GNOSISROMAN: HELENA
Inhalt:
Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog
Schreiben
Ich neige zu der für einen Schriftsteller scheinbar unpassenden Ansicht, dass Worte mehr verschleiern als Wirklichkeit vermitteln, dass diese eher jenseits der Sprache gefunden werden kann, als in und mit ihr. Gleichzeitig muss ich anerkennen, dass wir der Sprache nicht entkommen können - das stumme Ergriffensein, das wortlose Stehen vor dem Anblick, dem Bild, das ich so viel höher als das beschreibende Wort stellen möchte, zerfällt und vergeht in dem Augenblick, in dem sich das Bild, die Schau uns entzieht - nur die Erinnerung bleibt und von ihr nur das, was in Worte gefasst werden konnte. Das Wort bleibt mir also - und damit etwas wiederum Unerschöpfliches, nicht auszuschöpfendes, es ist kein sich Begnügen, es ist ein sich Bereichern, wenn man mit Worten, dem Wort zu tun hat, mit ihm umgeht. Das war meine Entdeckung in dieser Zeit.
Lange Zeit blieb mein Schreiben sporadisch, auch ungeordnet, meine Notizbücher füllten sich, aber einen roten Faden gab es noch nicht in den vielen Gedankensplittern und kurzen Exkursen, aus denen ihr Inhalt bestand; vielleicht auch bedingt durch die Art ihrer Entstehung: Mich für 1- 2 Stunden an einem öffentlichen Ort zu installieren, mich gleichzeitig davon abzuschirmen und zu schreiben, gelang mir, aber länger und vor allem regelmäßig an etwas durchgängig zu arbeiten, war mein Stil nicht. Einmal schrieb ich eine Art Gespenstergeschichte, fast nur als Pointe, als Kürzest-Geschichte, aber die Idee, die dahinter stand, gefiel mir, und ich begann sie auszubauen, mir immer wieder kurze Absätze zu diesem Keim einer Erzählung notierend. Noch sehr vage handelte sie von dem Erscheinen eines Alternativweltlers (eine Fantasygeschichte also) in unserer Gegenwart, der aber hier nur als eine Art Gespenst auftrat, im Schlaf oder im Wachtraum wahrnehmbar, da er zwischen den Möglichkeiten existierte - herausgefallen durch irgendeinem Umstand aus seinem soliden alternativen Dasein und nicht richtig angekommen in unserer eigenen Solidität. Die sich dadurch als Bewusstseinskonstrukt mit Schlupflöchern herausstellt. Als Fiktion, darin gleich der Alternativ-Welt.
Die ursprüngliche Inspiration zur Ausarbeitung meiner Gespensternovelle, wie ich sie anfänglich genannt habe (jetzt allerdings scheint mir diese Bezeichnung nicht mehr passend) hatte ich durch eine seltsame Begegnung: In einer dieser Hotelbars, die ich auf der Suche nach einem bequemen, angenehmen Schreibplatz ausprobierte (aber hier konnte ich nicht wirklich schreiben, der Raum war überfüllt, das Gedränge zu dicht, der Lärmpegel zu hoch, und kein Rückzug in die Stille möglich), sprach mich plötzlich mein Tresennachbar an - ich hatte ihn vorher nicht bemerkt - und versuchte sich in Smalltalk.
Er begann das Gespräch harmlos mit einer Frage nach einer Zigarette, die ich ihm aber, als Nichtraucher, nicht geben konnte und wechselte dann zu anderen Themen über, wohl um den angeknüpften Kontakt nicht wieder abzubrechen. Fragte, woher ich komme, was ich hier mache, ob ich allein sei und ähnliches, was mich allmählich anfing zu nerven. Dann begann er von sich zu erzählen, kein Name und auch nicht, was er selbst hier machte, aber kurze Episoden aus seinem Leben, oder doch nur erfundene oder woanders gehörte Geschichten? Normalerweise interessiere ich mich nicht für die mir aufgedrängte Lebensgeschichte eines Unbekannten, aber etwas an seinem Tonfall hielt mich am Zuhören. Unvermittelt sagte er:
"...Alles so normal, so real...komme ich ihnen wirklich real vor?"
