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GNOSISROMAN: HELENA


Inhalt:

Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog



Ellens Monolog

Mit Ellen konnte ich über meine Versuche, in die vergessene, verdrängte Tiefe meines Bewusstseins wieder einzutauchen, der schweigenden, der zugangslos gewordenen Welt der Dinge und Erscheinungen einen erneuerten Blick abzugewinnen und sie in meinem Schreiben wieder sichtbar, wieder mitteilbar werden zu lassen - das war es nämlich, was ich eigentlich wollte - reden und doch nicht reden. Sie war eine gute (fast möchte ich sagen: professionelle) Zuhörerin; nahm Anteil an dem, was ich ihr erzählte, aber ihr eigenes Interesse lag woanders - sie folgte einer anderen Spur.
Durch die Gespräche mit ihr über ihren Job - über die Männer, denen sie dabei begegnete, die Erfahrungen, die sie dadurch machte, und wie sie damit umging - war mir etwas aufgegangen: Sie war Feldforscher wie ich, aber auf einem anderen Gebiet. Ich wollte mein Selbstbewusstsein erforschen, wie es sich mir zeigte, ich mich mir selbst als Selbst - sie studierte die Interaktionen zwischen den Menschen, die Charaktere, Neigungen, Untiefen und Tiefen der menschlichen Psyche. Erforschte ebenso wie ich sich selbst, aber als Befindlichkeit in der Begegnung mit anderen und deren Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen. Lernte sich selbst über die anderen kennen. Selbsterkundung, Selbstwahrnehmung, Selbsterfahrung war beides. Für uns beide gab es das zugrundeliegende Ziel der Selbsterfüllung: Sich zu sich selbst zu bringen, zur Identität mit sich selbst. Zu sich selbst erwachen, aus dem Schlaf der Selbstvergessenheit.
Mir war klargeworden, das sich ihre Vorstellung von Entwicklung zwar auf dasselbe innere lernende Wesen bezog, als das ich mich sah, aber ein ganz anderes Gebiet, einen ganz anderen Weg betraf. Für mich war Entwicklung mit einer meditativ-imaginativen Versuchsanordnung verbunden, in der ich, allein mit mir, als Innenerfahrung, meine Erkenntnisgrenzen auslotete.
Sie war viel konkreter, unspekulativer: Entwicklung geschah über menschliche Begegnungen, realisierte sich als Erfahrungsschatz, als Erweiterung des Horizontes, als Springen über vorher vorhanden gewesene Barrieren, als Überwindung von Vorurteilen durch Anteilnahme am fremden Leben, als Einübung in neue Rituale und Praktiken. Geschah in Offenheit für das, was im Leben auf einen zu kam, in Bejahung des eigenen Lebensweges. In Bejahung auch der hässlichen Seiten dieser Erfahrung, als Lerninhalt, als Praxis des Annehmens und sich Überwindens.
So gab es für sie (theoretisch) keine wirklichen Tabus, nur individuelle Grenzen, die beachtet (und geachtet) werden sollten, aber für den einen galt nicht unbedingt das, was dem anderen das Selbstverständliche (und einzig Mögliche) war. Das betraf natürlich vor allem, bedingt durch ihren Gelderwerb, sexuelle Tabus jeder Art, aber es wäre falsch, ihr zu unterstellen, Entwicklung wäre für sie nur neue Erfahrungen auf diesem Gebiet. Zu akzeptieren, was einem das Leben zuführt, wenn man sich dafür öffnet, war ihre Art, Entwicklung möglich zu machen.

