammengewobenen. Natürlich verlaufen in diesem Gewebe auch Fäden, die für eine Zeit lang ins Unsichtbare abtauchen und dann wieder an unvermuteter Stelle sichtbar werden, erneut die Textur mitwirkend. Und gewoben wird dieser Teppich der Bewusstseinsgeschichte durch das Ineinanderwirken der Beteiligten und dem immer wieder neu Aufgreifen der Fäden, die einer vom anderen übernimmt.
Ich glaube an ein gemeinsames Webwerk der Sinnsuchenden, Sinndeutenden, Sinnstiftenden, welche die Stränge dieses Teppichs ineinander wirken, jeder seinen eigenen Faden verfolgend und hinzufügend, jeder in der Überzeugung, nur das Alte, schon längst gekannte, nichts weiter als neu ausgesprochen zu haben.
An Philosophen glaube ich, die auf ihre Art den Aufbau der Welt beschrieben, ihre Schau der Realität darstellten, indem sie auf mythische, mystische Vorstellungen zurückgriffen, auf Bilder, die sie vorfanden und denen sie eine gedankliche Ausformung gaben - an Ekstatiker, Propheten, Visionäre, die sich an diese Überzeugungen anschlossen, sie vertiefend, an Glaubende, die sich in die so gefundene Gnosis einübten, an wiederum philosophisch gestimmte Wissende, die Schau und Überlieferung der Gläubigen systematisierten und in ihr Philosophieren übernahmen - an einen fortlaufenden Text der Welterklärung, Welterfahrung also, der dadurch über die Zeit fortgeschrieben wird.
Ich glaube an ein Auf - und Absteigen von Sinn, vom Aufheben vorphilosophischer Erfahrung ekstatischen Erlebens in die Klarheit (und Kargheit) eines Gedankengebäudes, vom Hinuntersinken der Gedanken in empfundene Grundüberzeugungen vom Aufbau des Kosmos, die sich in Visionen und neuen Innenwelterfahrungen ausprägen und wiederum von neuem von jemandem als Gedanken ausformuliert werden, in dieser Runde den Prozess von Visionär zu Abstrakt zu Buchstäblich zu Symbolisch durchlaufend, der Evolutionsorganik religiöser Ideen entsprechend. Von einem Kreislauf dieser Vorstellungsbilder, gleichzeitig-gegenläufig, der als großes Rad in der Zeit die Teppichwirkmaschine antreibt, am Gewebe der Sinndeutung werkend, Kette und Schuss in Bewegung setzend, miteinander -ineinander webend.

Der Maler sah in diesem Zusammenwirken die Fortsetzungsgeschichte der Philosophia perennis, deren Bilder und Weltdeutung er sich anschließen wollte. Ich sah in ihm die einzige uns zugängliche Quelle von Sinn, gleichzeitig aber auch von Irrtum und Halbwahrheiten. An eine überlieferte Urweisheit, uns buchstäblich von übermenschlichen Heroen, Meistern, Engelswesen übermittelt, glaube ich nicht. Und damit auch nicht an die Inhalte, die unter diesen Labeln kursieren.
Ich glaube nicht an Atlantis, nicht an Agartha, nicht an die Weltenzyklen und den Stufenaufbau des Kosmos. Und vor allem nicht an die außergeschichtliche Herkunft dieser Vorstellungen, sondern an ihre Ausgestaltung im Verlaufe dieser ganzen Entwicklung. Und ich glaube an die mythenbildende Tiefenstruktur, der sie ihre Entstehung verdanken, an den Grund, aus dem sie Aufsteigen: An unser Innerstes, aus dem sie ihre Überzeugungskraft erhalten, ihre Wirkungskraft auf uns.
Ich glaube an die innere Wahrheit des katastrophalen Untergangs, an das Bild der Bestrafung von Hochmut und Bösartigkeit (wie wäre die Welt, wenn sie nicht moralisch wäre… Eben: so, wie wir sie heute sehen), ich glaube an die märchenhafte Überzeugungskraft von unterirdischen Höhlensystemen, eine Welt im inneren der Welt, an Könige, Imame (oder einen Kaiser Barbarossa, in einer anderen Sage), die dort auf ihren Auftritt warten, der die Außenwelt verändern wird - ich glaube an evolutionäre Entwicklungsprozesse, die den ganzen Kosmos betreffen, diesen als entwicklungsfähigen Organismus verstanden - warum aber sollte das alles nur in genau dieser Form wahr sein, genau mit diesen Worten gemalt, genau mit diesen Vorstellungen verbunden? Warum sollte ich das so nehmen müssen, wie es mir aufgetischt wird? Als buchstäbliche Realität?

