GNOSISROMAN: HELENA
Inhalt:
Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog
Anfänge
Einmal, ein einziges Mal, fragte ich Ellen direkt, warum sie sich nicht vorstellen konnte, mit mir zusammen zu sein. So wie sie sich doch vorstellen konnte, mit irgendjemandem zusammen zu leben, ein gemeinsames Leben zu haben, ein Paar zu sein - oder nicht?
"Ja, natürlich. Aber nicht jetzt, später. Abgesehen davon, dass ich den anderen noch nicht getroffen habe, könnte ich jetzt niemanden in meinem Leben gebrauchen, der Ansprüche an mich hat, Eifersuchtsszenen inszeniert, mich für sich allein haben will. Später könnte ich allerdings mit niemandem zusammenleben, der mich nicht ganz und gar will, der nicht Eifersüchtig sondern Gleichgültig ist, der mich nicht braucht und beansprucht. So wie ich ihn. Ich weiß, du könntest beides sein, tolerant gegenüber meinem Job und ausschließlich für mich da. Aber dir fehlt etwas. Du bist kein Retter."
"Was meinst du damit?"
"Ich kann mich nicht bei dir anlehnen und das Gefühl haben, egal was passiert, du bist da und hilfst mir, rettest mich. Und Rettung brauchen wir ständig. Merkst du nicht, wie wir im Leben immer dabei sind, von einer Gefährdung, einer Katastrophe in die andere zu stürzen? Ich kann das handhaben, in Ordnung bringen, kann mein Leben einigermaßen managen - aber ich möchte einen Partner, der das auch für mich tun kann. Dem ich mich völlig anvertrauen kann und weiß: Er wird es für mich richten, wird das Richtige für uns beide tun. Für dich müsste ich selbst Retterin sein, müsste Unaufmerksamkeiten ausbügeln, Fehler ausgleichen, dir aus der Patsche helfen. Dich aus deiner Passivität scheuchen, auf Trab bringen, dir eine Aufgabe geben. Ich mag dich, aber als Partner kann ich mir dich nicht vorstellen. Ich weiß, ich bin innerlich stärker als die meisten Männer, mit denen ich zu tun habe. Aber ich möchte es in meiner Beziehung nicht sein müssen. Möchte mich in der Beziehung verlieren können, in ihr aufgehen können, voller Vertrauen in den anderen. Bei dir müsste immer ich wachsam sein, dass uns beiden nichts zustößt."
Es gab Phasen heftigster Eifersucht in mir, die Emotion schwoll an, zerbarst in meinem Brustkorb, trieb mich ruhelos umher. Ich hatte kein Recht auf dieses Gefühl - wir teilten kein Leben miteinander, waren nicht Teil einunddesselben emotionalen Körpers, derselben Paar-Sphäre - und trotzdem. Ich empfand. Irrational und überwältigend.
Ich stellte mir ihren Körper vor, wie er vor einem anderen sich wölbte, reckte, wie ihre Scham dem Glied entgegenkam, wie das harte Geschlechtsorgan in sie eindrang, stieß, wie sie keuchte und schluchzte. Ich war eifersüchtig, weil die anderen, nicht ich, Sex mit ihr hatten, wäre aber auch eifersüchtig gewesen, wenn wir miteinander geschlafen hätten. Nie erzählte ich ihr etwas davon, wusste, sie würde mich vielleicht ironisch fragen, warum ich nicht auch bei der Vorstellung eifersüchtig wäre, wie jemand zärtlich ihre Kniekehle streicheln würde, sie hätte ebenso intensive Gefühle dabei, wie an jeder anderen Stelle ihres Körpers. Und meine Eifersuchtsgefühle empört als Vereinnahmung durch mich ablehnen. Wusste, sie würde sagen: Du hast kein Recht darauf. Das ist mein Leben, akzeptiere oder gehe. Und trotzdem: der Schmerz war da.
Ich war eifersüchtig auf die Männer der kurzen Begegnungen, worauf ich wirklich nicht eifersüchtig sein musste, ich war es auf diejenigen, die mit ihr auf Reisen gingen, von denen sie mir später voller Enthusiasmus berichtete, ich war eifersüchtig auf die beständigen Partner in Sache Sex und Zuneigung, die sie brauchten, sie beanspruchten, sie ganz für sich gewinnen wollten.