Wir waren, dachte ich, auf dasselbe Ziel hin orientiert - nur in unserer Strategie unterschieden wir uns grundsätzlich. Unbewusst (dass heißt, mir war es bis jetzt nicht klar gewesen) war ich ein Mönch, ein Asket, ein Puritaner - ich vermied alles, was mich in die "Welt" verstricken konnte, aus Opposition zu ihr. Sie war, im Gegensatz zu mir durchaus bewusst, ein Mensch, der sich ins dichteste Gewimmel stürzte, hinein ins Dornengestrüpp der Verwicklungen, Anziehungen, Triebe, Begierden, nichts vermeidend, nichts auslassend, um am Ende doch unversehrt jenseits der Hindernisse und Gefährdungen wieder aufzutauchen, die "Welt" durch Erfahrung hinter sich lassend, während ich in meiner vermeidenden Haltung wie gebannt vor der bedrängenden, bedrohlichen Wildnis stand und nicht weiterkam.
Sie dagegen war der Typ des Barbelo-Gnostikers, jener von ihren Gegnern als ausschweifend beschriebenen Sekte in der Antike, die nicht durch Bekämpfen, sondern durch Annehmen überwinden wollten - der Typus der geworfenen und doch geretteten Sophia, wie im Mythos beschrieben. Nur ihren Simon Magus, der sie sich aufgezogen hatte (wie er meinte), und sich als ihr Meister sah, den konnte ich in seiner Rolle nicht akzeptieren, konnte nicht verstehen, wie sie von ihm je abhängig gewesen sein sollte oder vielleicht sogar noch war. Hier blieb mir ein Geheimnis. Wenn sie sprach (und ich erlebte ihre Worte als wahr), wer sprach dann - sie oder der Abwesende? Gab er ihr diese Tiefe? Oder sie sich selbst? Und wenn sie ihn zitierte: War es ihr Teil, oder seiner, der mir das Gesagte als wahr erscheinen lies?
Wenn sie einige dieser scheinbar leichthin ausgesprochenen Selbstverständlichkeiten (die es doch so nicht waren) auf den Punkt brachte, hatte ich dabei jedes Mal einen Anhauch von Scham darüber, nicht bei dieser einfachen Wahrheit, die ich auch einmal besessen und verstanden hatte, geblieben, sondern in kompliziert verschachtelte Welten abgedriftet zu sein, in der das Gerade krumm und das Krumme zerbrochen war, die Ganzheit zerstückelt und das Zusammengehörende getrennt. Freilich, ein Zurück gab es für mich nicht: Einfache Wahrheiten blieben für mich zum Klischee verkommene Einsichten, auch wenn ich die ursprüngliche Evidenz noch ahnen konnte, mir ihr Wahrheitsglanz durch die ikonenhafte Übermalung noch schimmerte.
Wie etwa ihre selbstverständliche Annahme, dass jeder sich darum sorgen würde, sich selbst zu entwickeln, sich selbst zu verbessern, sich nicht auszuruhen im Erreichten, kein im jetzigen Zustand stehen Bleibender, sondern ein Werdender zu sein. Weil der jetzige Zustand nur ein vorläufiger sein konnte, nur behelfsmäßig war, solange ein inneres Ideal, nie ausformuliert aber dennoch wirkend, einen auf den Unterschied aufmerksam machte. Und dieses innere Ideal ihrer selbst war ihr jederzeit bewusst und gegenwärtig.
Mir dagegen versank mein Bild von mir selbst, wie es hätte sein können oder wie es einmal sein könnte, phasenweise vollständig, ging in der Leere unausgefüllter Zeittotschlagsperioden unter, die mich dumpf zurückließen, hatte ich mich ihnen einmal überlassen und war nur durch irgendeinen Umstand wieder daraus ausgelöst worden.
Freilich wusste ich nicht, ob dieser innere Antrieb zur Veränderung, Verbesserung, Weiterentwicklung ein Segen oder ein Fluch war; Fluch in dem Sinne, dass ewige Unzufriedenheit, Unrast und schlechtes Gewissen daraus folgen, ewiger Antrieb, sich auf eine zukünftige Fülle auszurichten, statt sich mit dem Heute zu füllen und in ihm zu sein.

