GNOSISROMAN: HELENA
Inhalt:
Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog
Zweifel
Das Leben ist eine Fälschung. Dieser Satz, einmal irgendwo gelesen (Vaclav Havel?) hat sich bei mir festgehakt. Bin ich also nicht der einzige, der dieses Gefühl mit sich herumträgt.. Es setzt sich zusammen aus Enttäuschung, Wut und Sehnsucht. Enttäuschung darüber, durch Fälscher getäuscht worden zu sein (wer auch immer sie sind, in welcher Absicht sie auch immer agieren), auf eine Attrappe, eine Illusion hereingefallen zu sein, sich an Gefälschtes gebunden zu haben, und auch Wut darüber, das es so ist - sowie eine sich steigernde Sehnsucht, die Dinge zurechtzurücken, das wirkliche Leben zu finden, sich aus der Fälschung herauszukatapultieren und mit einem schwungvollen Flic-Flac im Original zu landen. Herauszufinden, wie die Dinge wirklich sind.
Das war meine Stimmung, als ich unsanft aus den Millionärsträumen gerissen wurde: nicht freiwillig, aber doch bereit, das Ende des Träumens als Befreiung zu nehmen. Aus dem falschen Leben herausgefallen zu sein, war nicht schlecht. Aber wo war ich gelandet? Im wirklichen Leben? Was machte den Unterschied aus, außer, dass ich kein Geld mehr hatte? Und jetzt: Was mir der Maler bot, war eine Aussicht auf eine Landschaft, die ganz anders gemalt war als die gefälschte, die ich bisher als Realität ansah - wie wenn sich eine vor einem ausgebreitete Szenerie nur als Theatervorhang herausstellte, der sich plötzlich zu Falten zusammenzieht und zur Seite bewegt, eine Öffnung für die Aufführung dahinter freigebend. Die - wiederum nur gemalte Szene ist, Kulisse eben. Und wenn man den Kulissenmalern auf der Spur ist, ihre Absichten ahnt, die Fertigung des Prospektes nachvollziehen kann, Farbe, Stoffe, Holzgerüst und Schraubbohrer erkennt, wächst die nochmalige Enttäuschung darüber, aus der ersten Fälschung nur in eine zweite geraten zu sein.
Vielleicht las ich zuviel, angeregt durch die Themen, die er mir vorlegte, beschäftigte mich zu intellektuell mit den Dingen, die man mehr "spüren" sollte, wie immer behauptet wird - aber ich wollte mein Denken nicht ausschalten, das höchste und nur uns eigene menschliche Vermögen, wie ein italienischer Philosoph des 15.jhrd, Ficino, einmal geschrieben hatte, der unser freibewegliches Umkreisen der Dinge, Relationen und Begriffe im Denken als unsere eigentliche Leistung ansah: Tiere hätten ebenso Empfindungen wie wir, Engel genauso eine alles aufhellende Intuition - einzig wir Menschen würden durch das Denken frei sein zu wägen, abzulehnen oder anzunehmen.
Doch andrerseits sah er es auch als das Ziel eines philosophischen Lebens an, in den Zustand des Engelbewusstseins entrückt zu werden, in dem die Zusammenhänge auf einen Schlag und in vollster Klarheit vor einem ausgebreitet liegen, inwendig in einem selbst, so dass das Selbst diese Erkenntnis selbst ist, ungeschieden von ihr - die Entzückung der Erleuchtung, die er in einem solchen Augenblick erlebte, war ihm das eigentliche Ziel seiner Studien, nicht das Wissen, das er dadurch anhäufte. Er war eben doch auch Mystiker und Magier, bereit für die magische Verwandlung seines Bewusstseins in ein übermenschliches Engelsbewusstsein, wie man es bezeichnen kann, Vorläufer (und Mit-Übermittler in einer Kette von Übermittlern) der späteren Magier, Adepten und Erforscher des verborgenen Wissens in uns. Und das war es doch, was der Maler mir anbot. Ich blieb Skeptiker, und wusste doch, dass Skepsis mir bei der Bemühung um diese Dinge nicht helfen würde. Andrerseits: Wenn ich bewusste Lüge, Selbsttäuschung, Fahrlässigkeit, Illusion und Trugschlüsse nicht aufspüren und als solche benennen würde, was wäre das für ein Wahrheitsfinden?
