GNOSISROMAN: HELENA
Inhalt:
Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog
Epilog
Der Maler bleibt verschwunden. Und Ellen ist gegangen.
Diesmal war ich es, der für einige Zeit verreiste - ein Großonkel war gestorben, im Pflegeheim, wo ihn die durch seine Alzheimererkrankung überforderte Tante untergebracht hatte, und ich war zu seiner Beerdigung gefahren. Es war kein frohstimmender Ausflug gewesen, und als ich nach einigen Tagen zurückkam, waren noch lästige, ewig verschobene und jetzt nicht mehr aufzuschiebende Dinge zu erledigen, so dass ich erst nach ungefähr einer Woche beim Haus vorbeischaute.
Niemand war da (Die anderen Mieter zählten nicht). Ellen war fortgegangen. Zuerst realisierte ich es nicht, denn sie war ja oft unterwegs, wenn sie in ihrem Job zu tun hatte. Die noch immer versiegelte Wohnung des Malers (gehörte zu den dringend zu erledigenden Dingen: Vorsprechen bei den Behörden, wann ich wieder über die Wohnung verfügen durfte) konnte ich nicht betreten, und wozu auch, der Maler war nicht in seinem Atelier. Stand nicht an seiner Staffelei oder rührte in seinen Porzellantiegeln, Pigmente mischend, wie er es oft getan hatte, wenn ich ihn in seinem Chaos aufsuchte. Und nach einem Schweigeanfang begann, ohne Begrüßung und Übergang, erneut unser durch mein Weggehen unterbrochenes Gespräch, als ob ich nur kurz auf der Toilette gewesen wäre - was im übrigen nicht für seine Toilette galt, dort konnte man das Gespräch, quer durch den Raum und die Materialsammlung, fortsetzen. Aber nun war der Maler nicht mehr da. Und auch Ellen nicht.
Ich ging in ihre Wohnung, wie immer, wenn ich im Haus war und sie nicht beim Maler fand (vorbei, vorbei...), registrierte, dass sie nicht zuhause war und auch, dass sich irgendetwas verändert hatte. Was ich noch nicht genau zu benennen wusste, nur als unbestimmte Beunruhigung empfand. Bis ich feststellte, dass viele persönliche Gegenstände fehlten, das Bad leer geräumt war, keine Kleider mehr, keine Bücher und CDs - wie wenn jemand mit Vorausgepäck ausgezogen war und der Rest auf die Möbelpacker wartete.
Dann fand ich den Brief. An mich adressiert. Sie entschuldigte sich für ihren abschiedslosen Aufbruch, aber die Dinge hätten sich verändert und sie müsse nun einfach gehen, und vielleicht wäre der jetzige Zeitpunkt sowieso der Beste, auch für mich, sie wüsste, wie schwer mir die Umstellung fallen würde, meinen Umgang mit dem Maler und nun auch mit ihr zu verlieren, doch hätte ich auch gewusst, dass alles nur auf Zeit angelegt war, nicht auf Dauer, eine vorübergehende Konstellation, wie das Meiste im Leben. Wie das Leben selbst…
"Durch das Verschwinden des Malers ist mir einer der Fixpunkte verloren gegangen, die mich hier gehalten haben, mir Halt gegeben haben, ein anderer warst du, aber das reicht jetzt nicht mehr aus… Ich habe mit ihm wieder Kontakt aufgenommen (ich wusste, welcher "Ihm" damit gemeint war), werde zu ihm gehen, einen Neuanfang versuchen. Wünsche mir Glück.
Und noch etwas: Ich glaube, du schätzt mich falsch ein, machst dir Illusionen über mich, idealisierst. Wie viele andere. Auch ich schwimme. Und suche Festigkeit, Stütze. Bin bereit, dafür Dinge auf mich zu nehmen, die dich vielleicht abschrecken oder sogar anwidern würden. Ich mache mir selbst nichts vor, kenne mich in dieser Hinsicht. Du kennst mich in Wirklichkeit nicht. Auch einer der Gründe für meinen Entschluss…
Dein Bild von mir ist zu sanft gezeichnet, zu harmonisch, wie du eben selbst bist, oder eher: harmoniesehnsüchtig, da deine Harmonie nicht ungestört ist… Du siehst mich als jemanden, der zu dir passt, wie ein fehlendes Puzzleteil, aber so bin ich nicht. In Wahrheit bin ich dissonant, verloren, müde und verwirrt. Verirrt. So fühle ich mich. Manchmal drängt das zur Oberfläche, nach Außen, aber meistens zeigt sich die Oberfläche so, wie du mich zu kennen glaubst - ich selbst bleibe verborgen, bleibe im Geheimen. Für dich und die vielen Anderen, die in mir ihre Wunscherfüllungsphantasmagorie wiedererkennen wollen.
Auf bestimmte Weise war ich auch deine Phantasie, zwar keine sexuelle (möglicherweise doch...), sondern eine des verlockenden Lebens, des Ausblicks auf eine neue Welt, in der vieles sich erfüllen wird... Sehe mich realistisch, dann kannst du mein Weggehen besser bewältigen.
