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GNOSISROMAN: HELENA


Inhalt:

Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog



Entwicklung

Für den Maler waren meine Vorbehalte nur hinter sich zu lassende Stationen auf dem Weg zu einer Abklärung, die für ihn wohl schon erreicht war, meine Zweifel und die Ablehnung aller unerklärlichen Geschichten hinderten ihn nicht daran, mit mir weiter darüber zu sprechen. Er spürte, dass mein Interesse an diesen Themen tiefer ging als mein erster kritischer Kommentar zeigte. So erläuterte er mir, inmitten des kreativen Chaos seines Studios, umstellt von bemalten Leinwänden, seine Farben herstellend oder einen Bildhintergrund präparierend (wenn er an dem eigentlichen Bild arbeitete, wollte er niemanden um sich haben), was sich für ihn mit dem Alchemisten verband, der Alchemie und dem Entwicklungsweg, der in ihr praktizieret wurde, ein westlicher Sufi-Weg, der Weg der inneren Entwicklung, als Rückweg in das Eigentliche, aus dem wir kommen:
"Seit sich die ersten Nervenfasern deines embryonalen Gehirns organisiert haben, im Wechselspiel von genetisch bedingtem biologischen Wachstum und von außen auftretenden Reizen (auch der Uterus ist eine erste Außenwelt für den sich entwickelnden kleinen Körper: Im rötlichen Dämmerlicht fast schwerelos in einer wärmenden, umspülenden, sanft massierenden Urflüssigkeit schwebend, von musikalischen Schwingungen moduliert...) ist dessen Struktur immer komplexer geworden, durch exogene und endogene Ereignisse geprägt, die sich in dem sich entwickelnden Wesen Einkörpern, Verkörpern, zuerst nur Leiblich, dann im Funktionellen der Nervenzellen, später dann im Bereich der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung, aber immer alle Bezüge ausformend. Das ist ein Entwicklungsprozess, in dem das, was auf dich einwirkt ebenso wichtig ist wie das, was vom genetischen Material bereitgestellt wird: Du wirst durch deine Erfahrungen, auf jeder Ebene des Weltbezugs, organisiert und damit programmiert.
Der Kern aller Einweihungslehren, die eigentlich Entwicklungslehren genannt werden sollten, ist die De- Programmierung alles dessen, was sich auf diese Weise aufgebaut hat: Reflex, Instinkt, Verhalten, Charakter, Habitus, Gewohnheit, Wahrnehmungs- und Denkstruktur. Und gleichzeitig deren Neu- Programmierung. Das geht normalerweise nicht so weit, dass die körperliche Grundlage wieder aufgelöst wird, aber auch davon erzählen die Mythen von den höheren Graden der Einweihung, die von Wesen, Meistern, in einem anderen als dem normalen physischen Leib berichten, die sich diesen Leib selbst geschaffen, als ihre eigener Baumeister selbst errichtet haben, aus dem umgewandelten Material ihres der Zeit ausgelieferten Körpers. Ob eine solche weitgehende De- und Neu-Programmierung wirklich möglich ist, kann ich nicht beurteilen, sie wäre aber eine konsequente Fortführung dieses Gedankens. Aber in den Bereichen, die der Selbsterfahrung zuerst zugänglich sind, liegt der Einstieg in diesen Prozess der selbstgesteuerten Programmierung, der Selbstschöpfung, der Erschaffung eines neuen göttlichen Wesens, dessen Ausgangsmaterial du selbst bist.
Du beginnst dort, wo du dich im Augenblick befindest, in dem Zustand, der jetzt dein eigener ist, und führst ihn Schrittweise in der Gegenrichtung deines Werdeprozesses durch, angefangen mit der Aneignung neuer Gedanken, eines selbstwahrnehmenden Denkens, dem Abbau von Vorurteilen, dem Erwerb aktiver Gedächtnisleistungen und erweiterter Bewusstseinsfähigkeiten, der Installierung neuer Gewohnheiten, der Überwindung von Abneigungen, Phobien, der Auflösung tiefverwurzelter Stammestabus und fixierter Verhaltensregeln oder familiärer Muster, über die Selbstformung deines Habitus, deines Charakters, bis in den Bereich der instinktiven Reaktionen und der Beherrschung körperlicher Prozesse.