Mir fiel nichts ein, was ich dazu sagen konnte; jetzt schwieg er, starrte in sein Bier.
"Wissen sie, ich bekomme die Dinge nicht mehr richtig zusammen, erschrecken sie nicht, ich bin nicht verrückt, aber vielleicht ist es mein Zustand... Ist es seit damals, vor ungefähr einem Jahr. Ich ging gedankenverloren über eine Strasse, wollte sie eben überqueren, und merkte plötzlich an einem böigen Windzug, einem pfeifendem Fährgeräusch und heftigem Hupen, dass mich fast ein Auto überrollt hätte...Stand am Straßenrand, zitterte, war wie abwesend, wie wenn etwas in meinem Bewusstsein gerissen wäre...ein durchgehender Faden, ein kontinuierlicher Zusammenhang...plötzlich nicht mehr da...und seitdem gibt es nur Bruchstücke, Erinnerungsscherben und Kurzgeschichten, die sich irgendwie in Nebel auflösen... Wissen sie, ich glaube, ich bin damals gestorben, sterbe jetzt eben und male mir das alles nur aus... Bin ich für sie real? Könnten sie mich vielleicht anfassen und mir sagen, ob ich wirklich bin?"
Was sollte ich ihm antworten? War ich in seinem Traum, dann war jede Antwort irreal, auch wenn ich sage, ich fühle mich wirklich und er fühlt sich für mich auch recht wirklich an. Wie sollte ihn das Überzeugen? Noch schwieriger: meine eigene Überzeugung, Real zu sein, war plötzlich ganz dünn, ganz brüchig geworden, er schien mich mit seiner Verwirrung angesteckt zu haben. Jetzt war ich es, der wortlos in seinen Drink starrte. Als ich schließlich zu ihm aufblickte, war er nicht mehr da. Seine Zigarette kräuselte noch einen schwachen Rauchfaden in die Luft. Aber woher plötzlich diese Zigarette?
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Im Nachdenken über Alternativen - alternative Verläufe und alternative Konzepte - wird man befreit von der unhinterfragbaren Einmaligkeit des Realgeschehens. Das Gefängnis des: es ist so, entlässt einen, erkennt man, es könnte auch ganz anders sein, ganz anders gewesen sein. Und gleichzeitig schärft sich der Blick auf dasjenige, was tatsächlich vorgekommen ist, tatsächlich existiert - man sieht es nun in seiner Bedingtheit und Beschaffenheit. In seiner Abhängigkeit. Die Alternative relativiert und erklärt das Bestehende im gleichen Zug. Deswegen fand ich Parallelweltgeschichten immer interessant. Den Ausgangsort der Gespenstergeschichte, zu der ich durch die Episode in der Bar angeregt worden war, wollte ich deswegen in einer anderen Realität ansiedeln, weil ich den Blick auf unsere eigene Realität lenken wollte, von Außen gesehen, verfremdet.
Auch Koslowski als Name und Charakter fiel mir ein (oder eher zu), als ich in einer Hotelbar saß, über deren Ausstattung sinnierend. Die vorherrschende Farbe war ein dunkles Blau, kontrastiert durch einen rötlich- mahagonifarbenen warmen Holzton, Kannelüren an den Stützen deuteten diese zu Säulen um, im übrigen war viel Spiegelglas und für den Boden neben Teppich auch Stein verwendet worden: offensichtlich sollte die Einrichtung edel, gediegen aussehen. Alles im gedämpften Licht indirekt strahlender Halogenlampen - die breiten Ledersessel um die eigentliche Bar verführten zum sich hinein fallen lassen und sich hinfläzen, um erst nach der letzten Runde mühsam wieder daraus aufzutauchen. Der Tresen war gut besetzt, einige Barbesucher standen auch in zweiter Reihe, sich mit den Glücklicheren unterhaltend, die einen Hocker ergattert hatten. Wahrscheinlich gehörten sie als Gruppe zusammen - Manager auf Schulungskurs vielleicht, Teilnehmer an einem der vielen Spezialevents, die in solchen Hotels gerne abgehalten werden.
