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GNOSISROMAN: HELENA


Inhalt:

Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog



Pollok

Mit dem Maler verband mich eine andere Art von Beziehung als mit Ellen. Unsere Gespräche waren von anderer Art. Meistens sprachen wir (mit ihm konnte man aber auch ohne Peinlichkeit lange Zeit schweigend zusammensitzen) über etwas, was seine Malerei, ein Bildthema von ihm, die Kunst im Allgemeinen oder ähnliches betraf. Ich merkte bald, dass er sehr viel gelesen haben musste, obwohl ich in seinen Räumen kaum Bücher sah, im Kontrast zu meiner Wohnung, in der jede Ecke vollgestellt mit Büchern war, die nicht nur die Regale füllten, sondern auch jede sonst nicht anders benutzte Abstellfläche.
Irgendwann sagte er beiläufig: Er hätte eine umfangreiche Bibliothek in der Wohnung seiner Exfrau zurückgelassen, in einem anderen Leben - das war das erste und auch einzige Mal, dass er etwas von einem früheren Selbst andeutete, einer Existenz vor der als Maler in seiner Atelierklause. Die Bücher schienen Vergangenheit zu sein, nicht aber deren Inhalt. Er konnte vorsokratische griechische Philosophen zitieren, Heidegger, der über sie gesprochen hatte, Derrida oder Deleuze, die sich wiederum an Heidegger rieben.
Aber auch in entlegenen, schon längst vergessenen Episoden amerikanischer Kulturgeschichte kannte er sich aus, einmal sprach er über einen Pascal B. Randolph und sagte, dass dieser 1825 als Sohn einer schwarzen Prinzessin aus Madagaskar und des Gouverneurs von Virginia, in der Kanalstrasse 70, meinem Nachbarhaus sozusagen, auf die Welt kam, was mich auf ihn neugierig machte. Er erwähnte es in einem Gespräch über den Guru, wie er zwischen uns nur hieß, und dessen Weltsicht, die er im Ursprung (mit Umwegen) auf eben diesen Randolph zurückführte. "Blavatsky feierte dessen Tod als Abgang des leibhaftigen Widersachers", sagte der Maler.
Er schien sich intensiv mit der Geschichte der westlichen Magie und der Geheimwissenschaften beschäftigt zu haben, jedenfalls erwähnte er in seinen kürzeren oder längeren Exkursen zu den Titeln oder Sujets seiner Bilder einiges davon. Vom Einfluss der schamanistischen Tradition Alteuropas auf die Orphiker bis hin zu Parmenides und seiner Konzeption von Sein und Existenz - von dessen Praxis als Arzt-Magier, Gesetzgeber und Weisheitsfreund, der die Realität von Wachzustand, Traumschlaf und Einweihungswachtraum noch, anders als wir, zusammensah - von den Gnostikern, den Alchemisten, den Hermetikern Alexandrias, die einen Kosmos entwarfen oder fassen wollten, der weit mehr Innenbild war, als wir uns heute eine Kosmologie vorstellen möchten - von den Bewahrern dieser Tradition in Harran, die sie an die arabischen Mystiker und Sufi-Meister weiterreichten - von den Magier-Philosophen der Renaissance, die diese Bilder aufgriffen und John Dee und auch Shakespeare beeinflussten - von dessen Schauspiel "Der Sturm" und seinen verborgenen Hintergründen - von einem Anastasius Kirchner, der nach der allen zugrunde liegenden Urschrift forschte, nach den 72 Namen der Engel und Sternengötter - von Newton und seiner alchemistischen Suche nach der Kraft, die alles zusammenhält, alles durchseelt - von der Veränderung, welche die geheime Wissenschaft in den Zirkeln der Gegenaufklärung durchmachte - von ihrer Neubegründung (...nichts Neues unter der Sonne...) durch Eliphas Lévi, durch Gébelin, der das Tarot als Geheimkunde erfand, durch Papus, durch die Großmutter aller Geheimwissenschaften, Blavatzky, durch den Ordo Templi Orientis und schließlich auch Aleister Crowley, der diese Reihe auf seine Art fortsetzte. Gurdjieff erwähnte er merkwürdigerweise weniger, obwohl dessen Denkweise einen nicht geringen Einfluss auf seine eigene Auffassung der Dinge hatte, wie ich vermutete (allerdings hatte ich mich zuwenig mit Gurdjieff und seinen Schülern beschäftigt, um das wirklich beurteilen zu können).