Rezepte dafür gibt es in jeder Himmelsrichtung, aus jeder Erdregion und jeder Geschichtsepoche - Schulung dieser Art wurden angeboten, seitdem die ersten Schamanen als Berater und Leiter ihres Stammes auftraten. Du kannst dir vorstellen, was für eine gewaltige, was für eine unlösbare Aufgabe das ist - und wie weit du und ich auf diesem Weg schon gekommen sind. Anfänger des Weges sind wir, werden wir immer sein, aber der Weg ist schon sichtbar, den wir gehen können.

- Denke darüber nach, was der Alchemist will, was sein Ziel ist. Will er Gold machen? Reich werden? Will er die ultimativ-lebensverlängernde Arznei herstellen? Ewiges Leben also? Ein Mittel in der Hand haben, gegen jede Krankheit einsetzbar - so wie heute die Biogenetiker von einer möglichen Lebensverlängerung durch eine zukünftigen Medizintechnik schwärmen, die durch ihre Methoden erreichbar sei - ist das der Antrieb des Alchemisten?
Denke an die Herkunft seiner Vorstellungsbilder, den Hintergrund seines geduldigen Bemühens - im Mythos von der Urheberschaft des Hermes Trismegistos, des ägyptischen Thots, für die hermetische Kunst und Philosophie liegt dein Fingerzeig. Was war in Ägypten der zentrale Inhalt des Geheimwissens? Die Verwandlung des Pharaos in einen Gott. Wie man ein Gott wird, wurde erforscht und gelehrt.
Der Pharao ist nicht der Stellvertreter Gottes auf Erden, wie in späteren Kulturen von deren geistigen und weltlichen Führern gesprochen wurden, er ist der Gott selbst. Und daher von existenzieller Bedeutung für das Land, dessen Gedeihen in jeder Hinsicht von ihm abhängt. Ein politisches Faktum also. Ein politisches Geheimnis daher auch. Dieses Konzept, und Bruchstücke des damit verbundenen Wissens, wurde in einer späteren, veränderten Gesellschaft aufgegriffen und weiterentwickelt: In kleinen Gruppen und als Einzelindividuum wurde die Verwandlung in einen Gott gesucht. In der Spätantike, in der Gnosis war die Staatsaffäre zur Privatsache geworden - trotzdem trug sie noch immer die Züge einer Metamorphose ins Übermenschliche. Nur durch das Bemühen des Einzelnen erreichbar, der durch und über die Planetensphären hinaus in die Identität mit dem wahren Einzigen hineinwächst. Sich selbst transformiert.
Solche Vorstellungen setzen sich noch bis Paracelsus fort, dem "Jenseits-des-Celsus", wie er sich nannte, wenn er sagt:
"Im Menschen treffen sich äußerer und innerer Himmel. Der Himmel ist der Makroanthropos, der Mensch der Mikrokosmos... Im Menschen nämlich sind Sonne und Mond und alle Planeten, desgleichen auch in ihm die Sterne und das ganze Chaos... Darum muss das Gestirn dem Menschen folgen und ihm unterworfen sein - und nicht der Mensch dem Gestirn..."
Dieser Mensch, der sich seiner selbst bewusst geworden ist, seinen Körper, seinen Leib, seine Psyche und seinen Geist kennt und beherrscht, regiert damit den Himmel, ist göttlich geworden, ist, wenn er sich selbst in allen seinen Kräften durchschaut, ein unsterblicher Gott, identisch mit dem Makroanthropos. Im große Werk der Alchemisten ist der Prozess der Transformierung ihrer selbst in dieses göttliche Wesen beschrieben, die Handlungsfolge, die ihn Stufe um Stufe diesem Ziel hin Zuverwandelt. Die Alchemisten geben sich in ihren Schriften gegenseitig Rezepte, Ratschläge, Tipps, wie sie zu verfahren haben, um ihre eigene Transmutation durchzuführen. Verschlüsselt, in Andeutungen und mit versteckten Hinweisen("so du meine Rede recht verstehst..."), da ihr Geheimnis noch ketzerischer ist als manches, wofür man in dieser Zeit schon in die Kerker der Inquisition gekommen wäre. Das ist das Konzept - und das Scheitern gehört naturgemäß dazu. Das Nichterreichen. Steckenbleiben. Aufgeben. Sich vergeblich abmühen.
