GNOSISROMAN: HELENA
Inhalt:
Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog
Lernen
Vor kurzem hatte ich eines dieser seltsamen Zufallserlebnisse, wie sie oft als Beweis dafür vorgebracht werden, dass es so etwas wie Zufall doch nicht gibt. Ich stöberte in einem dieser Buchantiquariate, die sich auf esoterische und New Age Bücher spezialisiert haben, als ich im hintersten Winkel auf einen Stapel noch nicht eingeordneter Bücher stieß, die mir interessant vorkamen. Ich blätterte im zuoberst liegenden Band, die "Philosophia perennis" von Aldous Huxley und bemerkte einen Exlibris Stempel mit einem mir bekannt vorkommenden Namen - und einer unbekannten Adresse - den des Malers. Es stellte sich heraus, dass die ganze wackelige Konstruktion aufgestapelter Bücher zu ein und derselben Bibliothek gehört haben musste, in jedem Band fand sich der gleiche Stempel.
Ich war auf ein Fundstück aus dem untergegangenen Leben des Malers gestoßen, hierher als Strandgut angeschwemmt, durch Ignoranz und Geschäftsinn. Verkauft durch seine Exfrau - vermutete ich. Zehn dieser Bücher suchte ich mir aus, meinen Etat dafür (ich hatte mir selbst eine monatliche Summe für solche Käufe vorgegeben, die ich nicht überschreiten wollte) ausschöpfend. Und dachte daran, sie dem Maler zurückzugeben, ihn auf den Rest seiner Sammlung - oder was davon an diesem Ort gelandet war - aufmerksam zu machen.
Er war nicht daran interessiert.
"Ich schaue nicht zurück", war sein einziger Kommentar.
So kam ich zu der aufgegebenen, verlorenen Bibliothek (oder wenigstens eines kleinen Teils davon) des Malers. Neben dem Buch von Huxley hatte ich mir "Die smaragdene Vision" von Henry Corbin, "Die Reise zum Herren der Macht" (original 1204 in Konya veröffentlicht) von Ibn Arabi, "Magie des Ostens" von Idries Shah, "Alchemie" von Titus Burckhardt, "Schmiede und Alchemisten" von Mircea Eliade, "Die Hermetische Tradition" von Julius Evola, von Roger N. Walsh "Der Geist des Schamanismus", "Die Traumfahrt des Parmenides" von Peter Kingsley, und von Alexander Roob "Alchemie & Mystik" ausgewählt. Mehr ältere als neuere Literatur über diese Themen, aber wohl auch typisch für den Maler, der viele Veröffentlichungen auf diesem Gebiet für überflüssig, wenn nicht sogar für leichtfertig-ignorant hielt, hervorgebracht durch den Mechanismus eines boomenden Marktes und dessen Gesetze erfüllend.
Der Maler wollte offensichtlich kein Missionar und kein Mitglied einer esoterischen Glaubensgemeinschaft sein: Er war nahe dem Geheimnis, hielt den Weg dazu für sich offen, aber verkündete nichts, was als Lehre systematisiert werden wollte. Hatte nicht den Anspruch, Offenbarer zu sein, dem zu folgen war, sondern nur den, dass er sich von niemandem seinen Glauben vorschreiben lassen wollte, auch nicht von den Skeptikern und bekennenden Agnostikern. Aber noch weniger von den Anhängern des Okkulten, den davon gläubig Überzeugten. Das machte mir seine Haltung sympathisch.
Mir kam es allmählich vor, als wären wir in ein unaufhörliches Gespräch verwickelt, welches sich, durch kurze oder längere Unterbrechungen strukturiert, von dem Tag an, als er mir seine Bilder zeigte, bis zu dem Tag, als die Kommunikation jäh abgebrochen wurde, zu einer durchgehenden Rede über uralte Gedanken und neue Standpunkte entwickelte. Ich war dabei der Lernende, der Stichwortgeber, er der Lehrende, der Vermittler; dabei lag ihm nichts ferner, als mir gegenüber den Belehrenden zu spielen. Ich war der Fragende, und meine Fragen öffneten ihm den Raum für Antworten, in denen er seine Vorstellungen und Überlegungen schrittweise entwickelte. Trotzdem war er dadurch mein Lehrer geworden, den Lehrer, den ich zuvor nicht gesucht und nicht vermisst, von dem ich jetzt aber wusste, dass er mir gefehlt hatte; genauso wie das, worüber er mit mir sprach.