Wenn ich mit dem Maler darüber sprach, stimmte er mir zu - bis auf einen Einwand, jedoch grundsätzlicher Art:
"Du wehrst dich gegen eine Faszination, die dich anzieht und der du nicht nachgeben willst. Warum beschäftigst du dich überhaupt mit Dingen, die du nicht als Real akzeptieren kannst? Warum lässt du sie nicht? Weil sie dich nicht lassen. Weil dich etwas in diesen Vorstellungen berührt. Weil du etwas in ihnen spürst. Etwas zieht dich zu sich hin. Gibt dir etwas.
Du hast kein abstraktes Interesse an kosmischen Welterklärungen, Einweihungswegen, Bildern spiritueller Dimensionen, du wirst von der lebendigen, konkreten Ausmalung dieser Dinge bewegt, die du nicht erklären, aber auch nicht einfach als Nichtig abwehren kannst. Du versuchst sie, als Negativum zu verstehen, als hohle Form, als Sinnvakuum, das dir im Festgefügten die Möglichkeit öffnet, ganz anders zu denken. Und nur als Anlass, das ganz Andere zu ahnen, akzeptierst du sie.
Warum nicht auch als Positivum, als andere Bilder, andere Inhalte, andere Erfahrungen - als Erfahrung des Anderen? Du schätzt sie als Verneinung des Gewöhnlich-Alltäglichen, als Herausführung aus diesem - warum sie nicht als Hineinführung in ein Übergewöhnliches, Überalltägliches, Überwirkliches akzeptieren und dich darauf einlassen? Dich auf das einzulassen, was du wirklich willst: In Kommunikation mit der Realität zu treten, die eben anders ist, als sie sonst gezeichnet wird."
"Aber genau darum geht es mir ja. Um das anders als sonst Gezeichnete und Gemalte. Doch wie diese Inhalte, von denen du sprichst, heute auftreten (und das war deine Rede…), sind sie nicht anders - sie gehören völlig ins Hiesige, Normale. Mit ihnen wird gehandelt, mit ihnen wird Geld verdient. Mit ihnen wird Ansehen gewonnen. Anhänger gefunden. Meinung gemacht. Sie sind ganz und gar von dieser Welt. Sie sind geworden, gemacht, aus Interessen entstanden. Sie sind nicht neu, nicht schöpferisch, nicht produktiv. Sie sind Altlasten. Und warum sich diese Lasten schultern, wenn wir die Chance haben, neu anzufangen? Die Ding neu zu definieren? Anders auszudrücken?
Ich weiß, wir sind Primitivlinge gegenüber der Tradition - aber frei in unserem Spiel mit den Bausteinen, die wir aus deren Ruinen ausbrechen konnten. Warum nun genau dasselbe Gebäude nochmals errichten, als Rekonstruktion von etwas Untergegangenem? Warum nicht experimentieren? Die Möglichkeiten austesten? Ungeahntes aufstellen?
Weil wir Angst haben, dass wir uns damit übernehmen, Angst haben, uns zu isolieren, in unserem selbstgezimmerten Bau alleine zu sein, ohne Verbindung zum Größeren, Umfassenderen, das wir doch damit erreichen wollten? Angst haben, den Sinn zu verfehlen, den wir suchen? Genauso kann es uns geschehen, wenn wir in verbrauchten Begriffen feststecken, uns mit schönen Worten zufrieden geben. Uns auf die Autoritäten verlassen, die uns ins gelobte Land führen werden."