- Es ist nicht so, dass dieses Wissen geheimgehalten worden ist, weil es nicht für jedermann gemacht sei, nicht für jeden begreifbar wäre (was natürlich auch stimmt), dann würde es sich sozusagen selbst schützen, weil nur dem dazu Befähigten interessant und von Nutzen. Das ist die üblich gegebene Erklärung. Es ist aber eher so, dass durch die Geheimhaltung verhindert werden sollte, dass andere als die vorgesehenen Personen, der Pharao und seine Priesterkaste, die Gottwerdung erreichen. In der Überzeugung, dass dieser Prozess funktioniert, musste er zum Staatsgeheimnis werden, um die Welt von einer Unzahl von Göttern zu schützen, die sich gegenseitig ihre Titel und Ansprüche streitig machen und den hierarchischen, pyramidenförmig aufgebauten Staat mit nur einer einzigen möglichen Spitze ins Chaos stürzen würden.
Was daraus folgt, wenn ein Einzelner sich selbst autorisiert, ein Gott zu sein, sieht man am Beispiel des Simon Magus - der sich selbst dazu erklärte Kraft seiner Einsicht, das dies dem Menschen möglich ist - Erkennen dieser Möglichkeit, Gnosis genannt, und Ausschöpfen dieses Potenzials sind ihm ein und dasselbe - aber er tut es noch im Rahmen des antiken Denkens über Gott und Göttlichkeit.
Ein Zeitgenosse von ihm; Jesus, sagte im Grunde das gleiche (...Der Vater und ich sind eins...), aber er bringt eine andere Nuance ins Spiel, die ihn zu etwas Besonderem macht, zu einem Neuerer - er erklärt sich nicht zum Herrscher über Himmel und Erde, wie es jeder andere Gott tun würde, er sagt stattdessen: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Verzicht auf die Anmaßung der Herrschaft, Mitleiden mit den Ohnmächtigen, Gott werden und doch Mensch bleiben: ein anderes Programm. Als Mensch sein Schicksal erdulden. Es annehmen. Opfer sein. Obwohl doch Gott...
- Die Gnostiker und auch in deren Folge die Alchemisten beziehen sich allerdings noch auf das andere, alte Bild der Gottgleichheit. Zur Identität mit dem Ursprung kommen. Sich ins Göttliche erhöhen. Zur Welt heranwachsen, über die Welt hinauswachsen. Den für den Menschen vorgesehenen Platz wieder einnehmen. Sie folgen dem uralten Pfad, dem Menschen schon immer gefolgt sind, überall, zu jeder Zeit. Sie wagen ihre Selbsttransformation.

"Aber ist dieses Programm nicht eine völlige Überforderung des Einzelnen, deshalb irreal und nur Utopie? Und wenn seit Jahrtausenden solche Versuche stattgefunden haben, wo sind denn alle die Übermenschen geblieben, die sich auf diese Weise selbst produzierten? Woran sieht man ihren Einfluss, in der katastrophalen Realgeschichte etwa, und wenn ihre Existenz dafür nichts bedeutet, warum dann der ganze Aufwand? Warum soll ich nicht einfach die Bedingungen akzeptieren, unter denen ich angetreten bin und das Beste daraus machen, das Beste mir mögliche?"
Die Heftigkeit, mit der ich ihn unterbrach, überraschte mich selbst.
"Warum bin ich, so wie ich bin, nicht gut genug?"
"Du widersprichst dir. Das Beste aus dem zu machen, was du gerade bist, um das geht es ja. Es geht um dein Potenzial. Um das, was in dir steckt. Um nichts mehr. Und warum wir den Weg gehen sollten? Weil wir schon auf ihm sind, Jedefrau, Jedermann. Weil er unser Schicksal ist - das uns Zugedachte - und ihn jeder auf seine Art und in seiner Geschwindigkeit begeht. Jeder, der einigermaßen Selbstbeherrschung gelernt hat, der an seinem emotionalen Selbstausdruck laboriert, der sich entwickeln will, lernen will, der neue Gedanken zulässt und aufgreift, sogar (oder: gerade) der Bodybuilder im Fitness- Studio, der sich im wöchentlichen Schweiß seinen Körper aufbaut, einem Idealbild folgend, geduldig, Schritt für Schritt seine Übungen exerziert und dadurch Standfestigkeit beweist - jeder ist auf seine Weise Teilnehmer dieser Entwicklungsprozession.