Einmal fragte ich ihn, warum er denn diese Dinge in seinen Bildern darstellte, statt sie z.B. aufzuschreiben und ein Buch darüber zu veröffentlichen. Unter seinem prüfenden Blick kam ich mir dumm vor, als ob meine Frage meine ganze Unfähigkeit, seine Gedanken zu verstehen, deutlich gemacht hätte.
"Es ist eben so, dass ich in der Farbe, der Struktur, dem Symbol etwas ausdrücken kann, was mir im Geschriebenen nicht gelingt... Ich bin Maler, und das heißt, ich habe in meiner Malerei ein Mittel, ein Medium, und gleichzeitig ein Werkzeug zur Hand, mit dem ich Neues schaffen, neue Konzepte realisieren kann... Das ist wichtig... Manche dieser uralten Vorstellungen sind zu sehr mit den Formen verschmolzen, in denen sie bisher aufgetaucht sind; sie haben sich deshalb verbraucht... Vor allem, wenn sie als inzwischen abstrakt- gegenständliche Ideen aufgenommen werden, in durch den gewohnheitsmäßigen Gebrauch definierter Worteinkleidung auftreten. Alle Vorstellungen dieser Art sollte man ständig erneuern, man sollte ihnen ständig neue Bezeichnungen geben, sollte sie ständig neu erfinden... In der Malerei kann ich das, ich lasse mich dabei durch den Malprozess leiten... In den Worten, den Begriffen, den Vorstellungsbildern verfange ich mich, ich stelle nur leere Wortschachteln, abgestorbene Worthülsen her, mit denen ich den Regen, den Tau, den Niederschlag des Gemeinten auffangen möchte, aber zuwenig davon sammelt sich in ihnen an und durchtränkt sie so, dass sie wieder geschmeidig werden und anfangen, in einem inneren Glanz zu leuchten, und damit die gemeinte Botschaft weitergeben können. Mir wenigstens ist es nicht möglich, diesen Eindruck durch das Geschriebene zu vermitteln, ich brauche dazu das Bild, aber nicht nur das Bild, ich brauche dazu die Malerei..."
Und dann sagte er, nach einer nachdenklichen Pause:
"...Und auch das reicht nicht hin, reicht bei weitem nicht hin..."
Ich glaubte nicht alles, wovon er mir erzählte, am Anfang sogar das wenigste, so absurd oder mit meinen eigenen Überzeugungen hart zusammen stoßend kam mir manches vor. Aber es klang interessant, es hatte einen Klang von etwas Neuem, Unbekanntem, Widersprüchlichem. Dem, was ich bisher fraglos glaubte widersprechend. Was mich anzog. Ich spürte in seinen Worten eine Kraft, die mir meine Vorurteile aushebelte, sie umwarf, auf den Kopf stellte. Rätselsprüche aus einer unbekannten Kultur waren sie für mich. Und daher machten sie mir meine eigene Geprägtheit wie im Spiegel eines ganz Anderen erkennbar.
Aber nach und nach sah ich in ihnen Zusammenhänge, die auf ein ebenso festgezimmertes Weltbild verwiesen, wie ich es mit seiner Hilfe scheinbar verlassen hatte. Hier blieb ich reserviert. Ich wollte verstehen, aber ich wollte mich nicht in einer anderen Weltsicht verlieren. Wollte mich De-Programmieren lassen, aber nicht Neu-Programmieren. Wollte so flüssig und flüchtig bleiben, wie ich durch die Dekonstruktion meiner schulmäßig gelernten Begriffe geworden war. Und wurde doch irgendwie von der anderen Begrifflichkeit angezogen, denn diese war nicht steif, unbeweglich, fest, sondern von derselben Wandelbarkeit und Flüchtigkeit, wie ich mich selbst inmitten der aufgelösten Vorurteilen meiner alten Ansichten erlebte. Auch sah ich den Unterschied zwischen dem, was er vertrat und dem, was ich in esoterischen Büchern lesen konnte, mit denen ich jetzt anfing mich zu beschäftigen, da sich vieles scheinbar ähnlich oder gleichlautend anhörte. In den meisten dieser Texte wurde allerdings nur eine Gegenposition zur Moderne vertreten, ein altes Denken als lebendiger, wahrer, tiefgehender postuliert, ein ganzheitliches Denken dem diskursiven gegenübergestellt, aber natürlich in unserem gewohnten diskursiven Duktus, denn das ist die Art, wie wir Bücher lesen und verstehen können.
