GNOSISROMAN: HELENA
Inhalt:
Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog
Gedankenfallen
Wenn jemand eine exklusive, verborgene Lehre, ein schwer zugängliches Gedankensystem für sich entdeckt, innerhalb dessen er Macht gewinnen kann, indem er Erkenntnisse (und, wie erhofft, Fähigkeiten) akkumuliert, wird er vielleicht beginnen, dieses Gedankensystem auszubauen, es für wahr zu halten und es dadurch wahr werden lassen. Verspricht diese Geheimoffenbarung ihm magische Kräfte und ein ewiges Leben, wird er darauf setzen und seine Welt wird sich nach dieser Lehre ausrichten, seine Interpretation der Realität wird durch das Bezugssystem dieser Lehre geformt werden. Und die Dinge, die ihm zustoßen, werden diese Interpretation bestätigen, da alles in den Sog dieser Art Denkens gerät.
Für den Außenstehenden mögen sich solche Vorstellungen seltsam anhören, wie wenn er von den Tabus eines Südseestammes erfahren würde, und er zwar dessen Wortlaut begreift, nicht aber, wie menschliches Denken sich in ihnen verfangen kann und nicht die selbstgezimmerten Hürden erkennt, die den Einzelnen in den Pferch dieser Weltsicht einsperrt. Jeder andere spaziert unbefangen um die Gatter herum, der Angehörige des Volkstammes sieht diese als unüberwindliches Hindernis. Die Tabus regeln sein Leben und bestimmen es zwingend bis in den Tod - sind also blutige Realität für ihn. Und warum sollten sie auch nicht Realität für ihn sein, das eigene Leben ist so sehr dem Leben anderer verpflichtet, sein Körper und sein Geist wird durch die Gemeinschaft genährt, gepflegt, erhalten, gleichzeitig steht er unter der Drohung, von ihr ausgeschlossen oder verfolgt zu werden, verletzt er deren Gesetze; in allem ist er seiner Gemeinschaft unterworfen - und damit auch deren Tabus, so willkürlich oder seltsam (in den Augen eines Außenstehenden) auch immer.
Für mich klang das, was ich über den Guru gehört hatte, genauso merkwürdig, wie diese fremden Tabus. Jeder zimmert sich sein Weltbild zurecht, das konnte ich verstehen, es gibt im Grunde keine allgemeinverbindliche Sicht auf die Dinge, doch gibt es einen großen, allgemeinen Konsens, der vieles umfasst, viele Anschauungen, Meinungen, Glaubensrichtungen zulässt und für gleich gültig erklärt; die Ansicht des Gurus stand aber außerhalb dieses Mainstreams.
Er glaubte an Magie. An die Manipulierbarkeit innerer und eben auch äußerer Faktoren durch Ritual und mentale Stärke. Vielleicht glaubt jeder ein wenig an Magie - daran, dass es ihm möglich ist, den Verlauf einer Sache durch positives Denken zu beeinflussen, dass Wünsche wirken (bitte, bitte...), dass die Welt, wenigstens ein bisschen, auf uns ausgerichtet ist... Aber er glaubte grundlegend daran. Baute eine systematische Welterklärung darauf auf. Richtete sein Leben darauf aus.
Von außen, von oben betrachtet, ist allerdings unsere Mainstream-Weltsicht auch nichts anderes als ein nur wenig größeres Gatter - mit von den meisten nicht hinterfragten, für sie daher unsichtbaren Zäunen. Wir sperren uns selbst in eine zulässige Interpretation der Dinge ein - schweigen betreten, wenn jemand eine Meinung jenseits davon ernsthaft vertritt, belächeln sie vielleicht - oder wehren uns erregt gegen deren Zumutung. Ignorieren sie jedoch meistens. Fühlen uns in der Mehrzahl in einer bestimmten, durch von uns anerkannten Autoritäten gesicherten Weltdeutung zuhause. Und doch wird es immer Individuen geben, die sich davon befreien, die darüber hinauswachsen wollen. Und wenn ein solches Individuum sich nicht mehr von unseren selbstgezimmerten Schranken abhalten lässt, sie zu überklettern, wenn er unsere gemeinsame Weltsicht verlässt, hat er dann nicht genauso gute Argumente für sich, wie wir für uns? Hat er dann nicht einfach nur unsere gewohnte Seltsamkeit gegen eine ungewöhnliche Seltsamkeit getauscht? Fällt dadurch auf, dass er aus dem Rahmen fällt?