Alle die dadurch erworbenen, umgeformten Eigenschaften bezeugen uns als Wesen, die an sich selbst arbeiten, die sich nicht der Entropie, der Trägheit überlassen, dem Fall, der Schwerkraft der Verhältnisse. Zeigen uns als von Natur aus Übernatürlich, uns selbst überformend, selbst bewusst gestaltend. Es ist der alchemistischer Prozess, der das Geringere in das Erhöhte überführen will, Blei in Silber, Silber in Gold, analog zu der Arbeit an sich selbst, um die eigene Verfassung in einen höheren Zustand zu stemmen. Ein zutiefst alchemistisches, gnostisches Motiv. Und in jedem von uns treibt dieses Motiv.

- Das Herz, das geheime Ziel dieser Arbeit (den die überall anzutreffenden, überall angebotenen Anleitungen zur Selbstvervollkommnung, als Training für das Gedächtnis, für die Kreativität, den Willen, den Körper, sind nur deren Widerspiegelung im Äußeren) ist durch die tradierten Initiationsbünde weitergereicht worden, von einem Zeitausdruck in den anderen übersetzt, ist als Hermetik, Alchemie, Magie, Rosenkreuzertum, Theosophie, modernes Adeptentum, oder wie auch immer die jeweilige zeitabhängige Konstellation sich nannte, immer wieder neu formiert aufgetreten. In Abhängigkeit voneinander, manchmal in Gegnerschaft, in Abspaltung auseinander oder fließend wieder ineinander übergehend.
Lange, bevor es eine moderne Psychologie gab, die sich heute mit intelligenz- und gedächtnisleistungssteigernden Methoden auf dem Markt tummelt, hat zum Beispiel jemand wie Trithemius, der Renaissance-Abt und Magieforscher in seiner Steganographia, als Verbindung von Gedächtniskunst der antiken Rhetoriker und der kombinatorischen Weltdeutung eines Raimundus Lullus, Anweisungen zur bildhaften Vorstellung von Gedächtnisschaubühnen gegeben, die eine Gedächtnissteigerung ermöglichen - und andrerseits auch erst durch eine Steigerung des Gedächtnisses möglich werden ("Das Buch soll die Kunst lehren, einem Menschen, der bloß seine Muttersprache versteht, in zwei Stunden vollkommen Lateinisch lesen und schreiben zu lernen, und zwar mit Verständnis..." schrieb er etwas zu vollmundig in einem Brief darüber - was ihn noch mehr in den Ruf brachte, ein Schwarzmagier zu sein).
- Wer von Selbsterfüllung spricht, von Arbeit an sich selbst, von Individuation, greift auf Vorstellungen zurück, die in der Hermetik wurzeln, in Alchemie, Magie, Geheimwissenschaften kreisten und heute mit einer Vielzahl von alternativ- psychologischen Richtungen assoziiert werden. Das geduldig-prozessuale Arbeiten der Alchemisten an ihren immer wieder neu anzusetzenden Mischungen, um Stufe um Stufe dem großen Ziel näher zu kommen, die lebenslangen Bemühungen der Adepten um Erleuchtung, alles verweist auf das große Werk, an denen sie beteiligt sind: Ihre Selbsterschaffung als mentale Wesen, in selbsterschaffenen mentalen Welten lebend, diese dadurch durchschauend und überwindend... "

Während seiner Rede stellte sich mir das Bild unseres Planeten ein (einmal um den Erdball gekreist und dann auf einen ausgesuchten Punkt des Globusses gezoomt, gegoogelt...), wie es auf ihm von Individuen wimmelte, von denen jeder für sich die Arbeit der Selbstdisziplinierung, Selbsterziehung, Selbstvervollkommnung leisteten: der Zen-Jünger in seinem Meditationsraum, der buddhistische Mönch in seiner Tempelzelle, der orthodoxe Einsiedler in seiner Klause, Meditierende jeder Nationalität in den Räumen, Kammern, Winkeln, die sie sich dafür eingerichtet hatten, in Kalifornien ebenso wie in Moskau - bemühte Menschen, die sich nicht nur treiben lassen wollten, sondern für ihre eigene Entwicklung etwas taten.