Am liebsten, am häufigsten sprach er allerdings über die Malerei, im Allgemeinen und im besonderen Fall seiner eigenen, und über andere Maler, wobei auf diesem Gebiet sein Lieblingsthema Jackson Pollock war, der Maler, dessen Bilder mich an seine erinnerten, vielmehr umgekehrt, da Pollocks Bilder zur Geschichte der Moderne gehörten, überall veröffentlicht und ausgestellt waren. Er schien sich mit ihm in irgendeiner Weise zu identifizieren, ihn sich zum Vorbild genommen zu haben, so dachte ich jedenfalls. Fragte ihn auch einmal danach, als wieder Pollocks Namen aufgetaucht war.
"Erinnern dich meine Bilder an seine?" - stellte er eine Gegenfrage.
"Das höre ich oft, ich kann es verstehen, es ist aber nicht so, dass ich ihn kopiere, oder vielleicht doch so, aber in einem anderen Sinn. Es ist komplizierter. Ich habe mich intensiv mit ihm beschäftigt, mit seinen Anfängen, seinen frühen Werken, mit denjenigen, die mir am nächsten liegen und mit denjenigen, die ihn berühmt, die ihn zu einer Marke gemacht haben, einer Premium-Marke, würde man heute in der Werbebranche sagen. Ich glaube, ich kann ihn verstehen und nachvollziehen, was er mit dem Übergang von der Staffelleimalerei zu den estrichgroßen Leinwänden getan hat. Für ihn war es ein ungesicherter Schritt, experimentell und wagnisbelastet, da er sich damit in ein unbekanntes Terrain vorgetastet hatte (oder: vorgestürmt war?). Ich muss zugeben, ich hätte es nicht gekonnt - könnte es nicht."
"Erinnerst du dich an den Film über seine Malweise (du kennst ihn doch? Er wurde vor kurzem wieder im Fernsehen gezeigt), in dem man ihm bei seiner Arbeit zusehen kann. Pollock war verstört, als er in der Filmaufnahme sich selbst von außen sah, wie er seine heilige Handlung des Malens vollzog. Es war nichts heiliges mehr daran, nicht derselbe Prozess, in dem er sich bewegte, schwamm, flog - (erst nachdem er aus dieser Handlung aufgetaucht war, sah er aus der Distanz ihre Spuren auf der Leinwand: Und siehe, es war gut). Von außen gesehen war er bloß jemand, der ein geheimnisvolles Brimborium daraus machte, eine Leinwand vollzuklecksen. Aber er war doch kein Betrüger! Er wusste doch, dass er sich in einer eigenen Realität bewegte, während er den Prozess vollzog. Er wusste, was er tat, während er es tat! Ich habe bis jetzt nicht den Schritt in diese selbstbezügliche Handlungsebene gewagt, den Prozess, von dem das Bild nur noch die Spuren bewahrt.
Ich brauche noch das Symbol, oder das, was man als Symbol in meinen Bildern lesen kann, um mir zu versichern, dass ich eine Realität berühre. Sonst würde ich das Gefühl haben, Tapeten zu produzieren, sinnloses Gekrakel, gefällige Dekoration. Bei diesem Schritt, den er getan hat, kann ich ihm noch nicht folgen, stattdessen vertiefe ich das, was er vorher gemacht hat. Male die Bilder, die er nicht mehr malen wollte oder konnte, weil er einen anderen Weg gefunden hatte. Ich bin in seine Nachfolge getreten, als sein selbsternannter Schüler, aber in Bezug auf seine Mythologie, nicht in Hinblick auf seine Maltechnik oder sein Bildfindungskonzept.
Es ist sogar so, dass ich in direkter Umkehr zu seinem Vorgehen arbeite: Er begann mit relativ klaren bildnerischen Vorstellungen, um dieses Bild dann im Weiterbearbeitungsprozess zu übermalen, zu verunklären, vieldeutig zu machen, es aufzulösen... Ich beginne mit nichts Weiterem als mit Farb- und Pinselschwüngen, die sich selbst strukturieren, bis ich an ihnen ein Bilderlebnis habe, dass ich dann verstärke und ausarbeite (Nicht ganz das automatische Zeichnen der neuen Magier im Kielwasser Spares, aber ähnlich).
Wenn Pollocks frühe Bilder und meine sich trotzdem gleichen, dann wegen einer Grundüberzeugung, die wir teilen: Bilder führen uns durch ihre Existenz in ein weiteres und tieferes Lebendigsein, als wir es sonst erfahren - sie konzentrieren, realisieren Möglichkeiten, die wir auch in uns haben und mit ihrem Vorbild ausarbeiten können.
Genau wie er werde ich von der Gestalt des Schamanen angezogen, einem Wegführer in lebendige, innere Bilderwelten, in die ich mich mit dessen Hilfe hineinfinden kann... Ich stelle mir den Schamanen vor und er erscheint mir, wird realer, deutlicher, je öfter ich mich mit ihm beschäftige, wird eigenständig, löst sich von meinen Vorstellungsvorgaben, gewinnt Eigenleben... Wenn er etwas anderes geworden ist als das, was ich selbst gemacht habe, kann ich ihm folgen, er führt mich aus meinen Begrenzungen hinaus und zeigt mir die Stationen, die meinen Weg ausmachen, stellt mich vor die Aufgaben, die sich als Hindernisse, als Sperren aufbauen und bewältigt, überwunden werden müssen, will ich auf diesem Weg weiterkommen und mich entwickeln.
Der Schamane, den ich male, ist dieser innere Schamane, aber das Bild das ich male, ist etwas anderes als ein Abbild von dem, was ich in mir entwickle. Ich male nicht Vorstellungsbilder ab, die ich in mir trage, porträtiere nicht eine Figur meiner Bildfantasie; ich arbeite an einem Gemälde, bestehend aus Farbe, deren Charakter, aus Formen, deren Bezüge aufeinander, aus Dynamik und Rhythmus, und in all diesen Elementen kann ich den Schamanen wiederfinden, wenn es sein Bild werden soll... Später verdeutliche ich den Bezug zu dem entstehenden Thema, indem ich Elemente einführe, die das Ganze kenntlicher machen: Ein runder Fleck wird die Ahnung eines Gesichts, ein schwarzer, breiter Pinselstrich Grundelement einer Maske...
Wenn das Ergebnis dich an Pollock erinnert, dann kann es nur an dem liegen, dass ich in seiner Malerei ein Gleichgewicht zwischen willkürlicher freier Formung und imaginierter Form gefunden habe, in das ich einsteigen konnte - nachahmend seinem Geheimnis auf der Spur, die Fährte verfolgend, die mich in das Rätsel führt, um das es mir geht...
Ich denke, dass ich irgendwann meine ganz eigene Weise haben werde, diese Dinge auszudrücken, bis jetzt aber betrachte ich seine Art als Schulung für mich, als Einübung in einen Bereich, der sich mir dadurch öffnet... Unsere Kultur ist darauf versessen, dass jeder ein Originalgenie ist, das Individuelle, Eigenständige ist fast der einzige Maßstab den sie kennt, der noch akzeptiert wird, alle anderen Kriterien werden in Frage gestellt - und so kann und will niemand beurteilen, ob neben der Originalität, dem Noch-nie-da-Gewesenen, auch eine andere, eigene Qualität in der Arbeit steckt oder eben nicht - mir geht es um diese Qualität, nicht um Originalität.
In anderen Kulturen ging es darum, durch nachahmendes Üben eine Reife zu erreichen, die auch schon ein Vorgänger erreicht hatte - in Nachfolge des Meisters wurde man Meister - in Nachfolge des Eingeweihten wurde man zum Eingeweihten. Pollock habe ich mir zum Meister gesetzt. Er hatte Picasso zum Meister, seinen selbsterwählten Rivalen, seine Herausforderung, denn er lehnte die Nachfolge ab, wollte in keine Fußstapfen treten, quälte sich damit ab, nach und neben ihm auf eigenständige Weise als Maler zu bestehen, die eigene Spur verfolgen zu können..."
Er brach ab, verstummte. Ich sagte nichts. Mir kam dieser Monolog wie eine Rechtfertigung vor - was er ja auch war - als Eingeständnis einer Tatsache, die in unserer Kultur wirklich peinlich ist: Er war nicht originell - die Ursünde in der Moderne.