Auf einem Spaziergang dem Flussufer entlang (eigentlich konnte man in diesem Teil der Stadt nicht am Fluss spazieren gehen, oder der Begriff Spazieren umfasste noch ganz andere Inhalte, wie: umherschleichen, verbergen, klettern, Verbotschilder nicht beachten, anderen Lebewesen ausweichen) sprachen wir einmal über das (sein) Motiv, sich mit solchen Ideen zu beschäftigen. Und das hieß zu dieser Zeit: Er sprach, ich hörte ihm zu, hin und wieder einen Einwand vorbringend. In diesem Fall nahm ich das, was er sagte, ohne große Widerrede als Konfession an:
"Wir besitzen die Fähigkeit, innere Welten zu schaffen, oder soll ich sagen, uns in ihnen zu bewegen? Für einen Angehörigen der Alten Kulturen wäre das keine Frage gewesen, für ihn war der Weg nach innen ein Weg in eine Anderswelt, die genauso real war wie die, die er sah, wenn er die Augen öffnete - oder genau so unwirklich. Für einen Schamanen, für einen griechischen Iatromagier, für einen bilderbewegten Gnostiker erklärten die Welten sich gegenseitig, sich durchdringend, aber nicht zu verwechselnd. Wir selbst haben größere Schwierigkeiten, einen Standpunkt zu finden, von dem aus der Blick in beide Richtungen möglich ist, ohne dass wir der einen oder anderen Seite unrecht tun.
Natürlich gibt es heute Menschen, genügend, für die keine Notwendigkeit besteht, überhaupt einen Blick auf die andere Seite zu werfen - und wenn es für sie tatsächlich möglich ist, ihr Leben ohne Fragen nach Tod und Sterben und was bei dem Übergang geschieht, oder nach Zufall und Schicksal, frei zu führen, ist es für sie ohne Zweifel das Beste - sie werden nicht von uralten Ängsten gequält und vom Aberglauben gefesselt. Aber wem ist eine solche Haltung möglich, ohne dass sie nicht in Wahrheit aus der Unfähigkeit kommt, sich mit den eigenen Ängsten oder dem eigenen Bedürfnis nach tieferen Bildern auseinander zu setzen? Oberflächlichkeit führt selten zu einer durchschauenden Weltsicht, genauso wenig allerdings, wie Tiefsinn Wahrheit verbürgt. Ich glaube, dass diese Zeitgenossen ihre Ruhe durch einen Verzicht auf zumindest die Hälfte der Möglichkeit, Mensch zu sein, erkaufen - sich selbst um eine Möglichkeit bringen, als Mensch zu wachsen.
Aber das heißt nicht, dass wir einfach den Standpunkt der Vormoderne übernehmen können und in naiver Weise die Schöpfung unserer eigenen Phantasie (der individuellen, der gemeinsamen), als Wirklich im normalen Sinn des Wortes verstehen dürfen. Es ist im Gegenteil so, dass wir zu einem anderen Verständnis von Wirklichkeit kommen müssen, um das, was wir in uns vor uns haben, einordnen zu können. Diese Bilderwelten, zu denen wir durch die Kreativkraft der Phantasie Zugang finden, liegen nicht vor uns ausgebreitet wie ein zu erkundender Kontinent, ein zu bereisender Landstrich, haben wir nur das richtige Reisefahrzeug und die rechte Landkarte zur Verfügung. Sie realisieren sich eher in der bereitgelegten Landkarte als dass sie außerhalb und unabhängig von ihr aufzufinden sind - was es schwierig macht, das vorgestellte Bild von dem zu unterscheiden, was sich in ihm rührt, wenn wir es betrachten.