Und dann das Heer der Lernenden, Trainierenden, ihre Intelligenz, ihre Stärke, Schnelligkeit, Muskelkraft verstärkenden, die alle an sich arbeiten, sich verbessern wollten. Es scheint wirklich etwas Selbstverständliches, Allgemeingültiges zu sein: das, was man hat, zu verbessern, es auszubauen, zu steigern. Aber warum tun sie es? Ist es nicht das Motiv, besser als die Anderen zu sein, dass die meisten treibt, der Konkurrenzkampf also? Ist es nicht ein Ziel, eine zu überwindende Grenze, ein vorgestelltes Ideal, um das sie sich mühen, Motiv also ein Antreibendes außerhalb ihrer selbst? Warum konnte niemand in sich ruhen, bei sich bleiben, zufrieden mit sich und der Umwelt, warum musste alles in Bewegung sein, ins Größere wachsen, durfte nichts stehen bleiben ohne gleich wieder zusammenzuschnurren, zu schrumpeln, sich aufzulösen?
Und wenn die Vervollkommnungsarbeit an sich selbst allgemeines Ideal ist, was ist mit den Menschen, die nicht mithalten können? Wird in einer Gesellschaft, die auf Körpervervollkommnung aus ist (wie unsere in weitem Maße schon) nicht derjenige verachtet, der dick, träge, unförmig, sein Gewicht mit sich herumschleppt?
Bei diesem Gedanken merkte ich: Genau hier lag mein eigenes Vorurteil. Ich mochte Menschen nicht, denen man ansah, dass sie keine Selbstdisziplin besaßen, die in sich reinstopften, was immer sie greifen konnten, nicht auf ihr Gewicht achteten - entweder weil sie sich in dieser Hinsicht aufgegeben oder noch nie über ihre Wampe nachgedacht hatten. Also lag dieses Vorurteil schon selbstverständlich in der Luft - auch ich war davon infiziert. Ich konnte sie nicht nehmen wie sie waren, reagierte antipatisch.
Und mit den anderen Idealen, gab es da nicht auch immer Verlierer, Letzte in der Schlange, im Fortschrittsstrom Abgehängte? Was war mit Intelligenz? Wenn jeder für seine Intelligenz selbstverantwortlich sein wird, weil er sie üben kann, sie ausbauen, erhöhen kann - vielleicht auch mit Hilfe von Medikamenten - was ist mit den Dummen? Werden sie dann nicht nur bemitleidet (oder übervorteilt) sondern auch verachtet werden, weil sie sich keine Mühe geben? So wie wir jeden insgeheim verachten, der sich fallen lässt, zusammen sinkt, zerbricht, der am Weg liegen bleibt, der auf der Straße, im Suff, an der Nadel endet? Wir weichen ihm instinktiv aus, weil er uns ein Bespiel dafür gibt, was auch aus uns werden könnte, wenn wir nicht im Rennen bleiben. Und dieses Rennen ist in vollem Gange - alle die Angebote, die es dazu gibt, besser im Beruf, überzeugender im Auftreten, schlagfertiger und erfolgreicher zu sein, bezeugen es: NLP, Mindmapping, Brainpower, Gedächtnistraining und, noch verschärft, Dianetik usw., werden uns von allen Seiten eifrig als Helfer in unserem Bemühen angeboten, uns einen scheinbaren Vorteil im Gedränge um den besseren Job und den schnelleren Spurt im Leben zu verschaffen.
Diese grundsätzlichen Zweifel an dem Gedanken der Selbstentwicklung behielt ich allerdings für mich, sagte nichts dem Maler darüber. Ich wusste ja auch nicht, wie ich das Ganze beurteilen sollte: War es etwas uns Eingepflanztes, Natürliches? War es ein Fluch, ein Segen? Sind wir dazu verdammt, uns zu entwickeln oder ist es die uns gegebene Rettung, Lösung unseres Dilemmas?
Bei Ellen wäre ich noch weniger mit meinem Zweifel angekommen. Ich wusste, wie sehr sie von dem Gedanken, dass alles der eigenen Weiterentwicklung dienen kann und soll, überzeugt war. So sehr, dass sie sogar die unwürdigsten, belastendsten Erlebnisse in ihrem Job als Gelegenheit zu wachsen akzeptierte und begrüßte.