"Es ist so, wie du meinst: Alles bisher Gesagte reicht nicht hin. Alles bisher Formulierte versperrt den Zugang eher. Wenn man sich an die Form hält. An die Äußerung. Du hast Recht, wenn du misstrauisch bist, skeptisch gegenüber den Begriffen, die dir vorgebracht werden. Sie sind tot. Erledigt. Leiden an Auszehrung. Aber du hast nicht Recht, wenn du daher alles als Spiel deines Intellekts nimmst, dir frei verfügbar. Wirklichkeit ist Real. Ist Konkret.
Und dir geht es doch um Wirklichkeit, oder? Du musst dich auf das einlassen, was dir begegnet. Auch in den Begriffen, mit denen versucht wurde, das konkrete Ganze zu erfassen. Auch in den Systemen, die aufgestellt wurden, durch systematische Menschen, es gibt solche Naturen, sie brauchen das System, die Systematik, lass' dich dadurch nicht abbringen: Auch sie suchten zu erfassen, was unfassbar ist - es ist ihr Weg, ihr Umgang damit. Und das, was sie gesucht und auf ihre Weise gefunden haben, das Geheimnis zwischen den Zeilen, das kannst du auch hinter ihren Texten finden. Du musst sie dir nur zugänglich machen. Um den Zugang geht es. Den Zugang ins Wirkliche. Und den gibt dir die Beschäftigung mit dem, was du als Überkommen und Hinderlich ansiehst.
Ich nehme diese Vorstellungen wie sie sind, weil sie mich weiter tragen. Warum auf ihre Hilfe verzichten? Ich weiß um ihre Dürftigkeit, ihren Schematismus. Um die Gefahr, dass dadurch der Blick vom Eigentlichen weggelenkt wird. Anders geht es aber nicht. Du sagst, du suchst einen Ausgang aus dem Hier-Ist-Alles-Zu, und die Erzählungen von dem Anderen öffnen dir einen Spalt, der ins Anderswo führt - mehr willst du aber auch nicht.
Ich suche einen Eingang in ein Eigentliches, und dieses Eigentliche erkenne ich in allen Beschreibungen, die je davon verfasst worden sind. Sie geben mir die Idee ein, mich dorthin aufzumachen. Der Impuls aber, aufzubrechen, den bekomme ich nicht durch die Beschreibung. Den bekomme ich durch die Anziehungskraft des Anderen. Seine positive, strahlende Lockung. Seine Existenz. Dadurch, dass ich weiß: hier bin ich nicht, dort bin ich. Das, was zwischen den Zeilen aller dieser Texte steht, ist real. Um diese Realität geht es. Sie öffnet sich mir, wenn ich mich ihr öffne. Und in die Realität eines Dialogs übergehe - keines Monologs, wie du unterstellst.

Ich würde ganz in Selbstbezogenheit, im Autismus enden, wenn ich nicht deine Existenz, so wie du vor mir sitzt, akzeptieren würde, dich als Real, als Wirklich annehmen würde. Es gibt dich, also bin ich nicht allein, also ist unser Gespräch kein Selbstgespräch (ich glaube, manchmal kommt es dir, aus einem anderen Grund allerdings, so vor: Als meinen einsamen Redefluss...) - unser Gespräch ist real, keine Fiktion. Dasselbe nehme ich von dem an, dem ich mich im inneren Gespräch offen lege: Es gibt den Lauschenden, sich mir Zuwendenden, mir Antwortenden (ich muss nur lernen, die Antwort zu hören und zu verstehen...), es existiert eine Präsenz, eine Gegenwart, eine Realität, an die ich mich wende. Es ist kein Selbstgespräch."