In dieser Umgebung erfand ich Koslowski, als Bargänger, Nebenmann- Anquatscher, räsonierender Überlebens- Philosoph. Zuerst stand er für sich, dann ordnete ich ihn, ich weiß nicht warum, der Alternativwelt- Geschichte zu, obwohl er im eigentlichen Sinn nichts damit zu tun hatte, oder, im Gegenteil, soviel mit dieser wie mit allen anderen möglichen Geschichten. Aber ich skizzierte in ihm einen modernen Diogenes, einen verfremdeten buddhistischen Bettelmönch, einen westlichen Majzub, seine Wurzeln zogen sich durch viele Welten hindurch, in allen war er derselbe, unbeeinflusst von Umständen, von wechselnden Äußerlichkeiten. So konnte er ebenso gut in einer parallelen Wirklichkeit erscheinen.
Ihm legte ich (war ich es wirklich, der es tat, oder sprach er nicht vielmehr durch mich?) die Einwände in den Mund, die mir im letzten Gespräch mit dem Maler doch nicht gekommen waren, Bedenken oder Empfindlichkeiten, die ich damals noch nicht formuliert hatte. Dieses unausgesprochen gebliebene Unbehagen verdichtete sich zu Koslowski: er war die Antithese. Nicht direkt zu dem, was der Maler gesagt hatte oder explizit vertrat, aber zu vielem, was meiner Empfindung nach damit verbunden, darin mitenthalten war. Andrerseits war Koslowski auch nicht gerade ein positives Vorbild, vernachlässigte er in seiner Einseitigkeit vieles, was mir wichtig ist: ich wäre nicht bereit gewesen, aus Verachtung aller äußeren Umstände, aller Forderungen der Umwelt an mich, das Leben eines Säufers zu führen, eines ausgeklinkten, selbstgenügsamen Einzelgängers, von welchem heiligen Geist auch immer erfüllt.
Ist nicht das Festhalten an der Idee der Selbsttransformation nur noch etwas fürs Hausfrauengemüt, welches sich durch Aquarellmalerei und einmal in der Woche einen Tag im Fitness- Studio weiterentwickeln will, um ein bisschen was für die Seele und ein bisschen was für die Figur zu tun? Ist diese Idee damit nicht dort angekommen, wo sie hingehört: Im durch und durch Banalen, Abgedroschenen, Durchgenudeltem? Oder ist sie etwas Essenzielles, Nicht-Tot-Zu-Machendes, weil in jedem Ich sich immer wieder neu verwirklichend - gerufen und ungerufen?
Überhaupt das Ich - jeder hält sich für eines, aber was an all diesen Original- Ichs ist schon original? (Und auch an diesem Gedanken...). Sind wir nicht alle aus Versatzstücken zusammengesetzt, Flickwerk aus unterschiedlichen Einflüssen und Herkünfte - von uns nicht überschaut, geschweige denn kontrolliert? Und dieses Sammelsurium-Ich arbeitet an seinem Selbst-Ausdruck - isn't that ironic? Und wenn sich dieses bedingte Ich auf den Weg macht, sich zu einem wirklich in sich begründeten Ich zu entwickeln, unter dem Banner der Selbsttransformation - wo landet es? Im buddhistischen Alles-Ist-Eins Urselbst, jenseits aller individueller Persönlichkeitseinschränkungen? Und das hieße ja auch, jenseits aller Differenz und aller Differenzen, die Unterschiede, Gegensätze, ein Gegenüber begründen?