Und noch etwas machte mich nachdenklich: Meine Überlegungen führten mich an den Punkt, an dem auch die orthodoxen Vertreter der jungen Christengemeinden standen, als sie anfingen, sich von denjenigen ihrer Mitglieder zu distanzieren, die sich mit einem geheimen Wissen, der Gnosis, beschäftigten. Wie sie wollte ich nicht akzeptieren, dass auf diese Weise Auserwählte aufkommen, die den anderen weit vorauseilen, die Menge als Uneingeweihte zurücklassend. War ich wirklich auf den Standpunkt der damaligen Kirche eingeschwenkt? Bis jetzt war ich immer der Meinung gewesen, der Einzelne habe das Recht seinen eigenen Glauben zu entwickeln und sich selbst zu autorisieren, Glaubenssysteme zu erschaffen, als religiöse Kunstwerke, kraft seiner schöpferischen Intelligenz, in denen sich dasjenige realisieren kann, was man damals Offenbarung des heiligen Geistes nannte - und nicht einem politischen Gremium, wie der Bischofsversammlung, unterworfen zu sein. War dass ein Widerspruch zum Widerspruch, zu dem mich die Ausführungen des Malers reizte?

Als ich dann einmal in einer nachdenklichen Stimmung mit Ellen zusammen war (sie lag mit ihrem Kopf in meinem Schoß, die Beine seitlich angewinkelt, und wäre sie eine Katze gewesen, sie hätte bestimmt geschnurrt) und ihr dann doch, ein wenig zögernd, von meinen konfusen Überlegungen erzählte, lachte sie mich aus:
"Du denkst zu kompliziert, weil zu grundsätzlich und damit zu extrem. Frage dich doch einfach: Möchtest du ein fetter, träger, ungepflegter, biersaufender, kaum aus dem Bett oder Sofa hochzubringenden und nur Sexvideos konsumierender, völlig unehrgeiziger Typ sein? Nein? Und das Gegenteil: möchtest du ein von Ehrgeiz zerfressender, völlig zielorientierter, mit Ellenbogenmentalität ausgestatteter, über Leichen gehender Karrieretyp sein? Auch nicht? Nun, dann hast du dich selbst dazwischen platziert, vielleicht ein bisschen mehr in die Richtung Manager gehend (nein? - Du wirst dich selbst am besten einschätzen -), aber doch die Extreme ins Gleichgewicht auspendelnd. Und das tut doch fast jeder. Wo liegt dein Problem? Es gibt eben unterschiedliche Menschen, man muss sich doch nicht im Grundsatz für die eine oder die andere Lebenshaltung entscheiden. Ich neige allerdings ein wenig mehr zu dem Manager-Karrieretyp, mehr als du jedenfalls, aber das weißt du ja... Dir fallen bei diesem Thema gleich Kampf ums Dasein, Auslese, Nazi-Typen ein - Negativbeispiele der Extreme. Um das geht es doch nicht. Es geht um etwas, was so selbstverständlich ist, wie in der frischen Luft freier zu atmen, im Sonnenlicht sich wohlzufühlen, so natürlich wie der Wunsch des kleinen Kindes, groß zu werden, zu wachsen. Zerstöre dir nicht dein Gefühl für ein Ziel, indem du es grundsätzlich anzweifelst und deine Schritte dorthin vergrübelst."

Aber mit diesem Kommentar Ellens war das Thema für mich noch nicht abgeschlossen. Es sind eigentlich zwei Dinge(ich muss sie auseinanderhalten) die mich seit den Ausführungen des Malers beschäftigten: Was war das Motiv, das Ziel aller dieser Bemühungen um sich selbst, ihre Triebfeder (wenn man überhaupt von einem einzigen Motiv ausgehen kann), was lag dem zugrunde? War es einfach die Natur des Menschen, die sich darin ausdrückte? Ob naturalistisch genommen oder spirituell erhöht? Meditierten, tanzten, trainierten diese Menschen, weil sie eben Menschen waren?
Denn wenn sie es taten, um das zu erreichen, wovon der Maler als fernes Ziel sprach, dann waren ihre Anstrengungen wohl vergeblich und sinnlos. Der Gedanke an so viele verschwendete, vergeudete Bemühungen machte mich depressiv - aber wenn der Sinn der Bemühungen in sich selbst lag, im Wachsen, zur Reife bringen, zum Ausfalten, wo etwas eingefaltet war, zum Ausbilden, wo etwas bisher nur als Wachstumskeim da war - dann tröstete dieses Bild der bemühten, eifrigen, geduldig an sich Arbeitenden.