Ich war bereit, zu akzeptieren, dass nicht jedermann eine Standardansicht zu haben braucht (wobei: was heißt das heute schon?), war aber trotzdem nicht bereit, mich auf die Ansichten oder Einsichten des Gurus positiv einzulassen. Zu verquer, zu herbeigewünscht kamen sie mir vor. Zu irreal. Für mich hatte der Guru sich aus dem großen, gemeinsamen Gatter befreit, nur um in einem kleineren Gatter zu landen. Für ihn war es eine Befreiung in die Fähigkeit, sein Leben selbst zu gestalten, selbst zu interpretieren. Sich selbst vorzugeben, was er als Realität annehmen wollte und was nicht. Und in dieser Hinsicht war er mir sympathisch. Warum sich dann aber in eine Weltdeutung wieder einzusperren, die so zeremoniell, ritualisiert, traditionsbelastet war, wie die Magie?
Oder hatte ich eine falsche Sicht darauf? War nicht genügend darüber informiert? Vorurteilsbelastet? Wenn ich zum Beispiel die kursierenden Rezepte las, durch Magie zu Geld zu kommen, musste ich an Crowley und an seine Versuche denken, seine finanzielle Notlage durch magische Handlungen (meistens sexueller Art) zu überwinden - hat dies je funktioniert? Einem so willensstarker Magier sollte doch nicht wegen 5.000 Pfund die Bankrotterklärung abverlangt werden können, wenn Magie wirksam wäre... Ich glaube, die einzige Weise, durch Magie an viel Geld zu kommen, ist, einen Bestseller darüber zu schreiben, einen, in dem Zauberei Thema ist... wie Joanne K. Rowling es vorgemacht hat...
"Es ist grade andersherum", sagte Ellen, als ich so über die Ansichten des Gurus, über Magie sprach.
"Was du Mainstream nennst, ist die Überzeugung einer kleinen Minderheit, die vielleicht die intellektuelle Diskussion bestimmt, aber nicht die der Mehrheit der den Globus bevölkernden Menschen. Die Mehrheit glaubt an Magie, Zauberei, Sympathiewirkung. Überall auf der Welt wirst du Menschen finden, die wie selbstverständlich Glücksamulette benutzen, Vorzeichen beachten, Segenssprüche, Verfluchungen, Liebeszauber kaufen und einsetzen. Sie glauben daran, weil diese in ihren Augen wirken und ihre Wirksamkeit immer wieder gezeigt haben. Einer meiner Kunden, ein hochgebildeter, studierter Mann, Ingenieur, Softwareentwickler, Unternehmer (ich habe übrigens seine Seite im Internet gefunden und dort ein Privatphoto von ihm gesehen, mit seiner Frau, sieht sehr sympathisch aus, zwei süße kleine Kinder...) glaubt ernsthaft an Voodoo, wie er mir einmal gestanden hat, seitdem er sich von einer seiner Mitarbeiterinnen dazu überreden lies, einen Konkurrenten mit einem Schadenszauber zu verhexen und dessen Aktienkurs einige Zeit danach in den Keller fiel - verrückt, nicht wahr?"
"Das reale Leben ist zu komplex, zu undurchschaubar, ist nicht berechenbar, sein Verlauf vorher nicht zu bestimmen - obwohl wir doch alles tun, um die Ding in ihren gewünschten Bahnen zu halten. Das reale Leben ist zu gefährdet, ist zu ungeschützt vor dem plötzlichen Einbruch des Unglücks, das über Nacht alles auf den Kopf stellen kann, jederzeit. Das reale Leben ist zu Sehnsuchtsdurchwirkt, von verlorenen Mühen, ungenutzten Gelegenheiten, folgenlosem Begehren, von Wunscherfüllungsphantasien gezeichnet. Ist zu belastet, um nicht so etwas wie Magie, als Korrektiv, geradezu zu fordern.
