GNOSISROMAN: HELENA
Inhalt:
Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog
Dem Ende zu
An einem der letzten Tage, bevor die Sphäre der Gemeinsamkeit implodierte, die das Leben des Malers, Ellens und meines in dem ehemaligen Speichergebäude umhüllte (der anderen Mieter, in der mittleren Etage, war wie ausgespart, eine emotional Lücke), stiegen der Maler und ich auf das flache Dach des Gebäudes, mitten in der Nacht, den Anlass dazu weiß ich nicht mehr. Es war einer der seltenen Nächte in der Stadt, an denen die Sterne sich zeigten, nicht durch den orange-gelben Widerschein der Hunderttausende von Lampen an der wie festgelagerten Dunstschicht der Autoabgase und Ausdünstungen der Stadt überstrahlt wurden. Die Winterkälte und ein tagsüber kräftig wehender Wind hatten einen klaren Nachthimmel sichtbar werden lassen und wir standen lange Zeit stumm, in den für hier ungewohnten Himmelsanblick vertieft.
An das danach entstehende Gespräch kann ich mich noch gut erinnern, es ist wie ein letztes Wort an mich, das mir der Maler mitgegeben hat - die Zeit abschließend, in der wir unseren Dreibund lebten. Zuerst, unter dem Eindruck des flimmernden Sternengefunkels, sprachen wir über dieses. Für mich waren die Sterne in meiner Kindheit ein Wunder gewesen, schön und unbegreiflich, unbegreiflich schön. Aber nach und nach hatte ich den Blick nach oben verloren, das Geschehen zwischen den Horizonten, was sich sozusagen auf meiner Ebene abspielt, hatte meine Aufmerksamkeit restlos absorbiert.
Ihm sei es ähnlich ergangen, aber da um einiges älter, habe er inzwischen ein erneuertes Verhältnis zu dem nächtlichen Himmel bekommen, ein bewussteres, beinahe religiöses, sagte der Maler:
"Ich fühle mich durch das allmähliche Sichtbarwerden der Sterne im blau-dunklen Übergang zur Nacht wunderbar getröstet und dem Alltäglichen enthoben. Jetzt habe ich Religion. Welche? Ich weiß es nicht. Der Name dafür ist auch nicht wichtig. Die Tiefe wird tiefer, die Lichtpunkte strahlender, Muster zeigen sich, Ahnungen rühren sich. Maßstäbe bilden sich - nein, Maßstäbe stellen sich ein. Jetzt gibt es sie. Jetzt sind sie real. Sie waren immer in mir, jetzt kann ich auf sie hören. Sie sagen: All das ist unwichtig, was dich sonst beschäftigt. Welche Nichtigkeiten, welche Eitelkeiten, welche Vernachlässigung der wirklichen Welt. Ich bin verbunden mit den unzähligen Menschen vor mir, die wie ich zu den Sternen aufgeschaut haben und sie tief in sich erlebten. Sich selbst als tief erlebten. Und sich als leicht erlebten. Sich über sich getröstet fanden. Sich aus sich herausgehoben fanden."
"Kannst du dir vorstellen, welch ein Verrat es war, als manche Menschen anfingen, dieses umfassende Verbundenheitsgefühl mit der nachtdunklen Weite und den Lichtfunken in ihr zu rationalisieren, dem Nachthimmel ein System einzuschreiben, Gesetze ausfindig zu machen, Regeln aufzustellen, ihm gerade auf die Nichtigkeiten zu beziehen, aus denen das Gefühl uns herausführen möchte, kurz: die Astrologie zu erfinden?
Politiker und ihre Priester-Duzbrüder waren es, die für ihre alltägliche Zwecke und Absichten den rechten Augenblick, die zwingende Unterstützung, das Wohlwollen der ehrfürchtig bestaunten Wesen in Dienst nehmen wollten. Wann sollte der Krieg begonnen werden? Stehen die Sterne günstig für den Staatsstreich? Geht der Stern meiner Stadt glänzend auf? Oder drohen Krankheit, Katastrophen? Das ganze Schlamassel des alltäglichen Elends soll sich als prophetisches Bild am Himmel wiederfinden, als ob uns diese Weite nichts Besseres lehren könnte! Bescheidung. Einsicht ins Notwendige. Akzeptieren des Möglichen. Unsere Grenzen angesichts des Grenzenlosen.
