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GNOSISROMAN: HELENA


Inhalt:

Ruin + Ellen/Der Maler + Anfänge + Ellens Monolog + Pollok + Lernen + Zweifel + Entwicklung + Schreiben + Der Guru + Gedankenfallen + Helena + Argumentieren + Reflexionen + Dem Ende zu + Überzeugungen + Epilog



Ellen/Der Maler

Ellen faszinierte mich. Sie schien mir wie jemand aus einer anderen Welt, frisch aus ihrer in die unsere, alltägliche, gefallen, nach anderen Maßstäben geschaffen wie der banale Rest der Menschheit um mich herum - wobei ich diesen Rest nicht wirklich kenne, ihn nur so von außen wahrnehme und auch nicht besonders neugierig auf ihn bin - etwas, was sie mir hin und wieder zum Vorwurf machte. An ihr aber war ich interessiert.
Ich habe irgendwo einmal den Ausdruck "Mondfrauenmensch" gelesen, die Göttin als Glanzseele, als Erscheinung im Mondlicht, im Zauberlicht des Anderen, der Gegensonne, im enthüllend-verhüllenden Schein, der gleichzeitig das Geheimnis offen legt und verbirgt - so kam sie mir vor: Als ein Mondfrauenmensch...
Es ist eine Art Unberührtheit, die sie umgibt, sie wie eine Aura einhüllt, umschwebt, ich kann es nicht besser ausdrücken; dabei berührt sie jede Schroffheit oder auch Zärtlichkeit zutiefst, es ist also nicht die Unberührtheit des Unbetroffenen, durch nichts aus der Dumpfheit Aufzuweckenden, im Gegenteil, sie reagiert einfühlsam und emotional auf jede Art von Gegenüber - aber sie lässt sich nicht vereinnahmen, sie entzieht sich dem fordernden Zugriff in ein lächelndes Schweigen. Jede besitzergreifende Inanspruchnahme erscheint ihr gegenüber roh und täppisch, eben unangemessen - sie geht dann und nimmt ihr Geheimnis mit sich.

Ich glaube, ich habe mich in dem Augenblick in sie verliebt, in dem ich sie das erste Mal richtig anschaute, bei unserem zweiten Zusammentreffen, ohne dass ich es mir allerdings selbst eingestanden habe. Es wurde mir erst bei einer nächsten Begegnung bewusst, wieder traf ich sie allein und wurde hereingebeten, und diesmal ergab sich ein mehr als nur beiläufiges Gespräch.
Ich sah sie an - und erkannte in ihr jemanden. Kein Hallo-wie-geht's?-Schemen, automatisch begrüßt und ins Leere entlassen, sondern eine reale Person, die vor mir saß und mich aus meiner gewöhnlichen Zerstreutheit aufweckte. Ich öffnete die Augen und sah, dass sie schön und besonders war. Und dass sie mich so sah und annahm wie ich war, mich weder als Ausbeuter aburteilte, noch als für sie uninteressant abtat, sondern sich mir offen und wärmevoll zuwendete.
Vielleicht zeigte sich in meinem Blick dasselbe, was sie in so vielen Männerblicken gesehen hatte, ein erkennendes Begehren, gleichzeitig Kompliment und Forderung; Wunscherfüllungshoffnung, Sehnsuchtsbetroffenheit, Bereitschaft, sich aufzuopfern, wenn dadurch der Preis zu bekommen wäre - und, wie ich inzwischen weiß, nimmt sie diesen Blick als Schuldverschreibung an: Als Schuld, die sie irgendwie auf sich lädt, als Schuld, die der andere bei ihr macht und einlösen muss, um seinen Frieden zu finden.
Sie arbeitet mit diesen glücksfordernden Blicken - nicht, dass sie diese zurückgäbe, doch sie verwehrt sie nicht; ihr reales Angebot aber ist ihre Gegenwart, für die bezahlt werden muss.
Ich wusste damals noch nicht, dass sie in diesem Gewerbe unterwegs ist, und als ich es erfahren hatte, war es mir egal, denn ich kannte sie inzwischen gut genug, um sie ohne Vorurteile (die ich vielleicht gehabt hätte) zu akzeptieren. Und ich bin froh, dass ich es nicht gewusst habe, denn sonst hätte ich mich ihr vielleicht anders genähert, wäre auf den Gedanken gekommen, ihr Angebot in Anspruch zu nehmen, was mich zwar kurzzeitig befriedigt, aber die Tür zu einer wirklichen Beziehung geschlossen hätte. Noch nie hatte sie sich auf eine Privatbeziehung zu einem Kunden eingelassen, und bei mir wäre sie bestimmt nicht von diesem Prinzip abgewichen. So aber saß ich vor ihr und war in einem Traum eingefangen, der sich ab diesem Augenblick entwickeln sollte, unmerklich zuerst, doch drängend, zwingend und beherrschend bis heute - auch nach dem Ende noch lange nicht vorbei.
Unser Gespräch bewegte sich nicht wirklich in Tiefen - es hakte bei einer aktuellen Meldung ein, die ich an diesem Morgen in den Nachrichten mitbekommen hatte, schweifte hier hin und dort hin, doch blieb in Gange, ohne je ein peinliches Aussetzen, ein verkrampftes Zögern zu produzieren. Ich dachte nicht: Mein Gott, was sage ich denn gerade, oder: Was sage ich jetzt als nächstes, oder: Gefalle ich ihr; ich dachte keinen kommentierenden Subtext, sondern lief beschwingt am Faden des Gesprächs entlang, unterstützt durch ihre Aufmerksamkeit und ihre graugrünschimmernden Augen.