Wir brauchen sie. Setzen auf sie. Erhoffen uns von ihr die unrealistische Wendung, die unmögliche Rettung, das unverdiente Glück. Nennen es nur nicht magisches Denken, aber wie anders sollte man dieses irreale Bestehen auf das Unwahrscheinliche, Herbeigewünschte, Ersehnte bezeichnen?
Und das andere, der Zauber des Augenblickes, der unerwarteten Gelegenheit, des Wechsels der Umstände, des Glückszufalls - als was sollten wir es bezeichnen, wenn nicht als magischen Moment? Und wenn sich unser Erleben verdichtet, die Zeit sich zusammenzieht, Lichtjahre sich zu Minuten verkürzen, Augenblicke sich zu Lichtjahren ausdehnen, wir in Sympathie mit allen Wesen verbunden sind, dann erfahren wir den magischen Zusammenhang aller Welten. Das Ursprungsmotiv aller magischen Vorstellungen, die von einem Miteinander aller Dinge und Wesen, ihrer Wechselwirkungen aufeinander, ausgehen, von gegenseitigem Erspüren und Beeinflussen. Wenn wir uns wirklich dem öffnen, was auf uns einwirkt, in einem intuitiven Erfassen, kann man dieses Erleben denn anders als magisch nennen? Im Inneren berührt zu werden von der Essenz eines anderen Wesens - das ist Magie."
"Bei dir klingt das sehr dichterisch und richtig", sagte ich.
"Aber andere reden doch ganz anders darüber: konkreter und werkstattmäßiger. Mit Rezepten für ein Leben in Reichtum und Glück. Mit Angaben zur Wohnzimmermöblierung nach den Prinzipien des Feng-Shui. Mit Ankündigungen von Unheil oder günstigen Ereignissen, mit angstmachenden oder glücksverheißenden Voraussagungen. Mit Versprechungen von Wunschtraumerfüllungen. Und der Guru, (oder sollte ich ihn eher Magier nennen?), wie hat er sich denn sein Magierwirken vorgestellt, was hat er dir darüber erzählt und was konkret getan?"
Sie schien nicht gerne darüber zu sprechen, wich aus:
"Dafür habe ich mich nicht allzu sehr interessiert, dieser Teil seines Denkens ist mir fremd geblieben, manchmal habe ich sogar abgelehnt, ihm zuzuhören, wenn er davon erzählen wollte."
Redete dann aber doch weiter:
"Er erklärte mir, dass es eigentlich egal sei, welche Art Ritual man installieren würde, egal auch, ob die Ritualgegenstände echt oder nur symbolisch angedeutet wären (in dieser Hinsicht unterschied er sich offensichtlich von anderen Magiebemühten), Hauptsache, man entwickele ein Ritual, man benütze symbolisch aufgewertete Gegenstände, die eine Matrix für mentale Energien entstehen lassen würden. Du musst es dir wie die mühsame Bearbeitung eines Steines vorstellen, dem du durch stetiges Schleifen, Bohren, Sticheln ein Muster eingravierst. Oder wie eine Gewohnheit, die du dir antrainierst, eine Fähigkeit, die du einübst. So schaffst du durch Rituale mentale Netzwerke, Organe zum Einfangen oder zum Wirksam werden lassen psychischer Energien, die du zu einem bestimmten Zweck, aus einem bestimmten Grund einsetzen willst.
Kennst du Tschechows Einakter "Der Bär"? Er verwendet darin einen alten Witz: Denke niemals an einen Bären, wenn du dir etwas herbeiwünschen willst, dann funktioniert' s nicht... Worauf man natürlich ständig an das Tier denken muss. Aber das Prinzip ist kein Witz, hat tatsächlich etwas mit Magie zu tun, wie er mir einmal sagte: Erschaffe dir eine detaillierte Vorstellung von etwas, meinetwegen von einem Bären, lasse ihn in deiner Vorstellung lebendig werden, und bringe ihn dann zum Verschwinden. Er muss vollständig aus deinem Denken gelöscht sein, aktiv unterdrückt, ohne Erinnerungsspur. Schwer zu realisieren.