Aus diesem ersten Auftreten der Ratio, ihrem Fehlstart möchte ich sagen, ist nichts anderes entstanden als ein weitverbreitetes System fehlgeleiteter Empfindungen und unbewusster und bewusster Täuschungen und Selbsttäuschungen. Ihr Höhepunkt ist in der jetzigen Praxis der Computerhoroskope erreicht: Wie gebannt starren die Gläubigen auf exakte Ziffern, Winkel, aufs Komma genau berechnete Übergänge und Ereignisse - alles als Liste, Zahlenmaterial, vielleicht sogar Wahrscheinlichkeitsrechnung vor einem liegend. Wer aber schaut noch zu den realen Sternen auf und verspürt eine Ahnung von dem, was sie für uns sein könnten? Ich glaube, wie die Astrologie mit dem Beginn der städtischen Kulturen aufgedämmert ist, so feiert sie ihr Popularitätshoch in staubverdunkelten, streulichtüberstrahlten sternlosen Stadtnächten, weit ab von der beinahe schmerzhaften Magie der Sternenschönheit."
Erneut dauerte unser gemeinsames Schweigen unter dem intensiven Eindruck der sternschönen Nachtkuppel über uns eine ungemessene Zeit lang an. Als der Maler wieder sprach, hatte plötzlich seine Stimmung gewechselt, etwas, was ich vorher an ihm nicht kannte; sein Tonfall schien bitterer zu sein, schwärzer, ein Pessimismus, den er vor mir bisher verborgen hatte, kam zum Vorschein - oder war es der Gefühlsausbruch von jemandem, der etwas auf sich zukommen sieht, bedrängend, und nicht weiß, wie er der Bedrohung (vielleicht zu unbestimmt, vielleicht noch nicht greifbar) ausweichen kann? Hatte er an diesem Abend eine Art Vorahnung von dem, was ein paar Tage später geschehen sollte?
Und das, was er mir sagte, war das wirklich sein Bekenntnis, sein letztes Wort? - Ich hoffe nicht, hoffe, er kann irgendwann unser Gespräch mit mir wieder aufnehmen, es zu Ende führen, unser durchgängiges, stetiges Gespräch, das für mich noch lange nicht aufgehört hat weiterzugehen. Vielleicht würde er dann ja seine Worte abmildern, ich jedenfalls kann sie so, als zu extrem, nicht akzeptieren - weiß allerdings auch nicht, was ich dagegen anführen kann.
Er sprach über das Leben, das wir hier unten, fern der Schönheit des Sternengewimmels, führen müssten, klein angesichts der Weite über uns, belanglos angesichts der Leere allüberall.
"Schau dir doch an, wie jede Generation erneut mit leuchtenden Augen in die Diesseitsfalle tappt - voller Vorfreude auf das Leben, das ihnen was bringen wird? Enttäuschung, Vergeblichkeit, Verlust. Ein blinder, nicht voraussehender Lebenstrieb scheint in sie eingepflanzt, sie folgen einem Programm, das sie sich abstrampeln lässt im Bemühen, das Unerreichbare zu erreichen - was aber ist es, was sie erreichen möchten? Niemand weiß es wirklich. Sie verausgaben sich für eine Aufgabe, die sie nicht kennen, die sie aber erfüllen müssen - ihr Leben. Wie viele von ihnen würden bei der Geburt umkehren, wüssten sie, was ihnen bevorsteht? Wie viele freiwillig das schultern, was auf sie wartet? Die Freude am Da-sein wird immer als Argument dafür angeführt, dass es sich lohnen würde, zu existieren, wird dem Abgrund an Ängsten, Entsetzen, Enttäuschung, vergeblicher Sehnsucht, Leere und Langweile gegengewogen, der ihr Leben realiter bestimmt.