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Ich weiß: Viele fühlen sich durch Inhalte angezogen und weggetragen. Sehnsuchtsbewegung. Fluchtverhalten. Mir ist etwas anderes wichtig. Ich stehe vor Rätseln. Suche das Verrätselte. Suche dahinter und davor. Sehe den Text und möchte ihn entziffern. Sehe den Text und möchte zwischen den Zeilen lesen. Schaue auf den Text und möchte hinter ihn schauen. Alles, was an mich herangetragen wird, möchte ich verstehen, indem ich es hinter mich lasse. Möchte es als die Spur eines Eigentlichen nehmen, das sich mir entzieht, wenn ich mich auf die Spur als Eigenes versteife.
Und auch alle diese alten Traditionen, Gedankentradierungen, heilige Schriften kann ich nicht so nehmen, wie sie überliefert wurden, an unsere heutigen Vorstellungen adaptiert (oder sich dagegen sperrend), ich möchte in ihr Jenseits eindringen: In das, woraus sie gekommen sind - nicht die Wortbilder, die Kräfte dahinter interessieren mich. Das Ereignis, dem sie sich verdanken. Dem ich nahe kommen will.

Dagegen kommt es mir vor so vor, als ob die Meisten sich an Worten berauschen, Wort-Trinker sind - aber eigentlich auch nicht an dem Geschmack, dem Aroma der Worte interessiert, wie Literaten etwa, sondern von den Vorstellungen angezogen werden, die durch die Worte aufkommen. Vorstellungen, die ihnen Trost, Zuspruch, Erhebung geben - Hilfe dem Hilfebedürftigen. Vorstellungswelten, in denen sie sich verlieren können, in denen sie sich wieder finden können, Zuhause fühlen können.

Mit welcher Leichtigkeit-Leichtfertigkeit die davon Überzeugten von diesen Dingen sprechen, die für sie wirklich existieren, obwohl sie nur im Sprechen und Benennen dingfest gemacht werden können - und je mehr darüber gesprochen (und geschrieben und gefilmt und ins Internet gestellt) wird, desto realer und selbstverständlicher werden ihnen diese Begriffe - auf was aber weisen sie hin, außerhalb des Sprechens? Auf welche Erfahrung, die in ein Wort gefasst, auf einen Begriff gebracht werden wollte?
Oder geht es schon längst nicht mehr um das Erleben, um dessen Benennen und dadurch Erkennen, sondern darum, ein System von Begriffen, von aufeinander verweisenden Wörtern auszumalen und Worte durch Worte zu verstärken und gewichtiger zu machen? Worte haben zwei Gesichter - sie ermöglichen Erfahrung und sie verhindern Erfahrung. Verhelfen zur Erkenntnis und unterbinden sie. Indem sie sich an die Stelle der möglichen Erfahrung setzen.
Alle diese Begriffe, die in der öffentlichen Esoterik gehandelt werden, scheinen mir mehr von der selbstgenügsamen als der aufhellenden Art. Verweisen auf überholte philosophische Konzepte vom Aufbau der Welt, auf schon im Altertum angezweifelte Welterklärungen, auf Neuerfindungen der unterschiedlichsten Schulen, die antike Begriffe mit modernen naturwissenschaftlichen Erklärungen vermischt haben - erschaffen sie in Wahrheit nicht erst den Bereich, den sie aufzuklären versprechen?