Für die Meisten macht es eher Sinn, sich einen Wunsch, ein ersehntes Ereignis zu visualisieren und dann zum Verschwinden zu bringen - übertragen und eingeschlossen in ein gezeichnetes Symbol, wie es A. O. Spares (eines seiner Vorbilder) vorschlug, einen Erinnerungsmarker, der bei Bedarf wieder aktiviert werden kann. Durch die Wiederholung, Wiederherbeiholung des vergessenen Denkakts. Und dadurch soll sich ein Realisierungskanal für mögliche (erwünschte) Ereignisse öffnen... Sagte er mir. Eine Öffnung für Synchronizitätsphänomene, scheinbar akausal nebeneinander laufend, im übergeordneten Sinn aber aufeinander bezogen oder sich erfüllend. Für Zufälle, die sich perfekt ergänzen. Ein Weg für Magie eben.
Magie ist Philosophie und Technik zugleich, erklärte er mir einmal. Es geht um eine bestimmte Auffassung der Wirklichkeit, das ist ihre philosophische Seite, aber es geht dabei auch immer um ein Handeln, eine Wirkung, und das ist ihr praktischer, technischer Aspekt...."
Hier musste ich einfach einhaken, obwohl Ellen ja nur berichtete, die Meinung des Gurus vortrug:
"Wenn Magie eine wirklich funktionierende Technik wäre", sagte ich (sie vielleicht zu heftig unterbrechend) "dann wäre man doch dabei geblieben oder hätte sie ausgebaut und weiterentwickelt. Stattdessen hat man auf eine materielle, nicht-mentale Technik gesetzt, hat physikalische Zusammenhänge erforscht und auf der Grundlage dieses Wissens Werkzeuge und Methoden entwickelt, die zuverlässig funktionieren, unabhängig von den Launen irgendwelcher Geister oder der mentalen Befindlichkeit der Betreiber. Was funktioniert, hat Recht, unabhängig von dessen Begründung.
Medizin, auf Magie aufgebaut, wäre nie von einer anderen Medizin verdrängt worden, wenn sie dieselben oder sogar bessere Ergebnisse erzielen könnte. Wenn es die magische Überwindung der Schwerkraft gäbe, ob zuverlässig oder nicht, hätte man doch nicht das Flugzeug erfinden müssen - erst heute haben wir eine Infrastruktur, die auf kontinentalweitem Flugverkehr aufbaut. Wenn es das Weitsehen, Weithören, Weitwahrnehmen gäbe, hätte man doch nicht das Fernsehen, Telefon, das Internet erfinden müssen... Heute haben wir - fast - alles, was man sich früher als magisch ausgemalt hat, aber mit Mitteln erreicht, die nichts mit der vorgestellten Wirkungsweise der Magie zu tun haben..."
"Ist schon gut", sagte sie, "ich glaube, er meint eine andere Art von Technik. Eine mentale. Er ist davon überzeugt, dass Inneres und Äußeres zusammenhängen (eigentlich: eines sind) und dass es Mittel gibt, das Äußere im Sinne des Inneren zu beeinflussen. Und die Herstellung solcher mentalen Mittel, Werkzeuge, Apparate nennt er magisches Ritual, ihren Einsatz Magie. Durch Ritual und Übung baut er sich selbst zu einem solchen Einwirkungsinstrument um. Dabei ist für ihn die Beeinflussung des Äußeren nicht so wichtig wie die Beherrschung des Inneren - vielleicht im Gegensatz zu anderen, die sich auch damit beschäftigen. Für ihn ist Magie ein Weg in das Innere, das auf diese Weise Kontur gewinnt, Gestalt annimmt. Bewusst wahrgenommen werden kann - wie eine vor uns liegende Landschaft, bevölkert von mythologischen Gestalten.Sie ist für ihn das Werk der Ausarbeitung, Konkretisierung desjenigen, was man unbewusst oder potenziell schon ist..."