Bis ich mir klarmachte, dass ich allen eines voraus hatte: Mir erzählte sie rückhaltlos alles von sich. Jedem anderen zeigte sie nur einen Teil ihres Selbst, eine Facette ihres Wesens, jeder andere sah sie auf seine vorgefasste Weise, eingeschränkte und bestimmt durch seine Hoffnungen und Wünsche. Ich durfte sie so sehen, wie sie sich selbst sah, unmaskiert - inwieweit objektiv ist eine andere Frage. Es war ihr Bedürfnis, jemanden zu haben, dem sie sich vollständig öffnen konnte. Nicht nur teilweise, nicht nur die gefällige Seite zeigend, die geile, die bereitwillige. Die zärtlich liebende. Die verständige, einfühlsame. Die unterwürfige oder fordernde. Alles das war sie, aber sie war mehr als das. Und ich war ihr Komplize in dem Spiel des sich Gebens und sich Entziehens, des Mitmachens und des sich Verschließens, des Offen-Seins und des sich Verbergens. Ich hatte nicht nur kein Recht, ich hatte auch keinen Grund zur Eifersucht.
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Gott sei dank bin ich, nachdem ich einige Zeit - allerdings nur gelegentlich - geraucht hatte, nun völlig Nichtraucher. So kann ich in dieser Stadt des Abschreckungskampfes gegen die Raucher doch unbefangen jeden Ort aufsuchen, mich in ein Restaurant setzen oder in eine Hotellobby, und dort meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: dem Beobachten meiner Mitmenschen. Jeder ist eine Welt für sich, ist von sich als Zentrum der Existenz überzeugt, gleichzeitig aber auch in ein Schema einzuordnen, als Typus zu klassifizieren, verwandt dem ihm ähnlichen Nachbarindividuum. Mit diesen Beobachtungen verbringe ich viel Zeit, die ich ja habe, sehe mich trotzdem nicht als Müßiggänger, Nichtstuer, denn ich habe ein Alibi dafür gefunden: Ich arbeite an einem Buch. Über das Leben - die Räume, in denen es sich abspielt, die Verläufe, die es nimmt.
Allerdings verstehe ich (wenn ich ehrlich bin) zuwenig davon, das Meiste kenne ich nur aus zweiter Hand, aus anderen Büchern und über die Medien, welche mir Bilder und Vorstellungen darüber vermitteln, was es heißt, zu Leben - die mir aber tragischerweise eher Ersatz als Schlüssel dafür geworden sind. Ich will nun kein Buch aus zweiter (und damit in dritter) Hand zusammensetzen, sondern aus dem entstehen lassen, was ich selbst erfahren und beobachten kann. Notiere daher meine Ausspähungen, meine Erkenntnisse in ein kleines Buch (im Zeitalter des Tablets ein Anachronismus), welches ich immer bei mir habe.
Ich schreibe in Bars, im Park, in Büchereien und in Einkaufsgalerien, überall dort, wo man sich auf einen Stuhl, eine Bank hinsetzen und, als stiller Beobachter im Hintergrund, sich aus dem Treiben ausklinken und zum Schreibstift greifen kann. Manchmal beziehen sich meine Notizen direkt auf das, was ich soeben sehe, was sich um mich herum abspielt. Manchmal taucht, angeregt durch irgendetwas Beobachtetes, ein Gedanke oder ein Thema auf, das ich aufnehme und weiterspinne. Manchmal bin ich nur körperlich am Ort anwesend und beschäftige mich mit etwas aus meiner Erinnerung. Oft allerdings ist mein aus dem Hintergrund Beobachten wirklich nur Alibi für Tagträumen und umherschweifende Blicke.
Vor allem den Gang der meinen Beobachterposten passierenden Frauen registriere ich dabei, ihr Herankommen an meinen Sitz-Ort, ihr sich Entfernen, die Art ihres Auftretens - ihre fließenden, eleganten oder plumpen Bewegungen, ihren leichtfüßigen oder festen Tritt, ihren Hüftschwung, ihre in Bewegung schwebenden Brüste, ihren abwesenden, abweisenden, neugierigen oder offenen Gesichtsausdruck.
Ihre sexuelle Attraktivität zieht mich zu ihnen hin, wie in einem innerlichen Fliessen auf sie zu: Ein Fluginsekt, vom Licht angezogen. Aber in der äußeren Realität bleibe ich kühl und unbeweglich, neugierig nur meine eigene Reaktion erlebend und beobachtend.