Welchen Wert hat diese selbstbezügliche Freude wirklich, ist sie es wahrhaftig wert, dafür zu sterben - was am Ende ihr Schicksal sein wird? Mit dieser Situation konfrontiert, gibt es für mich nur zwei schwer zu ertragende Alternativen: Einmal die, zu akzeptieren, dass es so ist, dass wir in einer Falle zappeln, die uns nicht entlässt, und dass es aus ihr keinen Trost-Ausweg - oder nur als Selbstlüge - gibt. Das ist die Einsicht, die sich uns heute aufdrängt, wenn wir alles anführen, was wir lernten, als Realität zu nehmen. Das ist die Situation, die der Existenzialismus (ich weiß, ein wenig aus der Mode gekommen) analysiert und auf seine Art bejaht hat.
Ich wähle die andere Haltung, setze auf eine andere Möglichkeit: Ja, wir zappeln in einer Falle. Ja, die Freude an den guten Dingen, die wir finden können, ist - und fast nur zum Preis des Wegsehens von allem Dunklen, Schweren zu bekommen - gering gegenüber dem realen Unglück, das irgendwo auf uns wartet, geduldig, bis wir auf unserem Weg darauf stoßen. Ja, der Zerfall ist im Aufbau schon vorgegeben. Aber: es gibt eine winzige Chance, die Falle zu verlassen. Der Falle zu entkommen. Auf diese Unwahrscheinlichkeit setze ich. Nicht auf das Glück, das Glücklichsein, das Gelingen - wie es einem überall als letztes Ziel weisgemacht wird. Kinderkram. Von unreifen Menschen für unreife Mitmenschen ausgemalt und angepriesen. Wer allein das Leid überdenkt, das an einem einzigen Tag Menschen und Tieren überall auf der Welt zugefügt wird, wie könnte der unbefangen an seinem persönlichen Glücksfeeling festhalten, außer als an einem Zustand der hormonellen Befindlichkeit, der Chemie unseres Körpers geschuldet?
Ich sehe die Wirklichkeit genauso bitterschwarz wie einer dieser modernen Gnostiker ohne Gnosis - ohne den Glauben an eine Errettung, der ihnen nicht mehr möglich ist. Ich glaube auch nicht an eine Rettung durch irgendetwas, was uns bekannt ist. Alle die tradierten Möglichkeiten sind schon von irgendjemandem durchgespielt und vom nächsten Mitspieler widerlegt und verworfen worden. Ich glaube an das Unbekannte. Sich Eröffnende. An etwas, das sich ereignen und mich, uns, aus der Falle befreien wird. Hört sich seltsam an, nicht? Aber anders kann ich es mir nicht vorstellen, dass wir aus unserem Verrannt sein entkommen könnten. So oder gar nicht.
Und bis dahin rüste ich mich, dass ich bereit bin. Arbeite ich daran, dass ich das Ereignis erkennen kann. Vielleicht ist es der eine Pinselstrich, der mir zur Vollendung meines Bildes noch fehlte - vielleicht ist es der Augenblick meines Sterbens. Vielleicht liegt der Ausgang für mich im Lächeln eines Menschen, seinem Blick, der mich aus der Zeit stellt, und derjenige, der dann wieder in die Zeit zurückfällt, ist der Zurückbleibende, aber ich selbst bin gegangen - traurig, dass es meinen Schatten dann hier irgendwie noch gibt... Ich weiß nicht, wie ich mir das Ereignis vorstellen soll, ich glaube aber, dass es stattfinden wird. Für mich, für dich, für uns, und dass dies das Einzige ist, was uns hinausführen kann..."
Hier war er für mich zu absolut. Zu ablehnend allem gegenüber, was in der Mitte zuhause war, nicht im auf die Spitze getriebenem Extrem, im Nichts, welches ins Alles führen soll. Zu wenig liebevoll (oder mitleidvoll) dem Einzelnen gegenüber, der vielerlei in sich hat, im Mehr oder Weniger, der gemischt ist und deshalb unvollkommen - aber im Fluss des Lebens steht, seines Lebens, weder von ihm ausgesucht noch wirklich von ihm zu steuern - und welches der Maler durch seine herabsetzenden Worte verächtlich ablehnte. Ich hätte gerne gehabt, dass er ein andermal sich selbst, in einer anderen Stimmung, mit einer anderen Stimme, widersprochen hätte, die schroffe Abweisung des konkreten Daseins gemildert hätte - würde gerne glauben, dass wir dann übereingestimmt hätten. Dazu ist es nicht mehr gekommen.