Das konnte ich akzeptieren. Magie als Umgang mit psychischen Faktoren war mir, wenn auch als Konzept immer noch befremdend genug, wenigstens nachvollziehbar. Denn, soweit hatte ich verstanden: Die alten Zauberbücher, wie der Picatrix oder das des Abraham von Worms, sind keine Beschwörungsbücher übernatürlicher Wesen, oder Texte zur Erzwingung von Macht und Reichtum, als was sie immer von den Gegnern und auch unbelehrten Anhängern angesehen wurden - sie sind Anleitungen, um in Kontakt mit dem eigenen, inneren Engel zu kommen (und Engel wurde der Teil der Welt genannt, der das Heilige in individueller Begegnung ist), wozu nötig ist, sich den eigenen, persönlichen Dämonen zu stellen, um sie beschwören und bezwingen zu können. Jede in die Tiefe gehende psychologische Methode heute rührt an eben diese Sphäre, ohne dass wir sie personifizieren oder verdinglichen. Wer weiß aber, wer im Recht ist - der, der alles nur als Schauspiel der Einzelpsyche ansieht und so behandelt, oder der, der darin das Entwicklungsdrama des ganzen Kosmos involviert sieht - Struktur und sich aufdrängende Notwendigkeit ist von jedem Standpunkt aus gesehen da.
Was ich aber dabei immer noch nicht verstehe: Sind die magischen Wirkungen, die sich im Außen manifestieren sollen - auf der Ereignisebene, im Raum der Erscheinungen, in der Kette der Wirkungen - etwas Reales oder etwas, worauf man nur hofft (also fiktiv), vielleicht etwas, was man in das tatsächliche Geschehen hinein interpretiert (mit dem gläubigen, voreingenommenen Blick darauf) - gibt es Magie im realem Sinne oder gibt es sie nicht? Letztlich läuft alles auf die Beantwortung der (nicht zu beantwortenden) Frage hinaus: Was ist die Wirklichkeit? Wie funktioniert sie? Wissen wir alles darüber und können deswegen bestimmte Vorstellungen als irreal ausschließen?
Sind unsere intellektuell-simplifizierenden Vorstellungen (naiv-wissenschaftlich) nicht ebenso ungeeignet, die volle, runde, tiefergehende Wirklichkeit zu erfassen und auszudrücken, wie wir es der naiv-vorwissenschaftlichen Weltbeschreibung vorwerfen? Befangenheit und Denkverbote der klassischen Metaphysik wurde durch ein prüfendes, experimentierendes Verfahren abgelöst, dieser Paradigmenwechsel hat aber zu ebensolchen Befangenheiten und Blockaden geführt wie vorher, nur auf andere Bereiche bezogen. Inzwischen ist nochmals ein Wechsel eingetreten, die heutige Wissenschaft sucht in vieldimensionaler Mathematik die Weltformel, die alles erklären soll, alles beinhalten kann, jenseits aller Anschaulichkeit: Gibt es von dort einen Weg zu den Bildern der alten Welterklärungen, die auf ihre Weise ebenso von der sinnlichen Realität abgehoben waren wie die unsrigen? Können wir deswegen wieder an alte Konzepte anknüpfen, die in der Geschichte formuliert worden waren? Diese neu zu verstehen lernen, neu zu interpretieren? Und stellt sich dann der Realzusammenhang der Dinge nicht nochmals anders dar, als er heute gedacht wird?