Einmal sprach er über Blavatsky und ihren Aufenthalt in der Stadt und über das Werk, dass sie hier schrieb, oder, wie sie sagte, nach Diktat ihres geistigen Meisters niedergeschrieben hatte. Ich konnte nicht akzeptieren, wie man über solche offensichtliche Schwindeleien, nur weil inzwischen mehr als hundert Jahre vergangen sind, hinwegsehen konnte. An diesem Punkt fing mein Zweifel an dem Maler an. Vorspiegelung von etwas, Schaumschlägerei, Taschenspielertricks: Das hatte nichts mit Wahrheitsfindung zu tun, entwertete alles darauf Aufgebaute.
"Du musst dann auch alles, was in den Medien passiert, jeden Hype, jeden Star, jedes Thema und jede Aufregung über etwas ablehnen: und hast du nicht auch deine Lieblingsmusiker, deine Lieblingsschriftsteller, deine Filme, deine öffentlichen Helden? Alles gemacht, alles auf Halbwahrheiten aufgebaut, alles riesigengroß aufgeblasen... Es ist das Genre der Erzählung, der Gestus des Erzählens, der dabei zur Wirkung kommt. Die Erhöhung (und Ersetzung) der Wirklichkeit durch die Fiktion."
"Eben deswegen! Ich brauche keine sensationellen Wunderberichte, um mich von einem guten Argument überzeugen zu lassen oder einen Gedanken als wahr, wenn auch vielleicht von mir noch nicht ganz begriffen, anzunehmen. Ich brauche nicht den Anhauch des Mysteriösen, um mich für etwas zu interessieren!"
Was sollte man also heute, mehr als hundertzwanzig Jahre nach dem Geschehen, von den von einem geheimen Meister gelieferten oder diktierten Blättern der Madame Blavatsky halten, die auf diese Weise ihr berühmtes Buch "Die entschleierte Isis" geschrieben haben wollte, bezeugt von ihrem Mitstreiter Olscott? Sollte man den Bericht unangezweifelt stehen lassen, oder die Legende als Legende achselzuckend beiseite legen, oder, wie es damals auch einige taten, zwei und zwei zusammenzählen, um sich ein Urteil über den Fall zu bilden? Die Idee, auf diese Art Bücher zu schreiben, war ihr von Emma Harding-Britten vorgemacht worden, die zwei Jahre zuvor ihr Buch "Magie als Kunst" auf eben diese Weise produziert haben wollte (ihr Meister hieß Chevalier Louis), was sehr skeptisch (auch von ihr und Olscott) aufgenommen worden war. Die Vorstellung, dass ein hochentwickeltes Übermensch-Bewusstsein sich genau der hundert Bücher bediente, die in der Bibliothek Blavatskys zu finden waren und deren Gedankenspuren und Ideenbilder (ohne Quellenangabe selbstverständlich, ein Meister kann darauf verzichten) sich überall in ihrem Werk nachweisen lassen (was ein eifriger und pedantischer Kritiker getan hat), schien mir doch sehr weit hergeholt.
Und wenn dieser Meister sich auf ihre Bibliothek beschränkte, wie weit war er dann mit ihrem Unterbewusstsein identisch, vorausgesetzt man unterstellte ihr nicht bewusste Täuschung und Augenwischerei? Raffinierte Betrügerin oder unbewusstes Medium - welches Attribut sollte man ihr eher zusprechen?