**

Nach einigen Monaten, in denen er auf mein Kaufangebot mit keinem Wort einging, und ich ihn auch nicht daran erinnerte, wenn wir uns begegneten - was in dieser Zeit noch nicht so oft geschah - passte mich der Maler eines Nachmittags ab, als ich auf das Dach gestiegen war, um nach einem von herbeigewehten Laub verstopften Dacheinlauf zu schauen und in Ordnung zu bringen.
"Ich habe etwas für dich", sprach er mich etwas unvermittelt an.
Neugierig folgte ich ihm in sein Atelier, quetschte mich durch den Irrgarten der Regale, bis in den Bereich, in dem die Staffeleien standen, an denen er arbeitete.
"Hier", sagte er, nichts weiter, zeigte dabei stumm auf ein Bild, das dort zum Betrachten aufgebaut war.
Es hatte ein annähernd quadratisches Format, etwa 1,5 auf 1,5 Meter, und mir fiel zuerst seine bläulich-graue Farbstimmung auf. Die breitflächig aufgetragenen Pinselstriche legten rhythmische Spuren quer über die Leinwand, die sich in der Mitte zu konzentrieren schienen und dort in einer Kreisbewegung wirbelten. Allmählich sah ich auch in zusammenhängenden Farbfeldern und Rhythmusgruppen Figürliches angedeutet, ja, intensiver betrachtet, deutlich und prägnant ausgeführt. Am unteren Bildrand lag eine aus blauschwarzen, hellgrauen und gelb-bräunlichen Schwüngen zusammengesetzte Gestalt auf dem Rücken. Ein Gesicht, das zuerst nur als Negativausschnitt in einem schwarzen Farbfeld erschien und plötzlich, durch einen Umschwung in der Sicht, als Profil mit Nase, Mund, Stirn und Auge gelesen werden konnte. Und der Blick dieses Auges, durch einen hellgelben Pfeil angedeutet, richtete sich ins Zentrum, in den Wirbel, um den herum sich zwei Gestalten, zusammengesetzt aus wilden Pinselschwüngen, umeinander drehten, eine rötlich-graue und eine weißlich-graue, geschlängelte schemenhafte Figur, geflügelt, eingefasst von einer Farbspur, die einen beinahe geschlossenen Kreis markierte - von den Kugeln oder Knoten eines Netzes aus groben, braunen und blauen Strichen links, und von schwarz-blauen leiterähnlichen Strukturen rechts, eingerahmt. Oben verebbte der wilde Farbtanz in ruhigeren Wellen, ein grau-blauer Untergrund schien hier noch nicht übermalt, nur durch weiße, schwingende Linien sparsam akzentuiert. Über das ganze Bild zogen sich in horizontaler Reihung senkrechte Pinselstriche, Zeichen einer Unbekannten Schrift ähnlich, die bald mehr, bald weniger die Figuren im Hintergrund überkritzelten.
Ich schaute lange Zeit genauso schweigend wie mein Mitbetrachter das Gemälde an, sagte dann, die Stille unterbrechend: Ich müsste mich mehr damit beschäftigen, etwas ziehe mich an dem Bild an, ich wüsste aber noch nicht was.
"Du kannst es länger anschauen, regelmäßig, ich biete es dir zum Kauf an - Du hast nach einem Bild gefragt, dieses habe ich für dich gemalt..."
"Es heißt: Der Alchemist", erklärte er nach einer Pause, in der wir wieder in unser (diesmal, von meiner Seite, eher verlegenes) Schweigen zurückgefallen waren. Ich wusste nicht so recht, ob ich auf dieses Angebot eingehen, oder lieber auf das andere Bild bestehen sollte, das mir so gut gefallen und das ich spontan hatte kaufen wollen.
"Ob ich mir ein so großes Gemälde leisten kann", meinte ich schließlich, "weiß ich nicht, das andere, kleine, wäre daher vielleicht besser..."
"Es kostet dich dasselbe", sagte er. "Dieses Bild ist für dich. Willst du es?"
So kam ich zu meinem Bild. Dem Alchemisten.