Müsste eine wirkliche Welterklärung (als Formel wohl kaum auszudrücken) nicht alles beinhalten, nichts ausschließend, von den uns als faktisch akzeptierten wissenschaftlichen Tatbeständen des subatomaren Energetisch-Materiellen bis zu unseren eigenen Bewusstseinszuständen, in denen wir uns selbst und unser Wissen im Blick haben können? Und wäre dann dass, was die um Magie Bemühten aller Zeiten versuchten, nicht doch etwas, was wir nicht nur mit psychischen Faktoren, gruppendynamischen Prozessen, Auto- und Fremdsuggestion erklären würden? Gäbe es dann einen Weg, magisches Wirken als real zu verstehen? Vielleicht über das Prinzip der Synchronizität, wie manche es vorschlagen? - Aber das ist ein black-box Begriff, der singuläre Merkwürdigkeiten bezeichnet, die nur durch ihre sinnfällige Koinzidenz miteinander verbunden sind. Wäre dass wirklich die Hintertür, durch welche Magie wirksam werden könnte?
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Zeit ist nicht stetig, sondern gequantet. Diese Überzeugung der modernen Physik (einiger Physiker, muss man sagen, noch streitet die Wissenschaftsgemeinde darüber), stimmt mit der möglichen subjektiven Erfahrung von dem überein, was man Gegenwart nennt - die Realität der Dinge in einem sie zusammenfassenden Erleben, deren Erscheinen in der Gegenwart meines Bewusstseins. Ich bin immer. Immer gegenwärtig. Aber dazwischen gibt es Ablenkungen, Blackouts, Auszeiten. Meine Aufmerksamkeit ist löchrig. Ist ein fortlaufendes Band mit Lücken. Immer wieder weckt irgendetwas meine Aufmerksamkeit aus einem zwischenzeitlichen Abwesenheitsschlaf. Versetzt mich erneut in meine Gegenwart. Mein reales Zeiterleben ist daher nicht fliessend-kontinuierlich, sondern gekörnt-diskret. Unterbrochen. Digital.
Ibn Arabi, der andalusische Mystiker-Philosoph, dessen Schrift ich in der Rest-Bibliothek des Malers gefunden hatte, spricht von der Gegenwart des Erscheinenden nicht als einem zeitlich unbegrenzten Dauerzustand (Dauer ist für ihn einzig ein Attribut Gottes), sondern als einem Zustand, der ständig neu geschaffen wird - nur durch Gott in die Existenz tritt. Durch ihn, durch seinen Atem, wird die Gegenwart der Erscheinungen immerwährend erschaffen, in jedem Augenblick. Durch eine Neuschöpfung aus dem Nichts. Ohne seinen schöpferischen Atemzug, dem Hauch der Ausatmung, gäbe es nichts; der Atem, die Schöpfung, wird zurückgenommen und anschließend erneut die Welt in Existenz geatmet; kein zeitlicher Moment ist also dem vergangenen gleich. Dadurch wird die Welt der Erscheinungen ohne Unterlass durch eine völlig neu geschaffene, (fast) identische ersetzt. Fast - so wird Veränderung, Alterung, Bewegung möglich.
Bewegung, Zeit ist also gequantet - kann in einzelne Momente aufgeteilt werden, die nicht mehr unterteilt, auseinander genommen, auf etwas anderes als auf ihren eigenen Ursprung im Erschaffungsakt zurückgeführt werden können. Was aber, wenn das Neuerschaffene nicht identisch (oder: fast identisch) mit dem eben Vergangenem, ins Wesenlose versunkene, wäre? Wenn es sich gravierend unterscheiden würde?
Ein Kommentator Arabis sagte dazu: - "Gott ersetzt das weiß Erscheinende durch ein anderes (nur wenig verändertes) weiß Erscheinendes. Wollte er, könnte er es durch etwas Schwarzes ersetzen"
Wie könnten wir jedoch den Unterschied merken? Es wäre die einzige existierende Gegenwart (für diesen Bruchteil existierend), könnte mit nichts verglichen werden und mit nichts in Beziehung gesetzt - den alle existierenden Beziehungen wären in ihm enthalten und daher nicht außerhalb seiner Existenz. Wir könnten nicht wissen, ob wir nicht längst in einer anderen Welt lebten, weil der Vergleich mit einer vorherigen oder nachfolgenden nicht möglich ist. Ist Weiß weiß geblieben? Oder hat es ins Schwarze gewechselt?