**
Ich erinnere mich an ein anderes Gespräch mit ihm, in dem er über die Situation und Leistung des Einzelnen ganz anders gesprochen hatte - merkwürdigerweise auch unter dem Endruck einer hellklaren Sternennacht. Damals aber in den dichtbewaldeten Bergzügen im Norden, auf dem weit auskragenden Balkon eines mitten in die Wälder gebauten Hauses geführt, der krummgezimmerten, verschachtelt-verwinkelten Selbstbaukonstruktion eines befreundeten Architekten (desselben, der mir den Tipp mit dem Lagergebäude gegeben hatte), auf dessen Einladung hin ich den Maler mitgenommen, ihn aus seinem Arbeitsklause entführt hatte - was selten möglich war. Inmitten der eher gedämpften Geräuschkulisse einer Smalltalkparty lotste er mich wieder auf die Felder seiner Philosophie, wie immer, wenn wir zusammen waren:
"Sieh' dir die unzählbar scheinende Menge der Lichtpunkte über dir an, das Glanzgewimmel - Giordano Brunos unendliche Welten - und denke dann an die Vielzahl der Bewusstseinslichter, die für uns wie diese Sterne aufleuchten würden, könnten wir unseren Globus von außen, in der Überschau betrachten und hätten ein visuelles Sinnesorgan dafür. Und genauso, wie viele beim Gedanken an die Unendlichkeit über uns ins Schaudern geraten sind, sich in einen Abgrund hinein fallend fühlend und deshalb ängstlich sich vom schwindelerregenden Sog der Weltraumtiefe abwendend, genauso sperren sich viele gegen den Gedanken einer Unzahl von individueller Welten, jede für sich stehend, dennoch verbunden wie kommunizierende Röhren, jede gleich wertig gegenüber der zeitlosen Quelle aller dieser Bewusstseinsfunken. Jede einen anderen Aspekt der Unendlichkeit entwickelnd, eine andere Facette realisierend."
"Ich bin überzeugt (ich weiß, du zweifelst noch): Es gibt einen Sinn. Es gibt einen Zugang zur Quelle. Aber dieser wird nicht in einer singulären Einzelerzählung beschrieben. Es gibt unendlich viele Erzählungen darüber, so viele, wie es autonome Bewusstseinszentren gibt - selbst geschaffene Lichter, die einen Ausschnitt der Realität beleuchten.
Wenn ich davon ausgehen müsste, dass ich niemals die Wirklichkeit treffen kann, dann werde ich an dieser Sisyphosarbeit verzweifeln, werde lethargisch werden, resignieren. Und wenn ich davon ausgehe, dass ich die Wahrheit besitze, dann bräuchte ich nicht mehr zu suchen, säße genauso fest, erstarrt fixiert. Ich muss glauben, dass Wissen können möglich ist, und ich muss annehmen, dass es keine letztgültige, schon gegebene Offenbarung gibt, die mir die Suche erspart (und mir stattdessen die Aufgabe der Missionierung dafür überantwortet) - dann kann ich auf meine eigene Art, mit meinen eigenen Mitteln ein Suchender sein. Und jeder kann, wird es auf seine Weise sein.
Die Monopolisten vermeintlicher einziger Wahrheiten wehren dies als relativistisch ab - für sie kann es nur eine Wirklichkeit, eine Wahrheit (natürlich die, die sie besitzen) geben. Früher (und auch jetzt noch, in manchen Gegenden) war es die eine metaphysische Wahrheit, welche die Hüter des Wahrheitsmonopols mit aller Macht, die sie auch realiter hatten, vertraten - heute ist es eher eine nivellierende Wirkung auf die Köpfe, um die es geht, Nebenprodukt des Strebens nach Kontrolle und Einfluss und Gewinn."
"Du musst beachten, in welche Richtung unsere Gesellschaft marschiert, welche Strömung und welche Gegenströmungen da sind. Alles, was sich institutionalisiert und als staatliche Gewalt oder wirtschaftliche Macht auftritt, zielt auf die umfassende Beeinflussung des Bewusstseins der Individuen, auf Manipulation ihrer Gedanken und Gefühle durch abhängige Medien, durch Geheimdienste der Regierungen, durch Macher der öffentlichen Meinung. Uniformierung wäre das Endergebnis.