**

Ich fand unsere Beziehung zu dritt nicht merkwürdig oder verquer. Sie war einfach das Austarieren eines emotionalen Gleichgewichts, wie es sich in den meisten Begegnungen gleich am Anfang einstellt, in welcher Weise auch immer. Nach einer Auslotungsphase, in der abgetastet wird, zu was sich eine Beziehung entwickeln könnte, findet man meistens rasch ein Agreement, an das man sich im Weiteren hält, auch wenn vielleicht einer der Beteiligten das Ganze lieber in eine andere Richtung wenden wollen würde. Unsere stillschweigend Übereinkunft schien zu sein, dass zwischen uns Sex tabu war - was sich in dieser Konstellation seltsam anhört.
Ellen und der Maler waren ein Paar nach allen Maßstäben, außer, dass sie nicht miteinander schliefen - d.h. Geschlechtsverkehr miteinander hatten, wie sie mir erklärte, zusammen in einem Bett schliefen sie manchmal schon, wie ich bald vermutete - und ich glaubte ihr dieses Detail. Warum es so war, blieb ihr gemeinsames Geheimnis. Warum es zwischen Ellen und mir so war wie es war, lag vielleicht an mir, bestimmt an ihr, jedenfalls gab es da kein Geheimnis. Ich machte ihr Vorschläge in diese Richtung (vielleicht, in meiner Konfusion, zu direkt, zu plump), sie überging sie schweigend, redete dann doch einmal mit mir darüber, als sie sah, dass es mich quälte. Sie hatte gemerkt, dass es durch ihr Ausweichen nicht besser wurde und dass Klarheit nur durch eine Aussprache zu erreichen war.
"Dir muss ich es leider direkt sagen, du verstehst mich sonst nicht - aber da bist du nicht allein. Ich möchte keinen Sex mit dir. Ich brauche ihn im Augenblick nicht - nicht im Privaten. Ich möchte deine Freundschaft, wenn das dann noch möglich ist. Wenn dir etwas an mir liegt, dann gehst du darauf ein. Wenn es dich überfordert, musst du deine Konsequenzen daraus ziehen. Versprich mir, mit mir nicht mehr darüber zu reden oder mich anders überzeugen zu wollen. Versprich es mir. Mir wäre deine Freundschaft wichtig, wäre das, was wir miteinander teilen könnten wichtig. Versprich's mir. Bitte."
Und wie hätte ich mich diesem "Bitte" verweigern können? Verschob aber, für mich, den endgültigen Verzicht auf meinen Wunsch in die Zukunft, vorläufig war mein unausgesprochenes Wort dafür. Danach sprachen wir nicht mehr darüber.