Wer darauf bestehe, immer sich selbst zu sein, brauche sich selbst als besseren Zwilling. An ihm kann er sich messen, kann er sich spiegeln. Braucht ein Idolon von sich selbst, wie er in Wahrheit ist, jenseits des Zufalls. Sein Zwillingsgespenst, mit dem er sich in einer möglichen Zukunft verabredet. Sein zukünftiges Selbst diktiert ihn, bindet ihn, und gibt ihm zugleich Konstanz, Substanz. In all den freiflutenden Möglichkeiten - der Wind, der weht, wohin er will - zwingt mich der Kontakt mit mir selbst in eine eindeutige Form, die ich erreichen, ausfüllen will. Dadurch bin ich aber auch Ertrinkender im Mahlstrom der ständigen Veränderungen und greife nach meiner Identität wie nach einem Strohhalm - und mehr als ein Strohhalm ist diese zerbrechliche Identität auch nicht. Koslowski dagegen sagt: Warum sie nicht in den Wind schreiben? Warum nicht den Sturm, die Welle reiten? Ich weiß dann zwar nicht, wer reitet, aber als Surfer balanciere ich auf der Welle, als Fisch schwimme ich in der Welle, als Vogel schwebe ich über der Welle.... Frei von ihr, verbunden mit ihr...
Die betrunkene Persona Koslowski schickte ich in das Labyrinth solcher Gedanken um Identität und Auflösung im Ursprung, um Erlösung vom Verwirklichungszwang von Urbildern, um die Realisation eines durch alles reichenden singulären Ereignisses, das seinen Namen trägt, einer stehenden Welle im fließenden Vorüberziehen der Dinge - ich machte ihn zum Wellenreiter auf einer Tsunami- Woge, die seine Welt in Trümmer legt, unbeschadet durch die Bruchstücke manövrierend, während der Wirbel der Veränderung alles erfasst. Nur das trunkene Ich Koslowski übersteht die Transformation, da er, an jede Veränderung angepasst, jede Veränderung mitvollziehend, durch keine Veränderung berührt wird.
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Die Alternativwelterzählung war, wie gesagt, noch nicht sehr deutlich ausgearbeitet, bestand aus einzelnen Motivskizzen, unverbundenen Sätzen und kurzen Abschnitten, zwischen meinen übrigen Notizen verstreut, die andere Absichten und Projekte betrafen. Eines davon ist durch den Maler angestoßen worden, durch mein Zusammensein mit ihm und durch das Bild, der Alchemist, das er mir verkauft hatte.
Mit ihm verbindet mich etwas, was ich noch nicht durchschauen, nicht ausloten kann. Ich finde mich durch das Gemälde in etwas verwickelt, was weiter geht, mich mitnimmt, aber ich weiß noch nicht wohin. Es steht am Anfang einer inneren Entwicklung, die durch den Maler angeregt wurde. Er sagte mir, ich solle mich damit beschäftigen und zu ihm kommen, wenn mir irgendetwas dazu einfallen würde, egal auf welcher Ebene der Reflexion: Betrachtungen über die Farbe, über den Bildtitel, über das Format; nachsinnen über das Thema, die Komposition, die Formelemente: alles wäre in Ordnung, wäre willkommen, würde mich weiterbringen. Er sagte nicht wohin weiterbringen, sagte nicht warum, brachte mich aber dazu, mich darauf einzulassen. Und bewirkte damit mindestens zweierlei: es begann ein intensiver werdender Austausch mit dem Maler über die Intention seiner Arbeit, die Hintergründe seiner Bilderwelten.
Parallel dazu fing ich selbst ein Projekt an, das für mich immer wichtiger wurde, immer mehr Raum in meinem Leben einnahm: ich entwickelte das Konzept einer Geschichte über einen Alchemisten. Vertiefte mich deswegen in Historisches: das Erscheinen der Alchemie in den verschiedenen Epochen ihres Auftrittes. Und fühlte mich besonders zu einer Zeit, einem Landstrich hingezogen, die mir beide bisher ein weißer Fleck in meiner Bewusstseins- Landkarte geblieben waren: dem Frankreich des frühen 16. Jahrhunderts, insbesondere die Gegend des ehemaligen Herzogtum Groß- Burgunds. Hier musste mein Alchemist gelebt, hier seine Ausbildung, seine Prägung bekommen haben.