"Jeder begabte Dekorateur stellt heute Tropfbilder für seine Schaufenstergestaltung her, die dem Prinzip der Bilderzeugung Pollocks folgen, etwas, was dieser ahnen konnte und was ihn in den Zweifel führte - die öffentliche Kunstmeinung ignoriert diesen Zweifel, indem sie das erstmalig Gewagte (was allerdings nicht ganz zutrifft, er war ja nicht der erste, der diese Technik anwandte) als das schöpferische Original etikettiert, die Nachfolgenden aber als bedeutungslose Nachahmer achselzuckend beiseitelegt. Es ist der Trumpf des Pioniers, der hier sticht.
Für Pollock war jedoch etwas anderes wichtig, an das er sich halten konnte: Seine eigene, selbstbezügliche Erfahrung während der Entstehung des Werkes, die ihm die Gewähr gab, dass sein Weg noch derselbe war, nur weiter ins Unbekannte führend, wie am Beginn, als er als Suchender noch auf Bekanntes und Anerkanntes aufbauen konnte.
Aber wer könnte einem sensiblen Dekorateur sein Verständnis dafür, was er macht, sein Gefühl für die Farbe und für das Eingebundensein in den Werkprozess einfach abstreiten, nur weil er nicht der Erfinder dieser Malweise ist? Ich tue es nicht; aber für mich ist auch nicht das Ergebnis dasjenige, um was es dabei geht, sondern die Aktion, und das, was diese im Maler bewirkt. Von daher ist jeder Akt etwas von scheinbar ähnlichen Akten unterschiedenes, da, je nach Person, sein Stellenwert in dessen Leben unterschiedlich sein wird; für den Akteur und auf dessen Handeln bezogen ist es vielleicht ein Kunstwerk, vielleicht auch nicht, diese Bewertung ist völlig belanglos, ist nur für den Marktwert seiner Produktion interessant - und dieser hängt mehr davon ab, ob er als Maler oder als Schaufenstergestalter bekannt wurde und anerkannt ist, ob er als Künstler einen guten Galeristen hat oder nicht, ob er sich als Marke gut eingeführt hat."