Unser merkwürdiges Leben (vermeiden kann ich dieses Adjektiv jetzt doch nicht) entwickelte sich auf seine Art. Ellen war für mich dabei der Mittelpunkt, die Zentralachse, die alles verband und um die sich unser System drehte. Ich war zwar Vermieter, aber in diesem Fall Besucher, entweder im Atelier des Malers oder in ihrer Wohnung, die sie behielt.
Sie war, wenn Zuhause, überwiegend dort anzutreffen, oft aber auch in den Räumen des Malers, der sich um sie sorgte, bekochte, für sie den Teekessel aufstellte, sie massierte, seine Badewanne für sie vollaufen ließ (in ihrer Wohnung gab es nur eine Dusche), in der sie sich, bis zum Hals mit heißem Wasser bedeckt, lange genussvoll aufwärmte, während er an seiner Staffelei stand oder sich mit seinen Farben beschäftigte, die er manchmal, nach alten Rezepten, aus Pigmenten und Eiweiß als Bindemittel selbst herstellte.
Ellen betrieb ihren Job, verreiste, oft für Wochen, kehrte zurück, probierte mit dem Maler asiatische oder afrikanische vegane Rezepte aus, nahm bei ihm Zeichenunterricht; mit mir ging sie spazieren, wir besuchten Galerien, ab und zu saßen wir in einer Sonderaufführung französischer oder anderer ausländischer Filme in Originalsprache. Sie las viel, studierte ihre Fernkurse in Spanisch, Französisch, Italienisch - Sprachen, die sich gegenseitig erklärten, wie sie meinte. Auch besorgte ich ihr Bücher, die wir uns vorlasen (genauer: sie nahm mir nach einiger Zeit das Buch aus der Hand und sagte, sie würde den Text besser verstehen, wenn sie selbst vorlesen würde, und ich ja auch..), wir sprachen darüber, erzählten uns von Beobachtungen, die wir gemacht, Begegnungen, die wir gehabt, Ereignisse, die wir in der Zeit nach unserem letzten Zusammensein erlebt hatten.

Unser Verhältnis hatte sich dadurch vertieft, dass sie in mir jemand fand, dem sie ihre manchmal merkwürdigen, manchmal burlesken, deprimierenden, vitalisierenden oder sonstig gearteten Erlebnisse erzählen konnte, die sie durch ihre Termine hatte. Seit der Guru verschwunden war, dem sie alles, was in ihr vorging anvertraut hatte, fehlte ihr jemand, der diese Funktion ausfüllte - der Maler war es nicht, er sorgte sich um sie, gab ihr den Halt, den sie brauchte, aber war doch im wesentlichen so mit sich und seiner Arbeit beschäftigt, dass er nur wenig von außen an sich heranließ.
Ich dagegen war ein dankbarer Abnehmer von Geschichten, die mich immer interessierten, vor allem lag mir aber daran, ihr das Gefühl zu geben, sie könnte bei mir alles Belastende abladen, das sich im Laufe des Tages oder der Tage (wenn wir uns einige Zeit nicht gesehen hatten) in ihr ansammelte. Aber es ging nicht nur um Last, ebensoviel ging es um Lust, um etwas Erfrischendes, Interessantes, Neues, das aus ihr heraussprudeln wollte, um ihr Erleben eben, ihre Erfahrungen, kreisend um das immergleiche Thema und seine Varianten.