- Ein geläufiger Glaubenssatz ist der von der Landkarte, die nicht die Landschaft selbst sei - um den Unterschied zwischen der Vorstellung von etwas und der Sache selbst, den Unterschied zwischen Beschreibung und Beschriebenem zu betonen. Zwischen Wort und Sachverhalt. Text und Realität. Was aber auf ein dualistisch- vereinfachendes Modell der Wirklichkeit weist: Der Trennung von Form und Inhalt, von Erscheinung und Ding an sich. Alles, was mir bewusst wird, was ich benenne (was ich ausdrücken, erkennen kann) trägt Modellcharakter, ist ein zusammengebasteltes, kleines Spielzeugmodell, als Ergebnis meiner Denktätigkeit, die sich an einer Wirklichkeit abarbeitet, die sie doch nie vollständig und endgültig erfassen kann.
Mag sein, dass es so ist - was aber, wenn die Landkarte die einzige Wirklichkeit wäre, die es gibt? Wenn die Landkarte die Landschaft als Realität erst erzeugt? Was, wenn der Fingerzeig, der dir gegeben wurde, dich in eine Richtung schickt, die es vorher nicht gab?
Wobei von vorher oder danach zu reden so sinnlos ist wie vom Vorher des Urknalls zu sprechen: Der Weg, der sich im Nebel enthüllt, ist nicht ein Weg, der von einem Programmierer vorher geschrieben worden ist, diese Art Vorher gibt es nicht. Dein Stochern im Nebel schafft diesen Weg, und die Bilder, die du dabei aufdeckst, die dir dabei zuströmen, sind deine eigenen. In dir liegt das Vorher. Aber das Danach liegt nicht in dir, das Danach kommt auf dich zu. Du kannst dich deinem Vorher nicht entziehen, es ist dein eigener Grund, auf dem du stehst, du kannst dir den Boden unter deinen Füßen nicht selbst wegziehen, aber du kannst wissen, was dabei geschieht.
- Ich finde die Menschen bedauerlich, die keinen Zugang zu dem inneren Land haben, das auch in ihnen als Möglichkeit auf sie wartet - sie leben nur ein halbes Leben. Aber diejenigen, die ganz überzeugt sind, einen solchen Zugang zu besitzen und auch eine Landkarte davon, und schon alle Himmel und Äonen vermessen haben, die sie dort vorfinden werden - die bedauere ich auch, denn sie leben in einer Illusion über die Realität und die Fassbarkeit dieser Dinge. Wie in der Physik gilt auch hier der Grundsatz: Es gibt keinen neutralen Beobachter eines Geschehens, die Gegenwart des Erkunders schafft die Phänomene, die erkundet werden. Und anders (oder doch nicht anders?) als in der Physik gilt das Gesetz, dass die beobachteten Phänomene den Beobachter berühren, ihn formen, es also nicht gleichgültig ist, was ich beobachte oder heraufbeschwöre.
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Unsere Gespräche hatten sich schrittweise in Übungsstunden, in Lektionen, verwandelt, in denen er versuchte, mir einen Weg zu den Einsichten zu zeigen, die er für sich selbst gefunden hatte.
"Du bist zu sehr in dein Denken über etwas verstrickt, kommst nicht davon ab. Es gibt einen Typus von Wissenssucher, der im Nachdenken über etwas und im Anhäufen von Informationen sein Wissen erweitert und selbstverständlich alles am schon Gewussten misst - ob er nun damit übereinstimmt, daran anknüpft, oder sich davon absetzen will, eine kritische Haltung dazu einnimmt: er bewegt sich immer im Theoriebereich der Reflexion über etwas.
Dann gibt es Denjenigen, der eher praktisch- experimentell an eine Sache herangeht: Wie er seine Erfahrung theoretisch einordnen kann, interessiert ihn schon, er schenkt aber dem lebendigen Erleben die größere Aufmerksamkeit. Er lässt sich von der Existenz einer Sache nicht erst dadurch überzeugen, dass er eine Erklärung dafür findet, die seinem kritischen Verständnis entspricht, sondern zuallererst dadurch, dass er es lebhaft und leibhaft erfährt: Auch wenn es vielleicht unerklärlich bleibt. Das wäre auch der Unterschied zwischen Philosoph und Magier. Oder zwischen Wissenschaftler und Künstler. Für Roger Bacon war es die Trennungslinie zwischen dem Wissen durch Beweisführung und dem Wissen durch Erfahrung (übrigens, er übernahm diesen Gedanken von den Sufis...).