Der Maler wollte ihr beides nicht unterstellen - sagte, es wäre nicht relevant, wie und auf welche Art das Werk entstanden wäre. Auch wenn alles nur ein Werbetrick von Menschen gewesen wäre, die um ihre ökonomische Existenz kämpften und zu Mitteln des Jahrmarkts und der Übertreibungen gemäß der Mentalität ihrer Zeit griffen - die Wirkung des Buches auf die lesenden Zeitgenossen wäre das entscheidende Kriterium, auf das es ankäme. Dass sich viele Menschen davon berührt und umgewandelt fühlten, sei die wirkliche Signatur des Ganzen. Gerade die Existenz des anderen Buches zeige, dass es nicht um eine bewusst in die Welt gesetzte Entstehungslegende ginge, denn diese sei bei dem vorausgegangenen Buch dieselbe, sondern um das Werk selbst, das in sich die produktive Kraft des Etwas-in-Gang-Bringens trage, im Gegensatz zu dem untergegangenen Vorgänger. "Die Wirkungsgeschichte ist der Prüfstein, nicht die werbewirksame Legende."
Ich konnte nicht zustimmen. Ein von einem Übermenschen diktiertes Buch erhebt Anspruch auf unhinterfragbare Autorität. Es stellt sich außerhalb kritischer Reaktion, ist Offenbarungsreligion. Keine Behauptung braucht belegt zu werden, keine Zumutung bewiesen. Und Zumutungen gibt es genug. Der Trick besteht darin, zu sagen, der Verstand sei nicht zuständig, da er zu gering, zu schwach, zu eng sei, um das Offenbarte zu fassen. Nur wer die Offenbarung nachvollziehen kann, in denselben Bewusstseinszustand getaucht, könne zu einem adäquaten Urteil darüber kommen.
Das ist so wahr wie nicht nachprüfbar. Deshalb bedeutungslos. Nicht, weil keiner Formallogik genügend oder dem gesunden Menschenverstand widersprechend (beide sind nicht für alles in der Welt zuständig, auch wenn sie es sich anmaßen), sondern weil vom Typus der sich selbst erzeugenden Wahrheiten: Die Nachprüfung einer Offenbarung auf dem Weg des Offenbarens erzeugt eine neue Offenbarung, in Abwandlung der alten, die, wie so oft geschehen, an ihre Stelle tritt. Und wer braucht schon solche Offenbarungen?
"Jeder," sagte der Maler. "Wir leben davon. Von abgenutzten, heruntergekommenen, unkenntlich gewordenen uralten Offenbarungen, in Hollywood-Filme übersetzt, in Literatur herumgereicht, in Kunstwerken wiederbelebt. Wir leben noch immer von den Überresten einstiger intuitiver Großtaten, den Gründungslegenden mythischer Erzähltraditionen, aus denen sich Religionen aufgebaut und weiterentwickelt haben. Und wer in diesem Bereich schöpferisch wirkt, ist kein Scharlatan, sondern ein Kulturheros: Wer einen neuen Mythos in Gang setzen kann, ist kein Fortschreiber und Verwalter der gewordenen Welt, sondern Stifter einer neuen. Ist wichtig für uns. Für unser Lebendigsein, unsere Entwicklung, unsere Verwandlung".
In jedem schöpferischen Prozess stellt sich die Erfahrung ein, dass es eine "Führung" gibt, der Prozess sich aus sich selbst entwickelt, unabhängig von dem Bewusstsein, das glaubt, dieses Werk zu betreiben. Die Person meines Romans agiert nach ihren eigenen Regeln. Ein Satz entwickelt sich eigenwillig. Eine Idee entfaltet sich in ungeahnter Weise. Ein Resultat ergibt sich als Geschenk. Alles Erlebnisse, die einem zeigen, wie man in etwas eingebettet ist, das mehr ist, als man von sich selbst glaubt, von sich selbst bewusst ist.