Früher habe ich alle Menschen mehr oder weniger neutral angeschaut, habe es vermieden, sie als sexuelle Wesen zu sehen, dachte, ich wäre es ihnen schuldig, sie nur als Menschen zu beurteilen, nicht als Mann oder Frau, und unabhängig von meiner Vorliebe oder Abneigung; aber ich muss mich korrigieren: Ich habe nicht nur vermieden, sie sexuell zu taxieren, ich habe überhaupt vermieden, sie zu beachten. Man kann nämlich nicht sagen, ich habe sie angeschaut, das eben nicht, meine Neutralität in Hinblick auf ihre geschlechtliche Anziehung auf mich war mehr eine Nicht-Wahrnehmung ihrer Präsenz, ein Hinwegsehen über ihre Gegenwart.
Durch Ellen hat sich das geändert. Dank ihr (sie kritisierte mich mehr als einmal dafür, wenn es ihr auffiel) bin ich aufmerksamer geworden, ein genauerer Betrachter der Menschen, denen ich begegne, und damit auch ein aufmerksamerer Empfänger ihrer sexuellen Ausstrahlung. Nicht nur ein besserer, weil offenerer Beobachter, auch in meiner eigenen Reaktion bin ich unbefangener geworden, der Einfluss von Ellen und ihrer Geschichten, ihre unbekümmerte Art, den eigenen Körper herzuzeigen und ohne Tabus mit Sex umzugehen, hat mich freier gemacht; weder schaue ich weg, unterdrücke meine Empfindung, noch starre ich hin - ich nehme an, was ich erlebe, erlebe es so, wie es ist, ohne mich gefangengenommen zu fühlen.
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Ich wusste, ich wollte schreiben, aber mein Schreiben suchte sich noch ein Sujet - vor allem aber suchte es seinen Ausdruck. Deswegen fing ich damit an, Szenen zu entwerfen, Situationen zu entwickeln, die mir zum Schreiben verhalfen, mich ins Schreiben führten. Ich wollte mich üben und dachte, dass aus diesen Übungen irgendwann etwas entstehen würde, welches Wert war, aufbewahrt zu werden. Den Rest würde ich durchstreichen, von der Festplatte löschen, die Blätter mit dem Aufschrieb zerreißen.
Ich bin kein Formalist, ich meine, Sprache sollte kein Selbstzweck sein, nur auf sich selbst verweisen, nur als bloßes Sprachspiel, Sprachmaterial eingesetzt werden. Aber ohne Sprachmagie, ohne Verführung durch die Sprache, ohne den Kitzel, den Genuss, die Erregung (ohne Aufhellung, Beschwingung, Überwältigung) durch das richtige Wort kommt mir ein Text, der nur Sinn vermitteln will, nicht lesenswert vor: Nicht um seiner selbst willen lesenswert. Eben als Literatur zu lesen. Dahin wollte ich in meinem Schreiben kommen.
Ich merkte irgendwann, dass mir dieses richtige Wort (der wahre Ausdruck, der gelungene Satz) oft dann einfiel, wenn ich mich an eine Stimmung oder Szene aus meiner Vergangenheit erinnerte. Die Vergegenwärtigung von etwas Vergangenem, die innerliche Wiederauferstehung von etwas Untergegangenem brachte mit diesem auch die Worte mit, das Vergessene, Abgetauchte in einer anderen als nur aufzählenden Weise zu beschreiben. Das Imaginieren der schon verblassten Bilder half zu einer imaginativen Sprache. Die bildkräftigere Sprache schuf ein leuchtenderes Bild.
Ich dachte schließlich: Alles Schreiben schulden wir der Erinnerung. Schreiben ist Erinnerungsarbeit, werkeln am Gedächtnis - auch wenn wir etwas beschreiben, was im Augenblick vor uns liegt. Die Worte, mit denen wir das vor unseren Augen liegende, das unserem Blick Offenbarte zu beschreiben versuchen, sind erinnerungsassoziativ mit anderen Augenblicken, anderen Blicken, anderen Augen (unserer eigenen, zu einer anderen Zeit) verbunden, führen uns dorthin. Im Schreiben versuchen wir etwas zu beschwören, was uns wichtig gewesen war, uns beeindruckt hat, zu seiner Zeit, und was wir nun auf diese Art, durch das Schreiben, wiedererstehen lassen können - verwandelt, anverwandelt, aber gegründet in dem Glücksblick damals.
Wo ist der Klang, der Duft, das Bild hin verschwunden, wenn nicht in dem gesammelt, was als geschriebenes Wort erinnerungsmächtig alles wieder aufrufen kann? Das ist die Magie des Schreibens: Es kann Dinge beschwören, die ihre Existenz nur unserer Erinnerung verdanken, der verwandelten Erinnerung. Auch an nie Gewesenes, oder an noch nicht Eingetroffenes, oder an Imaginäres. Aber am deutlichsten, ausgeprägtesten doch als Bilder der realen Erinnerung an ein Damals, das Gerufen werden möchte, da es außerhalb der Beschwörung nicht mehr existiert.