Für den frommen Mystiker ist es selbstverständlich: Gott stellt uns nicht in eine willkürlich veränderte Welt, er gibt uns Konstanz und Ordnung, indem er das Neue als Altes an die Stelle des Vergangenen setzt. Was aber, wenn man an diesem Vorgang herumpfuschen könnte?
Für uns ist an die Stelle Gottes das Naturgesetz getreten, welches Regelgerechtigkeit, Stetigkeit und Ordnung ausdrückt und zusichert. Wenn nun dieses Naturgesetz (nicht ganz so Allmächtig wie der letzte Grund alles Existierenden) sich als optische Täuschung, als Interpolation, als Geradebiegen des Krummen herausstellen würde, und damit vielleicht auch als hintergehbar und austricksbar - wenn die Quantennatur der Wirklichkeit prinzipiell Sprünge zulässt, die wir als irrational, unvorhersehbar, willkürlich bezeichnen müssten - wenn wir sie denn bemerken könnten - wäre dann nicht die Sicht auf ein Universum geöffnet, in dem Wunder möglich sind? Der eiserne Vorhang der Naturgesetzlichkeit ein wenig angehoben, die Falle der Determination aufgehoben?
Was mich jedoch bei solchen Überlegungen bedenklich macht: Die Hermetiker der Antike und ihre arabischen und abendländische Nachfolger suchten die Große Ordnung zu erfassen, durch die - in der - es möglich war, magische Wirkungen zu erzielen - in Erfüllung der Gesetze des makro-mikrokosmischen Allganzen. Nicht das Durchschlüpfen durch die Maschen der Gesetzlichkeit, sondern die Beachtung der Regeln sollten zum gewünschten Ergebnis führen. Regeln freilich, die Beeinflussung durch Moralität, Willen und Ritual einschlossen. Was für uns abwegig scheint. Als Verwechslung von Kategorien des Innen und Außen. Denn der einzige Ort, an dem beides zusammenkommen kann, Außen und Innen, ist uns unser Bewusstsein, das beide trennt und auseinander hält, vereint und aufeinander bezieht.
Und das, was ich von den Ansichten des Gurus über die Funktion und das Funktionieren von Magie und mentaler Entwicklung gehört hatte, gab mir den Eindruck, als ob bei ihm diese Verwechslung der Kategorien vorliegen würde. Und eine Verwechslung des Unbedingten, Selbstgesetzten mit dem Abhängig-Bedingten, das uns umgibt und uns selbst auch ausmacht. Der berauschenden Entdeckung, dass wir Teil des Unbedingten sind, integraler Teil und in Wahrheit ungeschieden von ihm, und den Implikationen, die schon die Gnostiker der Antike daraus gefolgert hatten, muss noch immer die ernüchternde Erkenntnis entgegengehalten werden, wie Beschränkt wir gleichzeitig sind.
Du bist das, was du sein willst - du entscheidest dich dafür, ob du dich einschränken, begrenzen oder ob du grenzenlos sein willst. Das Alles-was-ist (konventionell Gott genannt) ist in allem was ist, ist von allem was ist ungeschieden, ist in allem ganz und gar gegenwärtig. Auch in dir. Du entscheidest, wie viel du von allem realisieren, wie viel du davon zulassen willst. Das Ganze ist immer Alles, nur durch Selbstaufgabe kann es weniger sein - was aber Illusion ist, Einschränkung nur des Blickes darauf.
Soweit konnte ich dieser Philosophie folgen. Der daran anschließende Sprung vom überpersönlichen Ganzen zum individuellen Fall, kurzschließend beides gleichsetzend, kam mir aber eher wie Größenwahn vor als wie eine Korrektur der Kleingeisterei, die ja manchmal notwendig wäre. Als ob ich vergessen würde, wie bedingt ich doch in meinem individuellen Zustand bin, wie eingebunden in anderes, das mir nicht einfach willig zur Verfügung steht - kann ich vergessen, dass ich trotzdem noch der Gravitation unterworfen bin, auch wenn ich beschließe ohne Flügel fliegen zu können?