Ich weiß, das wird dir in der ersten Zeit schwer fallen, aber es gehört für dich zum Erwachen in die Realität dazu. Und für etwas, was damit zusammenhängt, wie die Dinge in Wirklichkeit sind, möchte ich mich bei dir entschuldigen: Ich habe dich benutzt. Unser Ausflug zu Ashley war nicht spontan, er war von mir geplant. Der Guru (wie du ihn immer nennst) hat für mich ein Ritual ausgearbeitet, das auf eine meiner tiefsitzenden Ängste eingehen sollte: die Angst vor dem Älterwerden. Du warst unaufgeklärter Teilnehmer dieses Rituals. Ich brauchte einen männlichen Part, war der weibliche Teil, Ashley die Vereinigung der Gegensätze.
Ich habe dir erzählt, wie sehr mich das Altwerden beunruhigt, quält, wie sehr ich unter diesem unaufhaltsamen Zwang leide. Schicksal, hast du gesagt. Jeder ist ihm unterworfen. Wo es kein Entrinnen gibt, bleibt nur ein sich Anpassen. Ein Einverstandensein. Als Mann kannst du das sagen. Dich betrifft's auf andere Weise, als es eine Frau trifft. Deswegen der Versuch, mit einem magischen Ritual etwas dagegen zu unternehmen. Der Guru glaubt daran. Ich leider nicht. Doch bin ich verzweifelt genug, es zu versuchen (Jemand, ich glaube Einstein, hat einmal gesagt, er glaube nicht an Zauberei, habe aber einen Talisman, von dem man ihm versichert hat, er wirke auch bei Personen, die nicht daran glauben...).
Du merkst, ich tue Dinge, von denen ich nicht überzeugt bin, und ich tue Dinge, von denen ich weiß, das es nicht richtig ist, sie zu tun, siehst, auch ich bin verworren, unsicher, klammere mich an Verworrenes, Unsicheres, als ob es dadurch eine Rettung gäbe... Greife blind nach Strohhalmen, wie jedermann. Denn mein Leben ist nicht gut gefügt. Langsam löse ich mich in alle die vielen Welten auf, die an mir zerren, mich für sich beanspruchen; jeder Mann, dem ich im Arm liege, dem ich das Gefühl gebe, ganz für ihn da zu sein, jede neue Begegnung belastet mein Lebenskonto, und ich bekomme es nicht mehr richtig aufgefüllt...
Ich habe mich übernommen, aber ich kann nicht damit aufhören, es ist nun mein Weg, einen anderen sehe ich nicht. Wünsche mir Glück dafür... Ellen."
Lange blieb ich am Schreibtisch sitzen, auf dem ich den Brief gefunden hatte. Nur einmal hatte ich eine solche tiefe Verzweiflung bei ihr erlebt, damals, als sie sich völlig betrunken hatte, nach dem Vertrauensbruch des Gurus. Ich dachte, es sei eine einmalige Situation gewesen, eine untypische, extreme Reaktion darauf. Jetzt sah ich das anders. War mein Bild von ihr so oberflächlich gewesen? Nur von dem bestimmt, wie ich sie sehen wollte? Genau wie die anderen, wie sie geschrieben hatte, die anderen Männer, über deren wunschgelenkte Blindheit wir oft sprachen. War ich auch nicht anders wie diese gewesen? Und deswegen für Ellen nie wirklich eine Alternative dazu? Ein Jemand, mit dem sie sich wirklich verbunden fühlte? Und nicht nur jemand, dessen Wesen sie sympathisierend, anteilnehmend aufnahm, ihn annahm, wie er war, ihn dadurch bestätigend, ihn stärkend, ihm ein Geschenk gebend? Wie alle anderen auch...
Ich dachte: wenn Ellen, wie im Mythos, die Seele war, die umherirrende, suchende Seele, dann habe ich meine Seele versäumt. Den wirklichen Zugang zu ihr verfehlt. Seelenlos also. Wie alle anderen auch... Muss mich mit einem psychischen Verhalten begnügen, mit Psychologischem...
Der Mondfrauenmensch ist weitergezogen... Aber er hat mich berührt. Hat mir etwas gegeben. Ich muss akzeptieren, dass ich wieder bei mir bin, auf mich zurückgewiesen. Allein. Ohne sie, ohne den Maler. Den Verschollenen. Aber sie haben mich berührt. Mir etwas gegeben. Ich bin allein, aber ich bin ein Veränderter. Ist das nicht viel?
Heute erst fange ich an richtig zu schreiben. Ich will die Geschichte des Alchemisten als Roman ausarbeiten. Kein Umherschlendern und sich einen Satz ausdenken mehr, kein Alibi, um in einer Bar zu sitzen und einen Espresso zu trinken. Ich nehme das Wenige, das schon aufs Papier gebracht worden ist, mustere aus oder ergänze. Beginne:
"Bis heute kann ich mir meine Schuld nicht vergeben..."
Die anderen Anfänge, wie die Alternativwelt- oder Gespenstergeschichte, lasse ich sein. Konzentriere mich auf ein Projekt. Arbeit war schon immer das beste Mittel, einen Verlust zu überwinden (sagt man so...). Aber der Alchemist ist mehr. Er ist das Geschenk der beiden an mich. Ich werde das Geschenk auspacken und etwas daraus machen. Es weiter reichen.