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In gewisser Weise wurde mir mein Schreiben durch diese Überlegungen zum Problem. Es blieb in sich stehen, blieb bei sich. Ich suchte nach dem Beschreibbaren. In den Bildern der Erinnerung. Und fand keine, oder nur dürftige.
Seltsam. Denn merkwürdigerweise ist mir alles, was länger als ein, zwei Jahre vergangen ist wie verschwunden, verschluckt durch ein erinnerungsfressendes Nichts - aufgelöst in Nebelstreifen, erahnbar nur noch als Schatten. Natürlich gibt es Wegweiser in diesem Nichts, Erinnerungs-Male, und mit Hilfe von Fixpunkten, die sich heftig eingeprägt haben (der Tag, an dem ich vor ein Auto lief, auf die Straße geschleudert wurde...), oder mit Hilfe von alten Fotos, von Zeugen des Damals in Form von wiedergelesenen Büchern, wiedergehörten Musikstücke, aus der Mode gekommenen Kleidungstücken oder anderem, das ich zufällig beim Herumkramen finde, kann ich zu tiefer in die Zeit reichenderen Erinnerungszusammenhängen kommen - wenn ich mir die Mühe machen wollte.
Aber ich habe keinen Wunsch danach. Und das ist vielleicht das Merkwürdigste dabei: Mir fehlt keine Vergangenheit. Ich brauche sie nicht. Will deswegen auch nicht in ihr herumsuchen, auf den Spuren meines damaligen Selbst, vor drei, vier, fünf oder mehr Jahren. Etwas anderes ist es mit meinem sehr viel früheren Selbst. Auch da finde ich nur ein nebelhaftes Nichts, nicht einmal die Ahnung von etwas. Muss mir alles durch ein erinnerndes Rückwärtsgehen anhand äußerer Umstände erschließen: Damals ging ich gerade zur Schule, damals lebte meine Großmutter noch, damals war ich auf Besuch bei meiner Tante in London...
Dokumentiert in einem Fotoalbum, auf einem Schulzeugnis, als eine aus einer Tageszeitung ausgeschnittene Todesanzeige. Daten, an die ich mich halten kann, will ich mich zu der Befindlichkeit vortasten, die mich damals ausgemacht, getragen hat. Und das ist etwas, was mich nun doch interessiert: Weil es so verschieden ist von dem, was ich heute bin, was mich heute ausmacht.
Ich sehe mich immer als Einheit, als Kontinuum vom Beginn meiner Bewusstseinsfahrt an bis heute, aber was habe ich mit dem vom Beginn noch gemeinsam? Denke ich darüber nach, habe ich kein stichhaltiges Argument dafür, warum ich der in meiner Erinnerung gewesen sein soll: Welten trennen mich von ihm. Und trotzdem nenne ich ihn mein früheres Ich, ganz selbstverständlich.
Es gibt nur wenige hell ausgeleuchtete Stellen in dem Vergessenheitsdunkel der Jahre hinter mir. Einige ganz frühe haben mit Augenblicken des Erwachens zu tun: Sind dadurch festgehalten worden. Ich erwache zu mir selbst, und finde mich als träumend; nicht im Schlaf, im Wachen. Ich bin im Zustand des Staunens, durchzittert davon: Darüber, dass es mich gibt, darüber, dass es die Dinge gibt, darüber, dass diese Dinge fest und dauerhaft sind, immer wieder in derselben Gestalt auftauchen, darüber, dass ich nicht immer derselbe bin, weil ich mich so oder anders anfühle, aber immer da bin...
Im Staunen liegt ein so intensives Gefühl, es lässt mich so deutlich spüren, dass ich existiere, dass alles andere dagegen dumpf und vage ist. Warum schlief ich die meiste Zeit, träumte mich nur, meine Existieren, meinen Tag, die Dinge um mich? Warum war ich nicht immer wach - so wie jetzt im Staunen, im staunenden Erleben der verrätselten Welt? Alles liegt wie ein Bild vor mir, leuchtend, anziehend, aber ich kann es nicht erreichen, nicht durchschauen. Mein Bewusstsein kommt mir vor, als ob ich nicht klar denken, sehen, die Dinge verstehen könnte, als ob ich in einem Träumen eingefangen wäre... Und gleichzeitig: nur noch einen einzigen Schritt, und ich bin befreit, habe die Einsperrung hinter mich gelassen...