Ich begann, alles zusammenzutragen, was ich über diese Gegend in Erfahrung bringen, über diesen Zeitraum herausfinden konnte. Und alles, was mir unter dem Stichwort Alchemie begegnete. Aber bei diesem intellektuellen Arbeiten blieb es nicht. Eingeführt durch den Maler, der mir seine Mythologie auseinander setzte, hatte ich begonnen, Übungsweise symbolische Vorstellungsbilder zu entwickeln, die sich festigten, präzisierten, und anfingen, eine Rolle auch in meinen Träumen zu spielen. So begann ich auch von dem Alchemisten zu träumen, den ich mir, über die Fakten hinweg oder hindurch, angefangen hatte als Person auszumalen. Mir ein konkretes Bild von ihm zu machen. Das rührte etwas auf, was wirklich seltsam war.
An zwei merkwürdige Erlebnisse kann ich mich ganz deutlich erinnern - sie haben sich mir eingeprägt. Ein Art Traum und eine Art Vision, ich kann sie nicht anders benennen, obwohl sie nicht das waren, was ich unter dieser Bezeichnung verstanden hätte.
Einmal geschah etwas mit mir, als ich vor einer Schaufensterdekoration stand, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund (denn es gab keinen besonderen Anlass oder Anknüpfungspunkt) modisch gekleidete Figuren ausstellte, über deren Puppenköpfe spitze, meterhohe Papiertüten gestülpt waren. In meinem Bauch krampfte es, mich fror, eine plötzliche Schwäche lies meine Beine zittern. Aber warum schockte mich diese Gruppe in ihrer Pose erstarrter Schaufensterpuppen? Was rührte sich in mir, so stark, dass mir beinahe schlecht wurde? Erinnerungen drängten, aber es waren nicht meine Erinnerungen. Bilder überlagerten die Schaustücke, aber es waren nicht meine Erinnerungsbilder. Ein Film unbekannter Herkunft flackerte über die Fensterfront, schemenhaft angedeutete Szenen, blass, undeutlich, fast stärker noch Geruchseindrücke und Geräusche. Verbranntes Fleisch, beißender Rauch, irrsinniges Schreien. Weinen. Stoßendes Weinen. Und der Eindruck, dass ich selbst es war, der hier vor Entsetzen und schneidendem Kummer tränenlos weinte. War ich das wirklich? Etwas drängte sich auf, drängte sich in mich, bedrängte mich.
Ich trat einen Schritt zurück, Normalität kam von den Rändern meines Blickfeldes, hob das Unerträgliche auf, lies es als Überfall eines fremden Bewusstseins erscheinen. Der Alchemist. Ich hatte die Erinnerung des Alchemisten erlebt. Aber warum? Und wie?
Dieses überfallartige sich Aufdrängen fremder Eindrücke machte mich auf Vorgänge aufmerksam, die sich seit einiger Zeit in mir abspielten. Es gab kurze Momente, in denen die Kontinuität meines Bewusstseinsflusses durch eine Art überkreuzende Bilderfolge aufgehoben war; der Faden meiner eigenen Identität riss plötzlich ab und wurde durch einen Querschuss abgelöst, der ein ganz anderes Muster wob. Mir kam der Verdacht, dass sich diese querliegende Identität zuerst in meinen Träumen gezeigt hatte, in einer immer dichter werdenden Folge, in Nächten, in denen eine abenteuerliche fremde Existenz immer weiteren Raum eingenommen hatte, das Bild einer anderen Epoche, das Bild einer anderen Wirklichkeit entwickelnd. Im Traum, oder was ich dafür hielt, war mir der Alchemist nach und nach real geworden.