Natürlich gibt es Wissenschaftler, die mehr zu der anderen Seite neigen, ohne jedoch ihren wissenschaftlichen Standpunkt zu verlassen. Natürlich erlebt, lebt der Philosoph seine Denkbewegungen. Natürlich hat der Magier, der Schamane eine sinnerhellende Weltsicht als Erklärung für die Zusammenhänge seines Tuns. Ist in jeder Theorie die Praxis des Theoretisierens enthalten und in jeder Praxis der Vollzug, die Erfüllung einer Denkstruktur. Es trennen trotzdem Welten die beiden Zugänge zur Wirklichkeit. Und du hast dich zu sehr auf den einen Modus eingelassen. Wenn du in unseren Übungen weiterkommen willst, musst du diesen Stolperstein übersteigen: Erlebe deine Erfahrungen, distanziere dich nicht sofort wieder davon durch den Versuch, sie in eine intellektuelle Konstruktion einzuordnen, die ihnen nicht entspricht.
- Du musst für dich selbst die Frage beantworten: Führt der Weg der inneren Übung in die Illusion - oder aus der Illusion. Was du für wahr hältst, gibt dir die Richtung vor, in die du dich entwickelst. Du kannst auf beiden Wegen Erfolge und Bestätigungen haben - aber welche beweisen sich als beständig, begründet, substanziell? Du bist es selbst, der sich die Grenzen setzt, den Horizont, jenseits dessen es nichts mehr zu sagen oder zu sehen gibt. Du gibst dir die Reichweite deiner Erkenntnisfähigkeit vor. Deinen Erfahrungsspielraum.
Spiele das Spiel der eingeschränkten Möglichkeiten, und du wirst nicht über diese Einschränkung hinauskommen. Spiele das Spiel der unbegrenzten Entfaltung und du wirst weder größer noch stärker noch besser sein als zuvor, aber in einem Meer, einem Ozean der unendlichen Vielfalt aufwachen, dafür erwachen. Es liegt an dir. Du begrenzt dich selbst. Begrenzt dich als Teil eines unendlich vielfältigen Wesens, schnürst dich davon ab, sperrst dich aus, verweigerst den ungehinderten Durchfluss der Fülle, wehrst die Überwältigung durch den überreichen Zufluss an Informationen ab.
Nimm Hoffnung, Erwartung, Wunsch zu deinen Erkenntnismöglichkeiten dazu - warum Eigenschaften, Fähigkeiten, Kräfte aussperren, die da sind und etwas bewirken können? Nenne sie nur als das, was sie sind - und sie irrlichterlieren nicht mehr vor dir her, führen dich nicht mehr in die Irre. Akzeptiere deinen Glauben, dein Dafürhaltenwollen - und werde dir klar darüber, was er für dich bedeutet.
- Versuche dich, in das Kind zurückzuversetzen, das du einst warst. Deine Neugier wiederzufinden. Dein Überwältigt sein von der Welt. Wie viele Dinge es gibt. Wie viele Wesen. Und wie alles strahlt, glänzt, leuchtet. Alles, was du siehst, gibt dir den Impuls, dich damit zu verbinden. Nichts ist neutral. Ist blass, gedämpft, ohne inneres Licht. So wie heute, wo du die Dinge interesselos anschauen kannst, vermeintlich objektiv, in Wirklichkeit nur gelangweilt und uninteressiert.
Du sollst nicht wieder kindlich werden, kannst es nicht, nicht ohne dabei kindisch zu sein. Du sollst dich nur daran erinnern, dass dir einst ein anderer Blick auf die Dinge möglich war. Und dass dieser andere Blick mehr der Wirklichkeit entspricht, als dein realitätsangepasster Blick heute - dass du etwas verloren hast. Einen Zugang zur Realität. Du sollst dir bewusst sein, dass du auf der Suche nach einem Zugang zur Realität bist - etwas in dir fühlt sich von seiner eigenen Welt ausgeschlossen, abgetrennt von ihr, fühlt sich blind, taub, unempfänglich gemacht. Und fleht, bettelt, tobt, stellt sich tot, verfällt in Katalepsie.
- Ich nenne jetzt drei Grundannahmen, über die du nachdenken sollst: Ob du damit einverstanden sein kannst oder nicht, ob sie für dich richtig klingen oder nicht, ob du damit übereinstimmen kannst.
Erstens: du trägst eine Essenz in dir, den Kern deines Wesens, den du von nichts weiterem ableiten, durch nichts Weiteres begründen kannst.