Und die so gehandelten Begriffe werden in aller Unbekümmertheit verwendet, als ob sie selbstverständlich zu nehmen sind, wie Baum, Strauch, Himmelsblau und Wolke (eben sehe ich ein solches Panorama vor mir...) - obwohl auch diese genau anzuschauen wären, was sie den gerade repräsentieren, was gerade darunter zu verstehen sei, in diesem besonderen Fall: Als ob Strauch gleich Strauch und in jedem Fall von Baum und Kraut unterscheidbar. In diesen Büchern werden Begriffe wie Aura oder Strahlung als Gegenständlich genommen, als Realitäten, die unabhängig davon sind, wie wir auf sie gekommen, wie wir ihre Begrifflichkeit gewonnen haben - wie wenn Phänomene und Ereignisse, die da sind, die Eingetreten sind (Jemand hat sie registriert, bemerkt, beobachte) nicht anders als unter diesem Etikett auftreten könnten. Doch das Etikett wird von Beobachtern (wenn es denn solche sind, und nicht nur Nachsprecher) aufgeklebt, die alles unter dem Vor-Urteil der kodifizierten Geheimwissenschaften betrachten.
Genauso wenig, wie es den Baum gibt, gibt es die Aura. Unser mit Vorurteilen geprägter Blick erzeugt beides. Wobei der Baum handfestere Beweise für sich reklamiert als die Aura. Unser Blick ist es, den wir modifizieren müssen, unsere Vorurteile sind es, die wir um- oder abbauen müssen. Ob wir dann dem Baum (dem Tier, dem Menschen) eine Aura zusprechen, die Aura als Baum beschreiben, liegt an den Möglichkeiten unseres Blicks, die Dinge anzusehen und an unseren Fähigkeiten, ihnen in freier Weise einen zutreffenden Begriff zuzuordnen. Wenn wir wissen, was wir dabei tun, können wir von Aura sprechen - wenn wir es dann noch wollen.
Wie schwer es ist, Begriffe auf Erscheinungen aufzuprägen, um sie damit zu Realitäten zu machen, zeigt sich am Beispiel der Wolkenbilder. Wolken entstehen und vergehen vor unserer aller Augen. Aber trotzdem gab es bis ins 19.Jhrd keine Typologie, keine Bezeichnungen, kein System, um ihre verschiedene Erscheinungsformen festzuhalten und sie auf den Begriff zu bringen - erst der Engländer Luke Howard hat diese Typenkunde geschaffen. Goethe, der an ähnlichen flüchtigen und ungreifbaren Phänomenen arbeitete, hat darüber gejubelt (und eine Hymne - Howards Ehrengedächtnis - als eine Hommage an Howard gedichtet).
Seitdem haben wir Kumuluswolken, Zirrusschleier, Stratosgebilde. Gleichzeitig standardisiert diese begriffsgelenkte Sicht auf den Himmel aber auch die erblickten Erscheinungen, wir sehen plötzlich nur Kumuluswolken, wo wir vorher eine Vielzahl unterschiedlicher Wolkengebirge, -pilze, -türme, -festungen, -städte, -heere, -landschaften beobachtet hatten. Nur eben das, was ihnen allen gemeinsam ist, den Kumulusphänotyp, den konnten wir in ihnen bisher nicht sehen. Den haben wir erst durch die ausgearbeitete Phänomenologie gewonnen. Gewinn und Verlust.
Die Begrifflichkeit, die in unserer Muttersprache angelegt ist, öffnet uns die Welt im Bewusstseinsakt - und programmiert uns gleichzeitig auf einen bestimmten Ausschnitt der Welt.

Ich bin an der Wirklichkeit interessiert. Und habe die Vermutung (hier hätte ich früher Gefühl gesagt, aber Ellen zog mich manchmal damit auf: du hast doch gar keine Gefühle, kein Gefühl, du unterstellst, vermutest, rätst...), dass das, was für jedermann klar auf der Hand liegt, nicht alles sein kann. Deshalb suche ich eine Erklärung, die über das allgemein Gegebene hinausgeht.
Der Maler hatte nämlich recht: ich kann mich nicht mit dem begnügen, was ich vorfinde, und dieses Ungenügen ist etwas Grundlegendes, Existenzielles. Es macht mich aus. Ich kann nicht anders. Also sperre ich mich nicht mehr dagegen und rationalisiere meinen Unfrieden mit dem Angebotenen, indem ich ihn als unerfüllbar beiseite lege - ich gebe dem Drang nach und folge den Hinweisen, die mir gegeben werden. Wieder durch Worte - die ich aufnehme, die ich annehme, die sich mir einstellen, die mir zufliegen, die mir ins Ohr fallen. Die mir durch jemand übermittelt werden, den ich als Übermittler akzeptieren kann. Wie den Maler. Aber trotzdem misstraue ich ihnen. Habe nur nichts anderes.


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