Klar, ich bin ebenso das Gesetz der Schwerkraft wie der fallende Körper, aber in meinem gegenwärtigen Zustand eben ein wenig mehr der fallende Körper als das Gesetz, das ich aufheben möchte. Für mich, in meinen Einschränkungen, wirkt das Gesetz uneingeschränkt.
Der Traum kann es aufheben. Löse ich mich aus meinem individuellen Bewusstsein, kann ich es aufheben - zu dem Preis, das ich meinen Körper, der weiter dem Gesetz unterliegt, aufgeben muss.
Und: gibt es für mich etwas anderes als das in mir individualisierte Bewusstsein? - etwas Umfassendes, darüber Hinausgehendes, trotzdem mir Zugehörendes? Denn wenn ich mein individuelles Bewusstsein im zerschmetterten Körper verliere, hilft mir ein allgemein postuliertes Bewusstsein aller Dinge nichts - falls ich nicht mehr bin. Und auch wenn ich ohne Körper weiter als Eigenbewusstsein existierte, gäbe es da nicht auch in diesem Zustand Einschränkungen, Grenzen, die Differenz zwischen mir und dem Anderen? Wann also wäre der Zustand erreicht, dass Ich und Alles grenzenlos identisch wären? Doch erst dann, wenn dieses Ich nicht mehr Ich, sondern Alles wäre... Weit jenseits meines jetzigen Zustandes also.
Als Kind muss man lernen, Allmachtsfantasien von dem zu unterscheiden, was tatsächlich möglich ist und wahrscheinlich eintreten wird. Zu gut haben wir allermeistens diese schwer zu schluckende Lektion gelernt, trauen uns nun überhaupt nichts zu, was über das normale, geduckte Dasein hinausführt. Hier kann Ermutigung hilfreich sein, notwendig auch.
Du kannst, wenn du willst, lautet das Motto der Lebenshelfer, die ihre psychologischen Ratgeber damit verkaufen (was im Umkehrschluss natürlich auch heißt: wenn du nicht kannst, willst du nicht - womit der schwarze Kater wieder bei einem selbst gelandet ist). Tue, was du willst, sagt die Fraktion der selbstermächtigten Magier in Nachfolge Crowleys. Finde dein eigentlich von dir Gewolltes heraus und realisiere es dann - suche und finde den wahren Willen in dir, der dich dazu bringt, das Erhoffte auch zu erreichen.
Wenn der Mystiker das Einheitserlebnis im Urgrund der Dinge und Kräfte sucht, dann kann ich das verstehen und akzeptieren. Als Haltung und als Möglichkeit. Wenn der Magier oder Adept seinen Willen über alles auszuspannen und in den Verlauf der Welt einzugreifen versucht (und das bedeutete es ja, wenn es ihm auch nur gelänge, ein einziges Elektron zu beeinflussen), dann zweifele ich an einer solchen Praxis. Aber vielleicht bin ich ja eher ein Mystiker, und deshalb voreingenommen. Missfällt mir irgendwie der Gedanke an eine solches Beeinflussungskonzept. Als Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und als Überheblichkeit. Ist dann wohl nur eine Temperamentssache, wie man es beurteilt. Ob als Chance oder Fehldeutung.
Verirrt man sich mit solchen Vorstellungen nicht in vorwissenschaftlichen Denkstrukturen, verfängt sich im Aberglauben, strandet in der Täuschung? - oder befreit man sich, im Gegenteil, nicht mit Hilfe uralter Bilder aus dem Gefängnis, das uns inzwischen die skeptisch-rationale Weltausdeutung geworden ist? Befreit sich in einer Willensaktion, nicht nur im Nachdenken darüber, wie die Welt beschaffen ist, und in der stillen Meditation, wie es mir eher entspricht? Und war dann nicht meine Intention und die des Gurus dieselbe: Sich in einer Wirklichkeit zu erleben, die Wahrheit einschließt, Lebensfülle, Ziele?
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