Etwas, was sich dabei regelmäßig wiederholte, war eine stereotypische Reaktion der Männer, mit denen sie sich verabredete: Überraschung, jemanden zu finden, der so sehr ihrem Idealbild von Freundin und Geliebter entsprach, Vorsatz, diese Begegnung fortzusetzen, Wunsch nach intensiverer Beziehung und der Gedanke, dass es auch für sie ein schicksalhafter Augenblick gewesen sei, als sie sich das erstemal getroffen hatten...
Viele dieser Männer sahen sich als der Prinz, der die erniedrigte (oder gefangene, oder verzauberte) Prinzessin erlösen und in sein eigenes Leben retten konnte - sahen sich als Helferfigur in einem Märchen. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass das, was sie anboten, ein Leben an ihrer Seite, für sie eine Einengung bedeutet hätte, eine Reduzierung ihres Lebens auf nur eine Möglichkeit, nur eine Lebensspur. Und dass sie durch ihr Angebot, durch ihre Worte, Verachtung für das zeigten, was sie war und tat, obgleich sie das Gegenteil betonten.
"Du bist zu schade für diese Art Leben, ich kann dich da herausholen; wenn du den Job aufgibst, miete ich dir eine Wohnung, versorge ich dich..."
Die Reden wiederholten sich, wie die Erwartungen und Ansprüche an sie. Und jeder sah sich selbst und sein Angebot an sie als einzigartig. Es waren nicht immer so großzügige Anträge, viele wollten sie nur Ausführen, ihr einen Drink spendieren, ein Abendessen, eine Theater- oder Konzertaufführung. Und konnten nicht verstehen, wenn sie lächelnd ablehnte, nicht aus ihrem vermutlich tristen Alltag durch den good guy erlöst werden wollte. Vermuteten dann einen mafiösen Hintergrund der Ablehnung, einen Zwang, dem sie sich beugen musste, den als Frau, als Geliebte verstand sie doch unmittelbar und umfassend ihren Gegenüber, der sich ihr öffnete, wie es ihm selten zuvor bei anderen Frauen möglich gewesen war und der sich deshalb im Einklang fühlte: Weshalb sah er nicht, dass dieser Einklang gleichzeitig real und illusorisch war?
Real als Gegenwartserlebnis, illusorisch in Bezug auf die Folgerung, die er daraus zog - es gab in seiner Vorstellung kein kulturelles Konzept dafür, dass eine solche tiefe Empfindung und Liebesbeziehung nur für diesen bezahlten Augenblick bestand, in einer anderen Umarmung mit einem anderen Mann sich wiederholen konnte, ohne dass alles Täuschung oder leichtnehmende Oberflächlichkeit war...
Aber genau so war es. Auf diese Weise blieb sie ihr eigener Souverän. Sie gab sich, öffnete sich, nahm auf, nahm an, aber nur für die Zeit, in der sie mit jemanden auf der Basis einer finanziellen Vereinbarung zusammen war. Sonst entzog sie sich den Annäherungen der Vielen, die sie bedrängten, die sie für sich alleine haben, für sich selbst aufbewahren wollten.
Es war nichts Trügerisches, Arglistiges in ihr, sie versprach nichts, was sie nicht einhalten wollte, forderte nichts, was über das Vereinbarte hinausging. Köderte nicht und zog dann an der Angel, wenn sie jemanden eingefangen hatte. War sich aber der Situation bewusst und nahm ihre Schuld auf sich. Musste damit leben.