In vielen unserer Gespräche ging es um Grenzen und ihre Überwindung. Um Erfahrungen jenseits der bisherigen Erfahrung. Nicht als Nervenkitzel, nicht um etwas Neues um des Neuen willen kennen zu lernen, einer inneren Öde zu entkommen, Leere irgendwie auszufüllen, sondern des eigenen Wachstums wegen. Einmal - sie war gerade von einem Wochenendtrip zurückgekommen, hatte sich ausgeruht und war nun in einer nachdenklichen Stimmung, das anstrengende Erlebnis einer Party mit Fesslungs- und anderen Rollenspielen hinter sich - sprach sie mit mir über ihre Haltung zu diesen Dingen:
"Etwas, von dem ich im tiefsten überzeugt bin, ist der Gedanke, dass es im Leben um das Sammeln von Erfahrungen geht, um ein psychisches Wachsen anhand von Erfahrungen, anhand von bewussten, nicht beiseitegeschobenen, verdrängten Erlebnissen. Ich sehe meine Arbeit als Erkenntnisweg, der mich weiter geführt hat, als ich in einem so genannten "normalen" Leben - etwa als Sekretärin in einem Büro - je gekommen wäre.
Ich erlebe viele verschiedene Menschen und Situationen, erlebe die intime Seite davon, und manchmal auch die dunkle Seite. Aber diese drängt sich mir nicht so schmerzhaft auf, wie man es vielleicht in Schicksalsschlägen erfährt - ich erlebe sie dabei ja als beherrschbar, mit Spielregeln; es bleibt doch alles ein Spiel, wenn ich mich auch manchmal frage, wie weit ein solches Spiel gehen darf, bevor es ernst wird, bevor sich die Spieler durch ihr Tun in etwas verändern, was sie am Anfang noch abgelehnt haben.
Ich rede von sexuellen Praktiken, von Neigungen, von Phantasien, die ausgelebt werden, über mich ausgelebt werden können, als Mittel ihrer Realisation. Von Vergewaltigungsszenarien, von Demütigungsinszenierungen, von schmerzvollen Marterungen, von masochistischen und sadistischen Handlungen. Von Pisse und Kot.
Ich habe keine Neigung dazu, vielleicht ein bisschen eine masochistische und exhibitionistische Tendenz, aber nicht sehr ausgeprägt. Aber dafür sehr viel stärker eine Angst vor dem Abgrund, der sich vor mir in Form von realer Vergewaltigung, Verschleppung, Sklaverei, Quälerei, Tötung auftun könnte, wie ich es am Schicksal anderer in den Nachrichten sehe oder in der Zeitung darüber lesen kann - Angst vor der zerstörerischen Seite des Lebens, als Möglichkeit immer im Grund der Existenz mitenthalten, aber normalerweise (vielleicht gesunder Weise?) verdrängt.
Durch meinen Job betrete ich manchmal einen solchen ungesicherten Grund, erlebe Extreme, ein Risikogeschehen, aber eben als Ritual, als Spiel mit Absicherung, mit dem Wissen, das mir nichts wirklich Gefährliches widerfährt, obwohl die Unsicherheit immer da ist: Was, wenn das Spiel in den Ernstfall entgleist?"

"Für mich ist alles, was mir in meinem Job zustößt ein Lernen. Ich wachse. Ich verwandle mich. Ich wachse aber nicht wie ein Baum, der vom Blitz getroffen wird oder vom Wind gebrochen und dann krumm oder gespalten weiterwächst, identisch mit seiner Geschichte. Ich gehe durch meine Geschichte hindurch. Befreie mich im Wachsen von meiner Wachstumsgeschichte. Ich lerne vor allem, Rollen darzustellen, Projektionen auszufüllen. Und bin nicht meine Rolle. Ich bin wie eine Schauspielerin. Ich spiele. Es ist das Spiel, das Spielen, das mir dabei gefällt.
Und es gibt Lust-Spiele, Angst-Spiele, Ekel-Spiele, jeder will eine andere Fantasie verwirklichen - ich bin die Geburtshelferin dafür. Und auch das Spielzeug. Wäre ich mit meiner Spieler-Rolle identisch, könnte ich meine Arbeit nicht tun - es wäre zu viel und zu gegensätzlich. Sich auf Zärtlichkeit wirklich einzulassen ist genauso Anstrengung und Arbeit, wie auf demütigende Grobheit.
Ich bin einfühlsame Liebhaberin dem, der sie sucht. Wer die gepeinigte Sklavin will, kann sie von mir haben. Es macht mir inzwischen nichts mehr aus, von jemanden als Hure beschimpft und herumgezerrt zu werden, gefesselt und mit verbundenen Augen, geschlagen und mit Samen bespritzt zu werden - weil ich weiß: So ist die Verabredung. So geht das Spiel.
Meine Freiheit dabei besteht in der Nicht-Identität mit dem Geschehen: Nicht ich bin gemeint, sondern das Fantasie- und Projektionsobjekt Frau oder Weib oder Hure - genauso wie bei dem zärtlichen Nähesucher, der in den Stunden, die er bei mir ist, die Illusion einer tiefen Beziehung aufbaut. Meine Freiheit besteht in dem selbstgewählten Motiv, aus dem ich das tue und das mich draußen hält: Es geht um Geld. Meine Freiheit liegt in meinem Willen, in jeder Situation das Beste zu geben, die Beste zu sein. Ohne das Geld würde die Szene nicht stattfinden. Keine zärtliche Berührung, kein One-night-stand, keine masochistische Performance.
Das ist nicht emotionale Kälte: Ich kann mich während der Dauer eines Treffens (und ich bin öfters Tage und auch Wochen bei jemanden oder mit ihm unterwegs) ganz an die Gegenwart binden, ganz im Augenblick aufgehen, in der Lust, der Nähe, der Kameradschaft, der sexuellen Attraktion, Hingabe, Demütigung - es gelingt mir meistens, mich ganz auf den anderen einzulassen. Das bindet aber nicht über diese Zeit hinaus.
Ich habe den Ehrgeiz, dem anderen genau das zu geben, was er will und braucht und gut darin zu sein, so gut, dass er meint, ich will tatsächlich geschlagen werden oder ich empfinde wirklich mehr Lust bei ihm als bei jedem anderen - in diesem Ehrgeiz steckt mein Wille, meine Selbstrealisation. Ich will gut sein, in dem was ich tue. Ich will darin ich selbst sein. Und deshalb ist es mein Spiel. Ich realisiere mich in ihm.
Lust ist für mich Lust, Schmerz ist Schmerz, aber ich verliere mich nicht darin - nur für den Gegenwartsaugenblick der Auflösung in ihnen. Ich bin dann wirkliche Geliebte, wirkliches Opfer, für den, der mich als Geliebte, als Opfer braucht - und dafür bezahlt. Wäre es kein Spiel, dann wäre es biografische Realität. Geliebte von jemanden zu sein. Von jemandem vergewaltigt zu werden. Das würde mich verletzlich machen, würde mich verletzen. So aber gehe ich durch die Situationen hindurch und lerne. Distanziert - eingebunden. Frei und engagiert."