Denn die Geschichte hatte schon vorher damit angefangen, dass ich eines Morgens verwirrt vor meinem Spiegelbild stand und mich nicht erkannte. Im Spiegel sah ich einen Unbekannten - wer war dieser kleingewachsene Mann, ein wenig angespeckt, schon halb beglatzt, mit diesen erschrockenen Augen, diesem selbstquälerischen Ausdruck, den tiefen Furchen quer über die Stirn, durch langjährige Gewohnheit gefaltet? Mit fragenden Augen blickte ich mich an, blickte auf den Fremden, der mir diesen Frage-Blick zurückgab. Für einen seltsam gedehnten Moment wollte ich mich ganz anders sehen, erwartete ich jemand Anderes vor mir: hagere, herrische Gesichtszüge, verächtliche Mundwinkel, durchdringendes Starren. Dann kehrte sich die Situation um 180°, das erwartete Bild wurde fremd, das Fremde wurde zum Gewohnten. Ich schlüpfte in mein eigenes Selbst zurück, die Irritation verschwand ins nie Gewesene. Und ich tauchte wie aus einem Traum auf, um wieder gewohnter Weise die Rasur zu beginnen, den üblichen 3-Tage-Bart abzuscheren.
Was war eben gewesen? Ich hatte erwartet, einen Anderen zu sehen. Mich selbst, im Spiegel, als einen Anderen zu sehen. Als einen bestimmten Anderen, nicht nur anders, sondern spezifisch anders. Und der beunruhigende Eindruck eines erwarteten Andersseins verstörte mich mehr, als wenn ich mich nur nicht gleich erkannt hätte - irritierend genug, über eine solche Selbstverständlichkeit zu straucheln, aber warum suchte ich ein anderes Gesicht im Spiegel?
Zusammen mit dieser Frage tauchte dann eine zuerst vage Erinnerung an einen Traum auf, den ich geträumt hatte - ich wusste nicht mehr, ob in der letzten Nacht oder Nächte vorher. Ich war allein unterwegs, zu Fuß, folgte einer Strasse, mehr einem Weg, eher noch einer Karrenspur, die sich im überhellen Mondlicht in allen Details abzeichnete; in der Ferne bellte ein Hund, nicht bedrohlich, aber die in alle Richtung ausgebreitete Lautlosigkeit unterbrechend, die diese Gegend als unbewohnt oder als nicht sehr dicht besiedelt kennzeichnete: kein fernes Surren von Motoren auf einer Überlandstrasse, kein Nachtflieger am Himmel, kein Geräusch von Nirgendwo - mein Atem ging gleichmäßig, meine Schritte waren fest, aber es waren nicht meine Schritte, nicht mein gewohnter Gang - ich schaute auf meine Hände, auf den Teil meines Körpers, den ich einsehen konnte und erkannte mich nicht...
Im Traum hätte mich das nicht verwundern dürfen, im Traum nahm man solche und noch merkwürdigere Dinge als Selbstverständlich hin, aber in diesem Traum, in dem ich mich jetzt befand, versetzte mich diese Entdeckung in einen wilden Schrecken, voller Panik versuchte ich aufzuwachen, aber ich träumte weiter, dass ich mich in diesem fremden Körper befand. Ich fühlte mich ganz identisch mit mir, meinem gewohntem Selbst, nur die Hand, die ich vor mich hielt, gehörte mir nicht...
Und dieser seltsame Zustand, wie er nur im Traum vorkommen konnte, schien mir real wie im Wachleben. Ich bückte mich, hob einen kleinen Stein auf, der vor mir in der Wagenspur lag, spürte das Gewicht des kleinen Kiesels in meiner Hand, warf ihn in die Luft, fing ihn auf und schleuderte ihn in das Gebüsch neben der Trasse; und alles war real, fest und zusammenhängend: kein Unterschied zum Nicht- Traum feststellbar. Andrerseits, und das sagte ich mir im Traum, konnte ein Traum mir jeden Realitätsgrad vorgeben, wie sollte ich, im Traum gefangen, feststellen, ob der Traum Kontinuitätslücken aufwies, wenn der Traum mir das nicht vorführte?
Der Körper, in dem ich mich befand, trottete weiter vor sich hin, die Zeit verstrich, nicht anders, wie wenn sie in Realzeit verlaufen wäre, nichts Besonderes geschah. Und plötzlich war ich wach und fand mich in genau derselben Einschlafstellung wieder, in der ich mich hingelegt hatte, eingewickelt in meine Decke. Ich wusste im ersten Augenblick nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war. War überhaupt Zeit vergangen?