Das andere war der Aspekt des Auseinanderdividierens in Eifrige, Strebende, Vorwärtskommende und Zurückbleibende, abgehängt Untergehende. Und das war etwas Grundsätzliches, was ich nicht durch die Bemerkung von Ellen für erledigt hielt.
Jedes Erlösungsszenarium selektiert die teilnehmenden Personen in Erlösungsfähige und -würdige und Erlösungsunwürdige, Verlorene. Die Scheidung der Geister ist ihm immanent. Jede Erlösungsreligion kennt Insider und Outsider. Mitglieder und Außenstehende, Gute und Böse. Seit Zarathustra ist dieses Gutsein nicht mehr nur mit einer Gruppe identisch, der man durch Tradition und Geburt angehört, sondern durch die Entscheidung des Einzelnen bedingt, der sich durch sein Verhalten für oder gegen das erkannte Gute entscheidet - der Einzelne ist für sich und die allgemeine Entwicklung mitverantwortlich. Das bürdet ihm die Last der Welt auf und gibt ihm gleichzeitig die zentrale Stellung in ihr, die wir heute noch als Menschenwürde erleben - als unantastbaren Wert des Individuums.
Seit Zarathustra seinen Anhängern erklärt hatte, dass es einen Kampf zwischen Gut und Böse gäbe, und jeder aufgerufen ist, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden (was natürlich so aussieht, dass man sich für das Gute entscheidet, und wenn nicht, automatisch an das Böse fällt), und dass der Glaubenskämpfer des Guten dadurch dem Kampf dient, dass er Reinlichkeitsvorschriften beachtet, Nahrungsvorschriften, Vorschriften der Lebensführung - sich also strikt diszipliniert - und diejenigen Anteile der Welt meidet oder bekämpft, die Ahriman gehören, wie etwa Ungeziefer oder Menstruationsblut, seitdem gibt es Rein und Unrein und damit die Möglichkeit, im Unreinen zu enden, gelingt einem nicht das reine Leben; fatal für das weitere Schicksal, denn die Unreinen werden im Endgericht verdammt und abgetan - abgefackelt muss man sagen, den das Ende ist ein Welten-Feuerbrand.

Seit die Welt als großer Organismus erkannt und beschrieben worden ist, als hierarchisch gestufter Leib, im griechischen und schon im indischen Denken, seitdem gibt es eine selbstverständliche Diskriminierung derjeniger Teile, die eine nicht so hervorgehobene, leitende Rolle im Weltganzen spielen, wie der Kopf und das Herz in dieser Körpermetaphorik: Die Kaste der Unberührbaren, die Sklaven, die leibeigenen Bauern, die Frauen, wurden, ebenso wie die Tiere, auf ihren untergeordneten Platz gestellt, dem Organismus dienend, wie alles übrige.
Wer sich das Alles-was-ist als vielgliedriges, organisch aufgebautes Ganzes denkt, denkt damit Haupt- und Nebensachen, Zwecke und Ziele, Förderliches und Schädliches, Hinderliches und Auszuscheidendes ebenso wie Kräftigendes und Wertvolles neben Unwertem und Krankem und verbindet organische Prozesse mit Werturteilen und diese mit Einzelerscheinungen des Ganzen.
Wer ein Ziel annimmt, auf das alles hinstrebt, dem ist es nicht gleichgültig, ob eine Sache oder Meinung oder ein Mensch sich als Hindernis in den Fluss dieser Bewegung zum Endziel stellt. Er erkennt in ihnen den Feind.
Wer die Geschichte als Entwicklung zur Realisation des Weltgeistes oder der Demokratie oder der sozialistischen Gesellschaft sieht (es gibt noch mehr dieser Idole), findet im Bezug dazu Überwundenes und zu Überwindendes. Er weiß von Erdteilen, von Rassen, von Völkern, von Klassen, von Gruppen und Sekten, von Individuen, die unwichtig oder sogar schädlich im Hinblick auf das Erstrebte sind. Verachtung der unzivilisierten Wilden, Antisemitismus, Antiislamismus, Antikapitalismus, jede Art von Abwehr und Projektion sind die Folgen.
Wie also kann man Entwicklung, Entwicklungsziele, organischen Zusammenhang denken, ohne in die Falle zu geraten, Vorurteile und Eigeninteressen an ihnen festzumachen und sie in ihnen zu verewigen?


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