"Ich möchte im Konkreten präsent sein. Angekommen und bewusst. Möchte alles, was ich tue wach erleben. Möchte aufmerksam sein. Geistesgegenwärtig. Du ziehst dich in dein Geisterreich der Gedanken zurück. Überlässt das Konkrete den anderen. Du bist süchtig nach Lichterlebnissen, nach Übertreten ins ganz Andere, nach Heraustreten aus dem Alltag. Dir würde nie in den Sinn kommen, im Putzen Erleuchtung zu suchen oder sogar zu finden. Aber Erleuchtung ist in jeder Erfahrung möglich. Ist von jedem Standort aus möglich: Vom Ort der Orte sind wir überall gleich weit entfernt."

"Du arbeitest dich ab, aus dem Gefängnis der Ideologien, der Vorstellungsklischees, der Wörter zu entkommen, die dich mit ihrem untergründig wirkenden Sinn, von dir nicht durchschaut, fixieren - du bist auf deinen Kopf zentriert, auf das, was in ihm vorgeht. Ich arbeite mich damit ab, aus einem anderen Festgelegt sein zu entkommen: Aus dem des Körpers und meinem Verhalten in ihm.
Verstehe mich nicht falsch: Ich bin gerne eine Frau, kann mir nichts anderes, besseres vorstellen (sie lachte: wer will schon ein Mann sein, n'est ce pas?). und auch mein Verhalten als Frau, meine Reaktionen, meine Erwartungen, mein körperliches Unterworfensein stört mich nicht wirklich, ich koste es, im Gegenteil, sogar aus, besonders beim Sex; aber ich möchte mich nicht dadurch in irgendeiner Weise zu etwas gezwungen sehen.
Du erlebst die Welt als beschrieben, und diese Beschreibung willst du nicht mehr einfach nur so akzeptieren. Ich fühle mich in eine bestimmte Verhaltensweise, einen bestimmten Körper festgeschrieben, und will diesen Beschrieb ändern, nach Gutdünken, nach meinem eigenen Willen, will einverstanden oder nicht sein, aber als Autor, nicht als Text.
Ich will nicht so weit wie andere gehen, an meinem Körper herumschnipseln zu lassen, warum auch, er ist zwar nicht perfekt, aber gut genug (an dieser Stelle hätte ich sagen sollen: Er ist nicht nur gut, er ist perfekt - wenn ich nur geistesgegenwärtiger auf gegebene Stichworte reagieren könnte!), die körperliche Unvollkommenheit ist nicht mein Problem, aber ich hasse es, eine Person in einem bestimmten Körper zu sein; manchmal fühle ich mich wirklich wie eine Gefangene, verborgen hinter Mauern, wenn ich morgens in den Spiegel schaue und mein Gesicht sehe. Und du, was siehst du in mir?"
Sie schwieg, blickte zu mir auf, wartete wohl auf irgendeine Antwort. Was sollte ich sagen? Ein schmales, sowohl zartes wie klares Gesicht, ohne jeden Anflug von Falten; Augen, Nase, Mund in harmonischen Proportionen, weder zu groß noch zu klein, Stirn und Kinn deutlich ausgeprägt, aber nicht übermäßig betont - ein klassisch-schönes Gesicht. Sollte ich sagen, wie sehr ich dieses Gesicht liebte, wie sehr es mir gefiel, wie sehr ich es am liebsten küssen würde, und wie wichtig es mir wäre, das ihre Augen mich freundschaftlicher, intimer, auffordernder anschauen würden - ich sagte nichts, der kurze Augenblick irgendeiner Offenbarung ging vorüber, nach einer peinlichen Pause setzte sie ihren Monolog (zu dem war das Gespräch durch meine Schuld inzwischen geworden) nachdenklich fort.