Der Maler schwieg einen Augenblick, sein Monolog, den ich nicht unterbrechen mochte, machte eine Pause. Ich spürte Verbitterung in seinen Worten, eine Verletzung, die ihn wohl selbst betraf.
"Ich für mich", setzte er fort, "fühle mich zu sehr im Ungefähren, Beliebigen, wenn ich ohne Motiv arbeiten würde, ich brauche die Verankerung in einem Thema, die Herausforderung, die darin liegt, das Thema zu treffen, das Bild durchsichtig für etwas Eigentliches zu machen, um das es mir geht."
Etwas verwirrt fragte ich ihn: "Für etwas anderes, eigentliches, jenseits des Bildes?"
"Nicht jenseits, nein." Nun war es eine andere Art Erregung, die sich in seiner Stimme bemerkbar machte, als vorhin, da er über den Kunstbetrieb gesprochen hatte.
"Ein Jenseits der Kunst gibt es nicht, die Kunst ist selbst das einzige Jenseits das wir haben, aber ohne dieses Jenseits in der Kunst ist sie keine Kunst..."
Ich verstand. Die Erlösung von, die Errettung aus der alltagsbanalen Welt lag für ihn in der Kunst; und so gab es doch ein Kriterium um Kunst und Unkunst zu unterscheiden: ob sie diesem Anspruch genügte. Und damit war eine Scheidung der Geister und Werke gegeben, Erfolg auf dem Kunstmarkt war für ihn jedenfalls nicht das, was Kunst zur Kunst machte.
"Ich erwarte von einem Bild nichts weniger, als das es ein Ruf ist, der mich erreicht, mich aus meinem Automatenschlaf aufschreckt und mir zum Bewusstsein bringt, dass ich als Mensch existiere, nicht als biologische Maschine... Und wenn kein Ruf für mich, dann für irgendeinen, vielleicht nur für einen einzigen Menschen. Dann ist es ein Kunstwerk, beweist es sich als Kunst. Kunst ist das Refugium der Erlösung. Ist der Weg, der uns geblieben ist..." Wieder stockte er.
Ich weiß, wann ich einen Gläubigen vor mir habe, und es war meine Einstellung, keinen fremden Glauben zu kritisieren, mich aber ebenso wenig auf ihn einzulassen, da beides, meiner Erfahrung nach, zu nichts führte. Ich konnte der Kunst diese Last nicht aufbürden, Erlösungsmittel zu sein, ein Weg aus der öden Fremdheit in ein mögliches reicheres Sein. Eine Öffnung ins Eigentliche, eine Tür ins Daheim. Andrerseits: wenn es so etwas gäbe, wäre dann nicht die Kunst der einzige Bereich, in dem dies legitimer weise möglich schien? Setzte man individuelle Glaubenssysteme einmal beiseite, da diese vor dem skeptischen Blick zurückweichen mussten? Ganz zu schweigen von den orthodoxen Glaubenssystemen der Millionen, die weder Tür noch Fülle waren, sondern, im Gegenteil, Gefängnis und Einschränkung der Möglichkeiten der Existenz...


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