Zweitens: du hast eine bestimmte, erworbene Persönlichkeitsstruktur, die von inneren und äußeren Erfahrungen geprägt ist.
Und drittens: die Essenz deines Wesens geht nicht in dieser erworbenen Persönlichkeit auf, ist nicht deckungsgleich mit ihr. Das macht dich zu einem Sucher. Einem Sucher nach Erfüllung, Übereinstimmung, Angemessenheit. Nur zu finden im Jenseits, im Darüber-Hinaus deiner gewordenen Person. Dein Ausgangspunkt ist: Dass du dich selbst als Suchender begreifst. Akzeptierst du das, kannst du einen ersten Schritt ins Unbekannte tun.
- Es gibt einen Ort in dir, stelle ihn dir vor, an dem jemand auf dich wartet. Schon immer gewartet hat, bereit, jederzeit zu erscheinen, wenn du bereit bist, ihn aufzusuchen, ihn erscheinen zu lassen. Der auf dich Wartende ist in dir, du musst dich nur dazu entschließen, dich aufzumachen und den Ort dafür zu schaffen. Wessen Gesicht dieser Jemand annimmt liegt an dir, an deinen Erwartungen: Du willst ihn vielleicht Engel nennen, oder deinen himmlischen Zwilling, als mittelalterlicher Hirte hättest du ihn wahrscheinlich Hauptmann genannt, ihn als Anführer einer Seelenschar gesehen, als Schamane oder Initiant eines steinzeitlichen Jägerstammes wäre es ein Tier, das dich begrüßt.
Dein Begleiter für die Seelenreise erwartet dich, wie Vergil auf Dante gewartet hatte, die wagenlenkenden Sonnentöchter auf Parmenides. Diese Begegnung mit dem schon immer in die Geheimnisse eingeweihten Teil deines Selbst, dem Boten der Gnostiker, der dich zu deiner Reise aufruft, ist erst der Beginn dieser Reise. Von hier ab ist Aufbruch. Aber auch Abstieg. Aus der Verirrung im Wald führt der Weg Dantes nicht direkt in den himmlischen Bereich, zuerst mussten die Höllenkreise durchquert werden. Ein Tor muss durchschritten werden. Der Eingang zur Unterwelt. Das Torhaus der Gänge von Nacht und Tag des Parmenides. Bleibe vor dem Tor stehen. Warte darauf, dass dich dein Begleiter, wie Hermes, der Seelenführer, an die Hand nimmt und dich hindurchführt. Das ist das erste Bild, das du anschauen und meditieren sollst."
Er zeigte auf das Gemälde, das er "Eingang in den Hades" genannt hatte, stellte einen Stuhl für mich hin und erwartete wohl, dass ich mich setzen und durch das Betrachten seines Bildes in die richtige Stimmung für diese Übung kommen sollte.
"Es ist schwierig für mich", sagte ich, "es auf diese Weise zu tun. Worte geben mir mehr als Bilder. Worten kann ich mich überlassen und ihnen folgen. Bilder sind mir zu flächig, zu ausgebreitet, ich weiß nicht, wie ich alles gleichzeitig aufnehmen kann. Worten folge ich wie an einem Faden, der mich zu einem Ort führt, an dem diese Gleichzeitigkeit da ist. Das Bild löst sich für mich dagegen in Blickführungsbahnen auf, die Übersicht verwandelt sich in ein Hintereinander- Nacheinander."
"Ich kenne das Problem", sagte er. "Ich könnte dir zeigen, wie du durch eine Technik des Blickens, oder besser, des Nicht- Blickens, des absichtlosen Sehens, des weichen, nicht fixierenden Blickes zu einer Zustand der Zusammenschau kommen kannst, in der dir das Bild als Ganzes gegenwärtig ist, gleichzeitig vertiefte Innen- und klarste Überschau.
Aber ich möchte dir eigentlich nicht das Bild vorführen, ich möchte dich dazu bringen, dir das innere Bild eines Ortes vorzustellen, dem dieser Eingang in den Hades entspricht, mitsamt dem Wartenden, der schon so lange für dich da war, bisher noch unentdeckt. Jetzt offenbart er sich. Nehme ihn, wie du eine Traumperson betrachten würdest: man nimmt immer den Kern eines Wesens war, das Äußere ist nicht das Eigentliche, du kennst die Identität einer Person, auch wenn sich ihre Erscheinung im Verlauf des Traumes ändert. Fühle den Wartenden. Er ist derjenige, der nur auf dich gewartet hat. Einzig auf dich. Und du begegnest ihm jetzt.