Es machte sie melancholisch, bei der Abreise am Flughafen allein zu sein oder bei der Ankunft nicht erwartet zu werden (dazwischen, während des Fluges, gab ihr das Alleinsein das Glücksgefühl, sich intensiv und ungestört auf eine Sache konzentrieren zu können: Durch das Ende des Fluges war die Zeit gesetzt, die sie für sich nutzen konnte - zum Lernen, zum Lesen, zum Nachdenken), deswegen begleitete ich sie öfters bis an die erste Kontrolle oder stand hinter der Barriere im Ankunftsbereich, sie zu begrüßen.
Dann erzählte sie mir sogleich von den Dingen, die ihr auf der Reise zugestoßen waren (ein running gag dabei war das Wort stoßen, von mir ironisch-anzüglich in einem etwas abgegriffenen Wortspiel benutzt), erzählte von ihren Begegnungen, den neuen Erfahrungen, die sie gemacht hatte. Es gab längere Reisen in die Karibik, nach Namibia, Süd-Afrika, Wochenendausflüge nach Madrid oder Barcelona, Einkaufstrips nach Paris, London, Mailand oder Dubai; Florida oder South Carolina waren Ziele, Wochenendhäuser in den Appalachen, Zweitwohnungen auf Cap Code oder Martha's Vineyard - überall war sie gerne, genoss die Ordnung, Wohnlichkeit, den Luxus, von überall kehrte sie gerne in die Unordnung, Behelfsmäßigkeit, dem Chaos ihrer Wohnung (oder der des Malers) zurück.
Sie brauchte den Luxus nicht, obwohl sie es angenehm fand, von ihm umgeben zu sein, wenn es sich so fügte; aber das war weder ihre Welt, noch ihr Wunschziel. Sie nahm es als bereichernde Erfahrung, im obersten Stockwerk, in der Präsidentensuite eines Hotelturms am Hafen von Barcelona den Sonnenuntergang beobachten zu können - das sich Zurückziehen des rötlichen Restlichtes in die westliche Dämmerung und das synchron damit Aufstrahlen der unzähligen Lichter der Stadt - und bedauerte gleichzeitig den Mann, der ihr dieses Erlebnis verschaffte, da er völlig blind dafür und gleichgültig gegenüber dem Naturschauspiel war
Bedauerte ihn und wusste dabei, was sie voneinander trennte und warum er nie von ihr bekommen würde, was er anscheinend von ihr wollte: sie selbst, nicht nur ihre zeitweilige Gegenwart. Bedauerte ihn ebenso sehr wegen seiner Blindheit auch auf dem Gebiet der Beziehung, der Seelenübereinstimmung, der Liebe
Warum sagte er, dass er mit ihr zusammenleben wollte, wenn er nicht einmal den Versuch unternahm, sie zu verstehen? Warum verwechselte er sexuelle Anziehung, den Sex, den er sich kaufen konnte (und dagegen hatte sie wirklich nichts) mit einem wirklichen Verbundensein, für das er die ungeeignete Person war: Zu dürftig sein Wesen, zu erstickend sein Anspruch, um sie auf solche Gedanken zu bringen - Warum nahm er es nicht wahr, akzeptierte seine Grenzen und genoss das, was er bekam?
Er tat ihr nicht wirklich leid, dazu war er zu selbstbezogen in seinen Wünschen und Vorstellungen, sie wollte nur gerne eine Möglichkeit finden, ihn von seiner Blindheit zu heilen, ihm zu einem Stückchen Selbsterkenntnis zu verhelfen, ohne die für sie günstige Geschäftsbeziehung (als die sie ihre Verbindung sah) zu verlieren. Aber das war nicht möglich.
Er zog es vor, blind zu sein und seine Illusion auszubauen. Dabei war er jemand, der sich für realistisch hielt, nicht für einen Tagträumer. So dachte er sehr pragmatisch, er müsse ihr zeigen und beweisen, wie Wert sie ihm war, in dem er ihr größere und kleinere Geschenke machte, großartige Versprechungen, großzügige Geldzuwendungen, bemerkte aber nicht, wie wenig er sie dadurch beeindruckte.
Weil er sie nie so sah, wie sie in Wirklichkeit war - weil er nicht hinschaute, nicht interessiert daran, sie in Wahrheit zu sehen. Nur an seinem eigenen Bild von ihr interessiert. Der Oberfläche. Der Schönheit, die er besitzen wollte.


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