Das muss als sehr kleines Kind gewesen sein, und mir scheint, bis heute habe ich diesen einen letzten Schritt aus der Traumumfangenheit nicht geschafft. Ja, als habe ich stattdessen einfach vergessen, verdrängt, dass ich diesen Schritt machen wollte, dass ich zur Klarheit kommen wollte, zum Verständnis, zum Erwachen. Damals dachte ich (jetzt kommt es mir wieder), dass ich einfach zu klein, noch ein Kind wäre, und warten müsste, bis ich groß, bis ich Erwachsen bin - und als Erwachsener habe ich meinen Traumdämmerzustand für normal genommen, für selbstverständlich - was er auch ist, nimmt man das Faktische, überall anzutreffende als normal. Nur ab und zu, in seltenen Augenblicken der Selbstbegegnung, erinnere ich mich an mich und meine ursprüngliche Überzeugung, dass ich jeden Moment aus dem Traum des Halbbewusstseins erwachen könnte - nur noch dieser kleine Schritt...
Was mir manchmal zu solchen Reflexionen verhilft, sind Anstöße von außen: Durch das, was irgendjemand sagt, durch eine Stelle in einem Buch, durch einen Gedanken, der im Rhythmus, in den Bildern eines Gedichtes eingeschlossen ist, gut eingepackt und verschnürt, und von mir, wie ein Geschenk, ausgepackt werden will. Dann merke ich, wie ich die ganze Zeit durch andere, klischeegestanzten Worte und Begriffe zugestellt worden bin, wie sich mir der freie Blick auf die Dinge durch Gewohnheit, Vernebelung, vielleicht sogar Irreführung verengt hat. Ich denke nicht, ich lasse mich durch die automatische Selbstproduktion von Worten dazu verleiten, die Dinge mit ihnen zu überkleben, sie wie mit einem endlosen Papierband einzuwickeln. Ich sehe nicht, ich lese nur Worte von dem Papierband ab, ebenso automatisch wie ich diese Worte auf die Dingen geklebt habe. Ich bin nicht bewusst, ich reagiere nur auf die Stichworte, die mir mein Sensor anzeigt...
Jetzt gerade sitze ich an meinem Stammplatz in der Bibliothek, den kleinen Gedichtband in der Hand, in dem ich eben noch geblättert habe und träume das Gegenteil eines Traumes, träume das Erwachen: Geführt durch das Denken an die Erinnerung. Erinnert an die Zeit des Erwachen-Wollens. An die Immer-wieder-Augenblicke der Nähe des Geheimnisses, das mich umstellt. Gerufen durch zehn Zeilen Poesie...
Ich bin, seitdem ich Kind war und aus dem Traum in das wirkliche Bewusstsein aufwachen wollte nicht wacher geworden; bewusster, informierter ja, aber nicht wirklich klarbewusster. Das Ursprungsbild, die rätselhafte Verlockung, das, was mich dazu gebracht hat, aufwachen zu wollen, groß, erwachsen werden zu wollen, weshalb ist es unter einer Schicht beiläufiger Worte verschwunden? Überwuchert?
Denn manchmal kommt es mir vor, als ob alles, was ich je nachgedacht und gelesen habe, wie ein fortlaufender Text war, den ich über eine dahingetuschte Farbskizze unaufhörlich schrieb und der allmählich das ursprüngliche Bild mit seinem Kommentar überdeckte. Der Text überschreibt im Weiteren sich selbst, Worte verdrängen Worte, Sätze verschwinden hinter Sätze und wo ist das lichte, leichte Augenblicksbild geblieben, das ich doch am Anfang festhalten wollte? Nur noch eine Wand, ein verdichteter Schriftsatz, hinter dessen wenigen Leerstellen etwas Weißes und Farbiges aufschimmert.
Manchmal, blitzartig, kommt dann doch etwas wie eine Erinnerung an das ursprüngliche Bild, aber der Versuch es zu fassen, bringt die dichte Textwand wieder hervor. Manchmal, wie jetzt eben, hilft eine zufällige Anmerkung, ein kurzer Satz, ein Gedicht wie von fernher dabei, die Ahnung des Ursprungs meiner Suche wiederherzustellen; ich halte das schmale Buch mit etwas Abstand aufgeschlagen, es leicht auf meinen Fingerkuppen balancierend, während ich lese:
so viel anfang am anfang
und nun,
am ende: was verschleiert der schleier?
ein blinzeln über zeiten hin
zu dir
zersplittert den aufgebauten raum.
scherben.
zu schnell setzt sich alles
wieder zusammen.
am ende der anfang.*
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