Dir kommt es vielleicht übertrieben vor, wenn ich davor warne, du sagst vielleicht, das Leben ist eher chaotisch als uniformiert (aber erinnere dich an andere Zeiten, an andere Länder), jeder spricht mit einer anderen Stimme, redet über etwas anderes, alle reden durcheinander - aber das ist nur di Oberfläche.
Alle reden über dieselben Dinge, dieselben Nachrichten, alle werden durch dieselben Bilder bewegt. Jeder hat seine eigene Meinung dazu (glaubt es wenigstens), aber alle beschäftigt dasselbe. Wir sind auf dieselben Stichworte konditioniert, reagieren auf die gleichen Losungen, empören uns oder verachten, hoffen auf etwas oder fürchten uns davor, vereint mit allen anderen. Sind den Moden und der öffentlichen Meinung unterworfen, den schnellvergänglichen Trends und den langanhaltenden Entwicklungen. Sind den vorgegebenen Gedankenformen und Vorstellungen unterworfen (das ist ja dein Thema), die alle anderen, quer dazu aufgestellten, ins Abseits zu drängen versuchen. Heute ein globaler Prozess."
"Unser Problem ist ganz bestimmt nicht, dass wir von finsteren, okkulten Verschwörern umgeben sind, von Magiern und Geheimbündlern, wie manchmal suggeriert wird, unser Problem ist der Ausbau eines wissenschaftlich-technischen Komplexes und dessen Folgen, mit denen wir uns in der Zukunft noch stärker konfrontiert werden sehen. Ist eine Welt, in der durch die Verbindung von Wissenschaft, Technik, Macht und Geld ein lückenloses Netz von Einwirkungsmöglichkeiten auf das Individuum entsteht, schon entstanden ist, welches durch Algorithmen berechenbar gemacht wird, welches manipuliert, behindert, benutzt wird, besonders durch den Einfluss der Medien. Vor diesem Hintergrund wirken die fragwürdigen Bemühungen okkulter Gruppen oder Einzelpersonen nur wie anarchische Störungen der glatten Normalität. Wenn dieser Komplex den Mainstream kontrolliert, wird alles, was unter und gegen ihn verläuft zum Durchbruch in die Freiheit.
Wenn allerdings umgekehrt Voodoo zur Staatsreligion wird (im Haiti der Duvaliers war das der Fall), dann ist das Bestehen auf Rationalität schon wieder etwas Subversives, etwas Befreiendes. Aber ob eine alles bestimmende Religion oder eine alles erklärende Weltanschauung, der Einzelne, der sich mit sich selbst In-eins setzt und aus diesem Erleben lebt, ist in überall der Feind, den man bekämpft - weil er imstande ist, das System zu demaskieren und zu unterlaufen."
"Nur die Anstrengung Einzelner hält solchen deformierend-uniformierenden Gewalten dagegen: Durch ihr Bemühen, sich selbst zum Sender von medialen Signalen zu machen, nicht nur Empfänger zu sein. Den eigenen Rhythmus in der gleichgetakteten Mentalsphäre aufzufinden und aufzuführen. Und damit Störsender zu sein. Die eigene Nachricht zu verbreiten: Da bin ich. Seht ihr mich, hört ihr mich, fühlt ihr mit mir? In letzter Konsequenz würden diese autonomen Quellen von Überzeugung und Sinn 6 ½ Milliarden sich selbst produzierender Sinnsphären ausmachen, monadische Eigenwelten, und wer weiß, wie viele noch dazu kämen, rechneten wir nicht nur mit dem menschlichen Bewusstsein...
Das braucht kein unmögliches Szenarium zu sein, wenn du davon ausgehst, dass es in einer unendlich großen Mentalwelt unendlich viele Welten und Weltzugänge gibt - jeder gleichberechtigt, da gleich weit (oder fern, oder nah) vom Ursprung des Ursprungs entfernt. Jeder trägt seine eigene Ausformung der Wahrheit in sich, keine Kirche der einzig wahren Wahrheit, keine Gleichheitsmacher und kein Wahrheitsministerium kann das verhindern, auf ein einzig Verbindliches zurechtbiegen.