- Der, der auf dich gewartet hat, ist dein Doppel, dein lichtes Ich, dein Möglichkeits-Ich. Er wartet auf den Augenblick, an dem du anfängst, ihn zu suchen, ihn sehen zu wollen. Du willst ihn suchen, weil du er bist und du dich als ihn sehen willst. Als verwirklichbare Zukunfts-Möglichkeit deines eigenen Lebens.
Wenn du es so bezeichnen willst, ist deine, als Lichtgestalt symbolisierte, mögliche Vollentfaltung die Anverwandlung des allgemeinen, überpersönlichen schöpferischen Potenzials der Welt in deinen personalen Angeloi, von dir vor dich hingestellt, zu dir von dir selbst gesandt, damit du erahnen, erkennen kannst, wer du bist - sein wirst - sein könntest. Du kannst dich verfehlen, das bleibt dir überlassen, du kannst dich von dir abwenden, du kannst dich gegen diese Zumutung wehren - es liegt an dir. Der Andere, dein Spiegel-Ich, ist nur der Zeuge deines Verhaltens ihm gegenüber. Dein Richter, könnte man sagen. Umarme ihn aber, und er wird dich annehmen. Dann erlebst du: Du bist angekommen. Aufgenommen worden. Eingelassen, in dem du dich darauf eingelassen hast. Von diesem Beginn an hast du einen Weg. Deinen Weg.
- Vergiss nicht: Der Grund deiner Meditation ist nicht ein Bild, mit dem du dich beschäftigst, es ist deine Suche, die in dir dich treibende, drängende Suche, die dich zu diesen inneren Ort geführt hat. Du bist ein Suchender, deswegen bist du dort. Der Ort wird, als Station einer Entwicklung, von dir dafür geschaffen. Du bist es, der diesen Ort für dich entwirft.
Es macht Sinn, an den Anfang einen Durchgang zu setzen, einen Durchbruch, es könnte auch ein Kreuzweg sein, wie in der Chymnischen Hochzeit des Christian Rosenkreuz, oder einen Hafen an der See, ein Passweg im Gebirge, alles Orte des Übergangs vom jetzigen Zustand in einen neuen. Der Beginn einer Reise eben. Deiner Reise. Schmücke diesen Beginn aus. Werde aufmerksam auf die Symbole, die du damit verbindest: Zeichen des Anfangs; Wegfinder im Unbekannten; Schutzzauber im Ungesicherten; Führungsmacht deiner Schritte dort. Lasse diese Bildsymbole in dir entstehen. Wie Traumbilder. Aber lasse dich nicht von dem Traum mitnehmen, diesen Zustand hast du jede Nacht im Schlaf. Bewahre dich.
Und wähle dann ein Bild. Lasse alles andere verschwinden. Fasse dich selbst in diesem Bild zusammen. Du bist es. Der Sucher. Deine Suche hat dich hierher geführt und führt dich weiter. Du bist auf der Suche, weil dir das, worin du bist, nicht genügt. Nicht genügen kann, weil es nicht passt. Es ist zuwenig. Ist zu eng. Ist nicht richtig. Das ist der Treibsatz, der dich treibt. Aber Not, Zwang ist es nicht allein. Die Suche gilt dem Mehr, der Weite, der Fülle. Der positiven Bestätigung. Ermutigung. Die wird kommen, darauf kannst du hoffen.
- Als Suchender unterliegst du einem Paradox: Alles, was du glaubst als Sinn gefunden zu haben, beendet deine Suche. Aber die Suche kann nicht zu Ende sein, ohne den Sinn der Suche erfüllt zu haben. Und sie erfüllt sich erst im Maximum. Die Mystiker nannten es "Aufgehen in Gott". Deswegen gibt es kein wirkliches Ende der Suche. Nur das falsche der Täuschung durch die Beantwortung aller Fragen in einem geschlossenes System der Welterklärung, geschlossen auch dann, wenn alle Rätselauflösung stets nur um die nächste Ecke, der nächsthöheren Ebene auf dich warten soll... Das sind Sackgassen, aus denen herausgefunden werden muss."
Weiter nächstes Kapitel: Zweifel