Man kann diese Inspiration göttlich nennen - von den Musen bewirkt - aus der Ideenwelt, von seinem höheren Selbst, vom Unbewussten eingegeben - dem Unterbewusstsein, dem Cortex temporalis geschuldet. Alles Bezeichnungen, wie sie, je nach kulturellem Kontext, dafür verwendet worden sind. Man könnte es auch als Eingabe eines Meisters bezeichnen - wenn das Konzept der verborgenen Meister für einen Gültigkeit hat. Das Erlebnis des Inspiriert-seins ist jedenfalls so eindeutig und eindrücklich, dass man dafür Vorstellungen entwickeln möchte, es auf einen Namen bringen möchte, um es zu fassen, real zu machen.
Warum also nicht Meister? Diese Vorstellung ist so gut wie jede andere. Und warum nicht die Leistung Madame Blavatsky's anerkennen? Sie hat, als Gegenbild zu den sich als offizielle Doktrin generierenden positivistischen Wissenschaftsvorstellungen (auch der Materialismus war damals noch heftig und kämpferisch, verstrickt in die Rückzugsgefechte der Altgläubigen), in Konkurrenz dazu und mit teilweise denselben Denkformen, eine evolutionäre Geschichte der Geheimwissenschaften, der Kulturen, des Erdorganismus, des Universums entwickelt - eine in sich selbst schlüssige Welterklärung - und als leuchtendes, schimmerndes Jerusalem der Sehnsüchte nach überirdischen Sphären ausgemalt (in ihrem Falle sollte man wohl besser Shamballa sagen) - ein Konzept von der Entwicklung des Menschen in Raum und Zeit, das diesem die Würde zurückgab, die ihm von den offiziellen Wissenschaften zur gleichen Zeit genommen wurde.
Was ich nicht verstehe, ist das Bemühen dieser Menschen des 19. Jahrhunderts (denn das sind sie ihrer Prägung nach), eine uralte Herkunft ihrer Gedanken wie als Gütesiegel nachzuweisen. Fantastische Zahlen werden genannt, Epochen und Äonen erfunden, um die Abkunft des Geheimwissens aus einer angenommenen Urzeit zu belegen: Je näher dem postulierten Ursprung der Welt, desto wahrer die Wahrheit einer Aussage...
Diese Früher-war-alles-besser-Mentalität liegt mir nicht, genauso wenig allerdings auch deren Gegenteil, welche die Erfüllung aller Wünsche in die Zukunft legt - der Fortschrittsgedanke ist zwar eine neuere Sache in der Geschichte (und gehört selbst zur Idee der Geschichte), hat aber doch auch nicht mehr für sich, als die Verklärung und Überhöhung der Vergangenheit. Das goldene Zeitalter, die Zeit als die Götter noch Umgang mit den Menschen hatten, das Urparadies - warum sollte man sich in seinem Wirklichkeitsverständnis von solchen Archetypen bestimmen lassen? Das alles ist mir sehr fremd. Warum sollte ein Gedanke oder eine Erzählung näher an der Wahrheit sein, nur weil er vor Hunderttausenden von Jahren entstanden ist, wahrer als ein Gedanke, der eben erst formuliert wurde? - oder besser gesagt, da es in Wirklichkeit wenig Neues in diesem Bereich gibt (nichts Neues unter der Sonne, nach dem weisen Juden), der eben erst neu-formuliert wurde - aber mit der Autorenschaft, dem Gepräge eines Individuums, das nicht mit dessen Originalität prahlt, aber auch nicht seine Urheberschaft und damit seine Verantwortung dafür verschleiert?
Warum musste es bei Blavatzky eine geheimnisvolle tibetanische Bibliothek sein, aus dem sie den Stoff ihres geheimen Wissens erhalten haben will, wenn es auch tatsächliche Studien koptischer gnostischer Texte in Londoner Bibliotheken sein konnten? - ein Mann wie Karl Marx, der sich einen ebenso phantasievollen (wenn auch ebenso wenig phantastisch gemeinten) Text in dieser Bibliothek erarbeitet hat, hat doch deswegen nicht weniger Achtung und Interesse erfahren wie sie?