Den Streit, die Unverbundenheit, die Gegensätze und die Anstrengung um ein Gemeinsames, in dem wir uns dennoch treffen können, müssen wir aushalten. Denn keine große, gleichgeschaltet redigierte Erzählung berichtet über die alleinige Wahrheit: Die Milliarden von Einzelstimmen erfüllen gemeinsam den Sinn - in unendlich vielen Varianten und Abweichungen."
War das nicht das große Plädoyer für die Einmaligkeit und die einzigartige Bedeutung jedes Einzelnen für die Entfaltung des Ganzen? Fällt er aus, fehlt eine Farbe, ein Ton, ein Baustein in der unendlichen Skala der Farbspektren, Töne, sich ergänzenden Puzzleteile. Fehlt seine Stimme im Chor, wäre dieser nicht vollkommen. Und nur als vollkommen kann man sich die Fülle denken. Weniger wäre nicht das Ganze. Und dieses Ganze, in der Zeit verwirklicht, in jedem, durch jeden von uns, wäre das nicht das Pleroma, in das der Maler hineingehoben werden wollte, der Falle entkommend, wie er sagte - wäre das nicht schon das, um was es geht? Ihm konnte ich nach dem letzten Nachtgespräch diese Frage nicht mehr stellen, seine eigene Argumentation gegen ihn wendend, aber ich hoffe doch, dass es mir irgendwann wieder möglich sein wird.
**
Diesmal war es Ellen, die mich anrief und mir sagte, ich solle kommen, es ginge um den Maler. Mehr wollte sie mir nicht verraten,
"Ncht jetzt, nicht am Telefon", bemerkte sie etwas mysteriös auf mein Nachfragen, um was es sich den handele. Also machte ich mich auf den Weg, sehr früh am Morgen; mein Handy, das ich für gewöhnlich über Nacht ausgeschaltet habe (eventueller störender Anrufe wegen), war diesmal - glücklicher Zufall muss man sagen - aus Unachtsamkeit in Betrieb geblieben, so dass mich in aller Frühe der hartnäckige Singsang der neuen Melodie (eine andere als damals, als die Sache mit Ellen passierte, ich hatte sie schließlich doch gewechselt) aus einem unruhigen Morgenschlaf weckte.
Als ich ankam, fielen mir zwei Autos auf, die den Zugang zum Haus versperrten, ein weiterer Wagen stand mit laufendem Motor an der Ecke, Männer in ihm. Vor der Hauseingangstür wartete jemand auf mich, so schien es mir, aber nicht Ellen, sondern ein sehr breiter, untersetzter Mann, wie man ihn sich bei einem Casting für die Rolle eines FBI-Agenten in einem Detektivfilm vorstellen konnte, und tatsächlich stellte er sich als etwas ähnliches vor. Ob ich wüsste, wo sich der Maler im Augenblick aufhalten würde, er wäre nicht Zuhause.
Verdattert fragte ich "Warum suchen Sie ihn denn", bekam keine Antwort und sagte dann: "Nein. Ich weiß es nicht. Vorgestern hatten wir uns hier in seinem Atelier noch miteinander unterhalten, er hat mir nichts davon erzählt, dass er verreisen würde..."
Ob ich mit dem Maler näher bekannt gewesen wäre, ich zum Beispiel wissen würde, wovon er mir die Miete bezahlt hätte?
Verwundert sagte ich: "Von seiner Malerei, nehme ich an. Dass er sein Geld mit etwas anderem verdient, ist mir nicht bekannt."
"Korrekt", sagte der andere, "von seiner Malerei. Kommen Sie bitte morgen Nachmittag zu mir ins Büro, hier meine Karte, dort können wir ihre Angaben aufnehmen und protokollieren."