"Schau dich um. Unsere Kultur setzt auf das Begehren. Kitzelt das Begehren. Nach wunderschönen Dingen, nach imponierenden Dingen, nach Dingen, die Prestige verleihen, die Macht verkörpern, die Geld herzeigen. Oder nach Dingen, die günstig sind, ein Sonderschnäppchen, etwas für den gerissenen Einkäufer, den Profi im Konsumkrieg. Und das stärkste Begehren ist immer noch, klar, das Begehren, das sich auf den sexuell attraktiven Körper richtet. Dieses Begehren wird überall eingesetzt, mit ihm wird gearbeitet, manipuliert, geworben, seine Anziehung soll auf weniger Anziehendes übertragen werden. Nichts Neues das, es ist selbstverständlich da, unverhohlen, ein mechanisch-psychischer Reflex, der ständig in Anspruch genommen wird.
Du kannst sagen, dass das Begehren zur menschlichen Natur gehört und deswegen ausgenutzt werden kann, dass es schon immer so war und sich wahrscheinlich nicht ändern wird. Und dass die Stimmen gegen das Begehren von griesgrämigen alten Männern kamen, die dieser Macht, die sie ebenso wie jeder in sich spürten, vorwarfen, sie würde sie in ihrer kontemplativen Ruhe stören. Was auch wahr ist. Das Begehren zerrt, es will etwas, es beunruhigt. Meine Ruh' ist hin...
Einer dieser alten Männer hat von absichtslosem Begehren gesprochen, als dem Ausweis der wahren Kunst, Seelenruhe und Anziehung in einem. Sublimierung. Merkwürdigerweise scheinen ihm die Künstler nicht gefolgt zu sein, sie bevorzugen in der Mehrzahl heute den Schock der Zurückweisung vor der Verlockung durch Anziehung, das überlassen sie der Werbung.
Vielleicht weil das Begehren doch durch die jahrtausend alte Anklage diskriminiert ist? Als etwas, was uns abbringt? Vom Eigentlichen? Oder in Unfreiheit zwingt? Durch seinen Sog? Warum folgt man nicht der Überzeugung einiger, die der Meinung waren, das Begehren an sich führt weiter, führt uns aus uns heraus, zieht uns in die Richtung, in der wir gezogen werden sollen - in die Klarheit, wenn wir dumpf sind, zur Schönheit, wenn wir stumpfsinnig sind, zur Liebe, wenn wir verschlossen sind, in die Weite, wenn wir eng sind...
Du sagst, das Begehren sieht anders aus. Es ist roh. Nicht sublim. Es kann Gewalt sein. Überwältigung. Kann jemanden zum Gefangenen seiner Macht machen, zum Süchtigen, kann jemanden dazu bringen, andere zu seinem Gefangenen machen zu wollen. Aus Begehren. Begehren heißt auch Leidenschaft, und Leidenschaft schafft Leiden. Sagen die weisen alten (griesgrämigen) Männer aller Zeiten und Gegenden. Kann ich unterschreiben. Es ist so. Kann so sein. Begehren ist zweischneidig. Wie alles andere auch..."

"Für mich gibt es das Ideal des Frei seins vom Zwang des Begehrens, wie das Ideal des Mitgenommen werdens durch das Begehren, in der Überschreitung von zu engen Grenzen und Einschränkungen. Begehren macht mich größer, ich begehre nichts, was weniger ist als ich, weniger als das, was ich schon habe.
Auch das körperliche Begehren führt mich aus mir heraus, hin zu anderen Körpern. Sexuelle Entlastung kann ich mir auch durch meine Hand am eigenen Körper verschaffen. Ist auch legitim. Aber sich selbst deswegen Begehren werden die wenigsten..."
"Was war mit Narziss?" (Mein kleiner Einwand war nicht wirklich ernsthaft vorgebracht, ich wollte nur etwas dazu sagen).
"Aber ich möchte auch nicht durch mein Begehren in Abhängigkeit geraten. Diesen Widerspruch muss ich aushalten. Will mich nicht verschließen, und will keine Gefangene eines Zwanges sein. Zwanghaft wäre beides. Will frei sein, begehren zu können und frei sein, Begehren zur Ruhe kommen zu lassen. Das ist das Geheimnis meines Berufes. Ich lebe durch das Begehren, lebe Begehren, will begehrt werden und löse mich doch jedes Mal aus der Umklammerung eines fremden und meines eigenen Begehrens."


Weiter nächstes Kapitel: Pollok