Ich weiß, das ist ein naiver Standpunkt; zu dem einen gehört sein Bestehen darauf, dass er Wissenschaftler sei, Philosoph, die Wirklichkeit untersuche, zu der anderen das Geheimnis, das Übersinnliche, das Nichterklärbare - jeder führt sich unter einem anderen Markenzeichen ein, findet einen anderen Markt für seine Erkenntnisse. Aber muss das Geheimnis immer in die Nähe der Scharlatanerie rücken, immer diejenigen anziehen, die dafür anfällig sind?
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Worüber wir uns also nicht einig waren, war die Frage nach den Meistern, nach ihrer Existenz, nach ihrer Notwendigkeit. Für mich war schon der Gedanke absurd, dass jemand eine solche Position für sich beanspruchte, sich selbst als Meister sah - als Bemeister des Weges, Erfüller des Zieles, Schicksalsmeister.
Oder, wenn nicht ein menschliches Wesen zur Diskussion stand (auch wenn es sich bei einem Menschen um jemand handelte, der sich zur Höhe eines Zarathustras, Buddhas, eines Jesus, Mani oder Mohammeds entwickelt hatte: Er würde doch noch immer dem Schicksal aller jemals gelebt habenden unterworfen sein - Geburt und unausweichlichem Tod als deren Folge...), wenn es also um ein metaphysische Wesenheit ging, wieso traten diese oft auf so obskure Weise in Erscheinung, sich Menschen offenbarend, die fragwürdig und seltsam waren - um diesen eine Reputation zu geben, die sie aus sich heraus nicht hatten?
Ich konnte das nicht akzeptieren, ich bestand darauf, dass die Meister eine Fiktion seien, längst in den Bestand der Literatur übergewechselt, eine Funktion innerhalb eines Glaubens, der Sehnsucht und Hoffnung mit der Trost gebenden Vorstellung einer Lenkung der Geschichte durch weiterentwickelte, wahrhaft väterliche Wesen verband.
Der geheimnisvolle Fremde, der auftaucht und eine Botschaft hinterlässt, die inspirierend nachwirkt, die chinesischen, buddhistischen, arabischen Meister in den sagenhaften Geschichten dieser Kulturen, die Meister der Theosophen (Blavatzky empfing ihre Inspiration von verschiedenen Über-Persönlichkeiten), der Roerichs und von Alice Bailey, welche ihrerseits die Meister Blavatzkys für sich in Anspruch nahmen, Crowleys Aiwass', die Meister, die heutzutage gechannelt werden - sind das nicht alles eher literarisch-symbolische Figuren, aus einer Erzählung in die nächste übernommen?
Der Maler sagte:
"Ich will dir etwas zum Nachdenken geben. Ibn Arabi berichtete, wie ihm Chidr, der Grüne, zweimal begegnet ist; und Arabi ist bestimmt jemand, der eine Vision oder Einbildung von einem Realgeschehen unterscheiden konnte. Er sagte, dass er den Grünen auf sich zukommen sah, als er im Hafen von Tunis an Bord eines Schiffes stand, auf das nächtlich-dunkle Meer und den sich darin spiegelnden hellen Vollmond schauend, und dieser über das Wasser ging, als ob es festes Land wäre. Nur daran erkannte er, dass er jemand Besonderes vor sich hatte. El Chidr ist der Lehrer der Sufis, ihr erleuchtender Führer. Ihr Meister. Du kannst das für eine mittelalterliche Heiligenlegende halten, für eine orientalische Märchenerzählung - und seine Worte und den Glauben der Sufis für bloßes Gerede nehmen. Warum aber? Weil du dieses Erlebnis nicht verstehst, dich seine Erzählung, für real genommen, beunruhigt, verunsichert?"