Mehr konnte ich nicht von ihm erfahren, auch Ellen, die mich an ihrer Wohnungstür erwartete, wusste nichts weiteres. Die Polizei war gekommen und hatte das Haus umstellt, hatte ihr befohlen, in ihrer Wohnung zu bleiben (gleichzeitig sah sich jemand in ihren Räumen um, verriet ihr aber nicht, wonach er suchte, interessierte sich aber auffällig für ein Bild, das in ihrem Wohnraum hing), dann wurde der Maler mit Megaphonstimme aufgefordert zu öffnen. Nachdem sich nichts rührte, war die Tür fachkundig aufgestemmt worden.
Einer der Männer hatte seine Pistole entsichert, als ob er befürchten würde, der Maler stürze sich auf sie, sobald sie die Tür aufhebelten - Ellen war noch immer fassungslos.
"Ich stand vor meiner eigenen Wohnungstür, sah nach oben, der Mann mit der Pistole schaute nach unten, sah mich, und machte mit der Waffe in der Hand eine Bewegung, ich solle verschwinden."
"Hat er dich bedroht? "
"Nein, nicht, nur diese Bewegung, ohne zu zielen: verschwinde."
Der Maler war nicht in seiner Wohnung. Die Beamten besetzten sie, verwehrten den Zugang, untersuchten. Später kam ein LKW, es schien, als ob sie das halbe Atelier ausräumten; sie verfrachteten die Bilder, in Decken gehüllt, versiegelten den Eingang und zogen ab.
Am Nachmittag schon konnten wir es in den Nachrichten hören: Ein weitverzweigter Kunstfälscherskandal war aufgedeckt worden. Bekannte Museen waren davon betroffen, Experten angeklagt, falsche Beurteilungen ausgestellt zu haben, Bilder hatte man beschlagnahmt. Unter anderen waren gefälschte Pollocks sichergestellt worden. Einer der Hauptverdächtigen sei flüchtig. Auch die Hintermänner seien noch nicht gefasst, es handele sich um eine internationale Kunstfälscherbande, die vor allem neureichen (russischen) Privatleuten Kunst aus der Zeit der beiden Weltkriege verkauft hätte.
Ich verstand es nicht: Wie konnte der Maler in eine solche Sache verwickelt sein? Oder war alles ein Missverständnis, war er verwechselt worden? Tatsache blieb: Seit gestern war er verschwunden. War nicht mehr aufzufinden, auch nicht durch die Polizei.
Ellen und ich waren verstört: Hatte der Maler ein Doppelleben geführt, eine uns unbekannte andere Seite gehabt, eine zweite Existenz? Und wenn: welche war die eigentliche, die echte gewesen? Oder gab es dabei kein Eigentlich und kein Vorgetäuscht, sondern nur besondere Umstände, die zu einer gleichzeitig verschränkten und sich einander ausschließenden Zweigleisigkeit der Lebensbahn führten? Zu Verborgenheit auf jeden Fall. Das wieder konnte Ellen gut nachvollziehen, war ihr eigenes Leben doch auch nicht jedem, der sie zu kennen glaubte, ein offenes Buch.
Wir blieben in den folgenden Tagen zusammen, warteten auf eine Nachricht über den Maler, und auf, wie wir hofften, vielleicht einer geheimen von ihm selbst, aber beides blieb aus. So trösteten wir uns gegenseitig, hatten sogar Sex miteinander, was sie vor dem Erlebnis mit Ashley abgelehnt hatte (dadurch war offenbar eine Schwelle überschritten worden), aber es war nicht die verschmelzende Vereinigung mit der Geliebten, wie ich es mir in meinen Tagträumen vorgestellt hatte, es war die weitergeführte Trostzärtlichkeit guter Freunde, von ihr mir als ein Geschenk gegeben - etwas, was mich wiederum mehr melancholisch als glücklich machte.
Ich hatte das Gefühl, dass ich mich dadurch eher in die Reihe der anderen stellte, als dass ich in ihren Augen der Besondere war, der ich gerne für sie gewesen wäre, auch in Bezug auf Intimität und Nähe. Doch war es auch etwas, an das ich mich jetzt noch liebevoll erinnere, keine Bitterkeit, keine Trübung beigemischt. Nur nicht das Ersehnte. Und es gehörte zur endenden Zeit, zum Abschluss, der durch das Verschwinden des Malers markiert wurde.
Weiter nächstes Kapitel: Überzeugungen