Hatte der Maler etwas mit mir angestellt? War dies das Ergebnis der Übungen, die er mir vorgegeben hatte?
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Als ich begann, die Geschichte meines Alchemisten aufzuschreiben, war ich in Versuchung, ihn nach den literarischen Fantasy-Klischees mit magischen Fähigkeiten auszustatten, gemäß dem konventionellen Bild, das man sich von einer solchen Figur macht. Aus dem Anspruch der Literatur, gute Geschichten zu erzählen, Effekte und Steigerungen haben zu wollen, ist eine Gestalt entstanden, die nur in der Fantasie je existiert hat, ist der Magier inzwischen eine genau definierte Figur, mit all den kodierten Fähigkeiten, die ihm selbstverständlich zugesprochen werden und ihn damit ausmachen. Aber irgendwie konnte ich das nicht. Meine Erzählfigur sperrte sich merkwürdigerweise gegen seine literarische Umformung, ein Vorgang, der mir magischer schien als alles, was man jemandem als magisch andichten kann - weil als realer Widerstand von etwas nicht Existierendem erlebt, als konkrete Erfahrung des Widerstrebens einer von mir ausgedachten Existenz. Er bestand darauf (so muss ich es wohl ausdrücken), wahrheitsgemäß beschrieben zu werden, als ein neugieriger, zweifelnder, hoffender und enttäuschter Mensch, skeptisch und enthusiastisch zugleich, innerhalb der Schranken seiner Zeit. Ich wollte ihm gerecht werden. Wem aber gerecht werden, da er ja doch aus meiner Fantasie entstanden war, Teil meiner inneren Aktivität, aus Lust am Schreiben, aus dem Trieb, eine Geschichte zu Papier zu bringen?
Andere magieverdichtete Erlebnisse kamen hinzu, versetzten mich beim Schreiben in einen Zustand gesteigerter Empfänglichkeit für mein Sujet: Dinge, die ich nicht erklären konnte. Einmal beschrieb ich (ich dachte mir den Ort südöstlich von Lyon, auf der anderen Seite der Alpenscheide, schon im heutigen Italien) den Anblick und Aufstieg zu einer Burg, auf welcher den Arzt und Alchemisten ein Abenteuer erwartete - beschrieb das Bild, das sich mir dabei einstellte mit wenigen Worten, wollte mich nicht so sehr damit aufhalten, doch ich hatte dabei einen zwar unausgesprochen, aber deutlichen Eindruck der Szenerie. Wenige Wochen später, bei meiner fortgesetzten Suche nach Anschauungsmaterial und Quellen aus dieser Zeit, fand ich eine Abbildung aus dem 16. Jahrhundert, den Kupferstich eines Ortes im Aosta-Tal: die Burg von Verres, auf einem Felsen am Ufer der Aosta, umstellt von der Kulisse des Hochgebirges. Hatte ich dieses Bild früher schon irgendwo gesehen gehabt? War es eine untergegangene Erinnerung? Vielleicht aus der Kindheit? Es traf mich wie ein Schlag: genauso stellte ich mir den in meiner Fantasie selbsterschaffenen Ort vor.
Und diese Träume, die mich dazu gebracht hatten, das Projekt überhaupt erst anzufangen: welchen Hintergrund hatten sie? Der Maler gab mir die Technik des Bildvorstellens, aber sie verselbstständigte sich, brachte mich mit etwas in Berührung, was außerhalb meiner eigenen Bemühungen lag: der Alchemist, der in mein Leben trat, hatte sein eigenes Leben. Was war er für mich? Mein Schreiben über ihn war mehr eine Bändigung seiner beunruhigenden Existenz als die Konstruktion einer Kunstfigur. Dabei musste ich ihn Schritt für Schritt entdecken, malte ihn mir nach und nach aus, hatte aber mehr das Gefühl, jemanden kennen zu lernen als jemanden zu entwickeln. Magie! Angemessen wohl, wenn es um einen Magier ging... Der doch kein Magier in dem Sinne war, wie er heute als Klischee durch die Fantasy-Literatur geistert.
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