Dennoch: für mich besteht der Prüfstein intellektueller Redlichkeit in der Einstellung zu der Behauptung, es hätte jemand reales Gold im Alchemistenofen erschaffen, und es gäbe die ewig lebenden geheimen Meister. Beides sind Träume, als Symbol wahr (oder unwahr, je nach Standpunkt), sind Realien in der Welt der symbolischen Beziehungen und Prozesse, aber irreal in der Alltagswelt. Der Traum des Alchemisten, den Stein der Weisen zu schaffen, ist die Realität des Steins der Weisen - der Traum vom ewigem Leben die Realität der geheimnisvollen Geschichten von Wundermeistern in verborgenen Berg- oder Wüstenklöstern oder von Wanderern, die über Jahrhunderte immer wieder auftauchen und ihre Existenz bezeugen - trat der Graf von St. Germain nicht vor einigen Jahren sogar im französischen Fernsehen auf, oder war es Fulcanelli?
Warum aber schreibt jemand ein Buch, in dem er als Wahrheit darstellt, Goldmachen sei erreichbares Ziel der Alchemie, die Meister würden ewig leben - wenn er beides nicht bezeugen kann, sondern nur behaupten? Nicht in der Möglichkeitsform, sondern als feststehende Tatsache? Wo ist sein Gold, das er hergestellt hat und das er uns vorweisen kann? - Er hat es natürlich nicht selbst erschaffen, weiß es nur aus allerbester Quelle, von jemandem, der jemand gekannt hat, der einmal den Besuch von jemanden erhalten hat, der es ihm im geheimen gezeigt hat - und dasselbe gilt für die Meister. Es muss sie geben, also gibt es sie.
Natürlich sind sie darauf aus, ihre Spuren zu verwischen, deswegen werden sie niemals als solche zu identifizieren sein - sie werden sich nur Einzelnen offenbaren - die allerdings, wenn sie kritisch sind, keine Möglichkeit haben, solche Offenbarungen zu hinterfragen, und, wenn sie sehnsüchtig auf eine solche Begegnung hingearbeitet haben, keine Neigung dazu haben, die Wahrheit des Empfangenen zu bezweifeln. Dieses Spiel ist so angelegt, das es weder als Betrug entlarvt, noch als Fakt dokumentiert werden kann - das Geheimnis verbirgt sich im Geheimnis: Nur die geheimen Meister und Adepten sind die wahren; die öffentlich auftretenden sind Imitatoren: Sie sterben nach einiger Zeit (wenn sie nicht nach Indien versetzt werden), sie erfüllen ihre Versprechungen nicht, sie enttäuschen - wen interessiert das aber noch nach einigen Jahren des allmählichen Vergessens? Und wenn auch alles, entgegen der Wahrscheinlichkeit, einer Wandersage aufgesessen zu sein, der Wahrheit entsprechen sollte, niemand, der nicht die Meister selbst getroffen hat, darf darüber anders als in der Möglichkeitsform reden oder schreiben, will er sich nicht in die lange Reihe der Scharlatane einreihen, Betrüger und Selbstbetrüger, die sich auf diesem Gebiet getummelt haben und noch tummeln.
Ich will nicht die Möglichkeit abtun, dafür verstehe ich zuwenig davon, dass irgendjemand irgendeinmal den Prozess des Goldmachens erfolgreich durchgeführt hat - dass irgendwo auf der Welt die geheimnisvollen Meister existieren - ich bezweifele einfach nur, dass es bis jetzt glaubhafte Zeugen dafür gibt, Menschen, die selbst damit in Berührung gekommen waren und deren Zeugnis glaubwürdig ist. Menschen, die nicht von diesen Behauptungen profitieren. Nicht Gründer von Glaubenssystemen, die dadurch deren Legitimität nachweisen wollen, nicht Verkäufer von okkulten Büchern und Lehren. Keine Erfinderinnen von theosophischen Systemen, die erwiesenermaßen ihre gutgläubigen Anhänger betrogen haben, keine Rückdatierer von Begründungsurkunden scheinbar uralter Logen, keine Fabulierer geheimnisvoller Geschichten, die als beispielhafte Erzählung großartig wären, zum Nachdenken bringen würden, aber als Tatsachenbehauptung einfach nur lügenhafte Vorspiegelungen sind - keine Aufschneider und Profiteure der Sensation des Geheimnisumwobenen.
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